Verlogene Wahrheit
© Kendra. M. Parker
Die Tür war nur angelehnt. Leise Stimmen drangen durch den Flur bis hinauf in ihr Zimmer.
Das Bedürfnis zu lauschen konkurrierte mit dem Verlangen die Tür zuzuknallen. Mit aller Wucht, als deutliches Zeichen ihnen gegenüber, sie an ihre Existenz zu erinnern.
Aber selbst wenn sie es sich getraut hätte, so hätten sie es vermutlich nicht einmal bemerkt.
Oder sie hätten es mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen, sich bestätigt gefühlt in ihrer Annahme, dass ihre Tochter schwer gestört ist und weg gesperrt gehört.
Auch ohne zu lauschen kannte sie den Inhalt des Gespräches. Die Sätze, voller Abscheu von ihrem Vater und voller Unverständnis ihrer Mutter, erschienen vor ihrem inneren Auge wie Untertitel in einem Film.
"Von mir hat sie das nicht. In unsere Familie gab es so etwas nicht."
"Bist du sicher, dass ich der Vater bin?"
"Ja, das bin ich, aber manchmal habe ich überlegt, ob sie nicht im Krankenhaus vertauscht worden ist."
"Das bringt uns nicht weiter. Wie kann sie sich bloß so aufführen. Als ob sie irgendwelche schwerwiegenden Probleme hätte. Sie hat doch alles. Viel mehr als andere Kinder in ihrem Alter."
"Es war so peinlich, als mich die Lehrerin angerufen und gefragt hat, ob wir uns schon einmal ihre Arme genauer angeguckt hätten. Ich habe erst gar nicht verstanden wovon sie redet."
"Unmöglich. Ich möchte nicht wissen, was die nun von uns denkt.
Wahrscheinlich, dass sie hier misshandelt oder vernachlässigt wird. Würde mich nicht wundern, wenn das Jugendamt hier auftaucht."
"Ich kann doch mit ihr nicht zum Arzt gehen! Was soll ich dem denn sagen? Der denkt doch sonst etwas. Die Lehrerin sagte etwas von einer Therapie, aber ich weiß ganz genau wie das dann abläuft. Die Schuld bekommen die Eltern."
"Sie bekommt Hausarrest. Wir nehmen ihr alle scharfen Gegenstände weg aus dem Zimmer und die Küche wird abgeschlossen."
Immer noch musste sie grinsen, wenn sie an diesen Vorschlag ihres Vaters dachte.
Sie blickte sich in ihrem Zimmer um. Auch ohne die Scheren, die Glasflaschen und Gläser fand sie auf Anhieb zehn Gegenstände, die sich für ihre Zwecke missbrauchen ließen.
Einen kleinen Moment fühlte sie sich gut, als sie sich ihrer Überlegenheit gegenüber dem Vater bewusst wurde. Zumindest in dieser einer Sache war sie ihm voraus.
Doch das Lächeln wich schnell dem gleichgültigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, ein Automatismus, der schon seit Jahren bestand.
Als ihr Vater ins Zimmer kam, wie üblich auf Zehenspitzen schleichend, saß sie auf ihrem Bett, den Kopf zum Fenster gerichtet, der Blick starrte ins Leere. Die rechte Hand strich kaum merklich über den linken Arm, in einer monotonen Bewegung. Wie ein Roboter, der falsch programmiert wurde und ein und dieselbe Handlung immer wiederholte.
Ihren Vater nahm sie erst wahr, als er sich vors Bett stellte, die Arme vor der Brust verschränkt, die Lippen zu einer dünnen Linie geformt, die Augen bedrohlich funkelnd.
Ob sie die Hausaufgaben gemacht hatte. - Hatte sie. Seit Stunden.
Ob sie gelernt hatte für kommende Arbeiten? - Nein, aber das brauchte er nicht zu wissen. Ein Lächeln sagt mehr als tausend Worte. Wer lächelt ist glücklich. Wer lächelt ist artig. Artige Kinder lernen für die Schule.
Warum sie auf dem Bett sitzt und nichts macht? - Sie macht doch etwas; nachdenken. Aber nachdenken ist gefährlich. Wer zu viel denkt, kommt irgendwann auf dumme Ideen. Oder er erfindet Lügen. Sie lächelt statt zu antworten.
Ob sie denn nichts vorhatte? - Doch, aber erst wenn er weg war. Was interessierte es ihn auf einmal? Aber sie lächelte nur.
Ob sie die Lüge über ihren Onkel zurücknehmen würde? - Es war keine Lüge, aber dass Lügen manchmal besser akzeptiert werden als die Wahrheit, hat sie schon lange begriffen. Sie lächelt und dann lügt sie: Sie nickt.
Eingereicht am 09. Juni 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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