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Klein, wie ich war

© Karin Reddemann


Ich empfand immer ein stilles Vergnügen, wenn ich an Großmutter Edeltrauds Hand über den kleinen katholischen Friedhof spazierte, ganz in der Nähe unseres Hauses, das mein Großvater Anfang der 60er Jahre dort errichten ließ, wo seine Eltern bereits um die Jahrhundertwende gebaut hatten. Auf diesem Friedhof traf ich Jahre später Katharina Gollfried, die an diesem schwülen Sommerabend meine Hand zwischen ihre Beine wandern ließ, ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne zu sprechen. Ohne mich zu kennen.

Meine Großmutter wurde meist von ihrer Freundin Theresa Meyerhoff begleitet, die früh Witwe geworden war und meinen Großvater hasste. Er war ihr wohl zu wenig bourgois, ein Wort, das ich erst sehr viel später zu deuten verstand. Mein Opa Hans, Hannes, wie ihn alle nannten, die ihn mochten, war ein Mann, der sich um all die lästigen Konventionen nicht scherte, die meiner kleinen feinen Großmutter wichtig waren. Theresa Meyerhoff, eine sehr dicke, beringte Frau von beeindruckender Körpergröße, hielt sich für noch sehr viel feiner. Sie trug pinkfarbenen Lippenstift, der an den Mokkatassen eklige Spuren hinterließ, und sie roch streng nach einem sonderlichen Gemisch aus viel Achselschweiß und noch mehr Rosenwasser. Mir wurde ganz schlecht, wenn sie sich zu mir hinunterbeugte, um mir eine ihrer geschälten Birnen zu geben, die sie stets als Wegzehrung mit auf den Friedhof nahm, säuberlich geschichtet in einer kackbraunen Plastikdose, die sie in ihrer riesigen schwarzen Handtasche neben bestickten Taschentüchern deponiert hatte, mit denen ich mir die Nase putzen musste. Die Taschentücher rochen nach Theresa Meyerhoff, und ich lernte, den Atem anzuhalten, während ich schnäuzte. Gar nicht so einfach, aber ich begriff schnell, wie man überleben kann.

Tapfer hielt ich Schritt mit den beiden alten Frauen, die mir so grauenvoll alt erschienen, obwohl sie erst knapp über fünfzig waren, fühlte mich unmännlich in meiner kurzen weißen Baumwollhose und den roten Mädchensandalen, die zuvor meiner Schwester Babette gehört hatten, trottete einher mit hängenden Schultern und schwitzenden Handflächen, wähnte mich nicht am richtigen Ort und wartete doch nur auf Isabella, die steinerne Figur, die auf dem Grab von Herta und Josef Kerkeling stand. Kannte die Leute natürlich nicht, liebte aber die hervorstehenden Brüste der madonnenhaften Skulptur, die ich Isabella genannt hatte nach einer halbnackten Bäuerin mit langen blonden Zöpfen und rosigen Wangen aus einem meiner Kinderbücher. Die brave blonde Bäuerin verfütterte singend gezuckerte Erdbeeren an die neugeborenen Schweine, das weiß ich noch, streckte dabei ihre Brüste vor, die der Illustrator dick und kugelrund gezeichnet hatte, vermutlich mit dem boshaften Vergnügen im Visier, sechsjährige Jungen um ihren unschuldigen Verstand zu bringen. Irgendwie denke ich heute, große Güte, was haben die mir zu lesen gegeben. Mit den Sprechblasen hatte ich damals noch Schwierigkeiten, aber die Bilder der pumperlgesunden Bäuerin in ihrer halb aufgeknöpften gelben Bluse mit den nackten Waden unter dem über den Knien geknoteten Rock beschäftigten meinen Kopf mehr, als ich es für anständig befand. Nachts in meinem Bett stellte ich mir angestrengt vor, mit blankem Hintern in einem Brennesselfeld zu sitzen, damit versuchte ich, mich abzulenken, aber die Unruhe in meiner Pyjamahose blieb. Steigerte sich noch, obgleich die Brennesselstiche juckten. Wohlige Schmerzen, undefiniert von mir, aber zu präsent, um sie ignorieren zu können. Ich rieb an mir, unbeobachtet und doch so verschämt, als würden meine Mutter und Oma Edeltraud einträchtig bei mir auf der Bettkante hocken und mich anstarren. Anklagend. Erschüttert. Unter meiner Decke glühte ich vor Scham, aber die Waden der Bäuerin ließen mich nicht los, und während ihre fleischigen Brüste aus der Bluse hüpften, zweifellos ungewollt, aber so aufreizend wogend in meinen Gedanken, krabbelte ich unter ihren bauschigen Rock und suchte. Noch wusste ich nicht genau, was ich dort erfahren, ertasten, schmecken wollte, aber ich wusste, dort an einem guten Patz zu sein.

Vor der Isabelle auf Kerkelings Grab, meiner zweiten Frau, hatte ich deutlich mehr Respekt. Erst, als ich erwachsen war, traute ich mich, ihre heiligen Brüste zu berühren, ehrfurchtsvoll immer noch, aber zweifellos auf recht profane Art erregt. Ich ließ meine Hände über ihren schlanken kalten Leib wandern, erst forsch, dann langsamer, verhaltener werdend, zitternd fast, obgleich ich allein war und niemand mit mir spielte. Unzählige Frauen sollten mein Leben teilen, einige waren es schon gewesen, die mich getrunken hatten, deren Saft ich geleckt, deren Wimpern ich mit meiner Zunge gestreichelt hatte, Frauen, die mir ihre warmen lebendigen Brüste mit den fleischigen starken roten Knospen entgegengestreckt haben, um sich selbst so intensiv spüren zu können, wie sie es allein nicht vermochten. Um mich zu spüren, mein erhitztes Gesicht zwischen ihnen, ihren nassen Schenkeln, auf ihren Nabeln, in denen sich unsere Schweißtropfen sammelten. Um mich eintauchen zu lassen in ihr heißes Wasser, das mich umspülte, während ich mich galoppieren ließ wie ein junges Pferd auf satter Wiese.

Aber niemals wieder habe ich Vollkommeneres erforschen dürfen als diese Frau auf Kerkelings Grab. Der Künstler hatte saubere Arbeit geleistet, die Warzen naturgetreu nachgebildet, feste dicke Knoten, die anzufassen mir in die Hose ging und sich festbiss. Ich streichelte ihren Schoß unter dem straffen glatten Bauch, perfekt umhüllt von seidigem Stoff, den ich mir einbildete. Ihr Kleid war eine zweite Haut, ich enthüllte sie niemals, selbst in meinen kühnsten Träumen nicht, denn sie bot alles, was möglich war.

Zweifellos pervers. Dieser Mann hatte eine Grabfigur aus Stein gehauen, die vermutlich unfreiwillig lüstern war, die ungeniert und so herrlich kühn verdorben aufzufordern schien, diese phantastischen Titten anzufassen, sie zärtlich mit den Fingerkuppen zu umspielen, sie mit den Lippen zu umschließen, dabei mit den Händen ihre Taille zu umfassen, sie fest zu drücken, den Unterleib an ihren gepresst, stöhnend, zuckend, tanzend fast.

Genug. Sie trug einen Marienschleier, die Lider waren geschlossen, ihre Hände waren gefaltet, ihr Kleid hochgeschlossen und bodenlang, enthüllte aber jede Kontur, die auch ohne Phantasie Lippen feucht werden lässt, Hosen enger macht, kühle Gedanken nicht zulässt. Mag sein, nur ich sehe es so, wie es ist. Mag auch sein, dass mein Großvater nicht ganz unschuldig daran ist. Vermutlich aus purer Lust daran, zu zeigen, was er konnte, nahm er mich mit in sein kleines Atelier unter dem Dach, ließ mich blättern in Magazinen, die meiner Großmutter nicht gefallen hätten, ließ mich zuschauen, wie er blinzelnde Frauen mit Blumen im Haar malte, die ihren nackten Busen für ihn hin hielten. Freilich hielt er mich raus, wenn er sich junge Mädchen holte. Das wusste ich nicht. Meine Mutter hat es mir erzählt, als wir das alte Atelier zum dritten Mal nach Großvaters Tod an den dritten BWL-Studenten vermieteten. Natürlich war es kein Atelier mehr. Es war eine kleine Übergangswohnung, die ich nie wieder betreten habe nach Großvaters Hirntumor, der ihn schnell und schmerzvoll beseitigt hatte. In der winzigen Abstellkammer unter dem Trockenboden waren noch Zeichenmappen und ausgetrocknete Ölfarben in alten Joghurtbechern, steinharte Pinsel und zerbrochene Leisten, aus denen wohl irgendwann mal Bilderrahmen hätten gemacht werden können. Mein Großvater war sehr geschickt darin gewesen. Meine Mutter, die damals heimlich für Opa Hannes Wacholderschnaps kaufte, weil sie wusste, dass meine Großmutter es ihm niemals freiwillig gegönnt hätte, wurde ziemlich sentimental, als wir die Kammer räumten. Dieser dritte Student hatte sie meinen Eltern abgeschwatzt für den unwichtigen Kram, der nicht in die Wohnung passte, und weil er ein paar Mark mehr zu zahlen bereit war, wurde zugestimmt. Jetzt wussten wir nicht so recht, wohin mit Großvaters Liebe. Denn die steckte in jedem befleckten Borstenpinsel, in jedem krummen Nagel, der jämmerlich an eine der Leisten hin. Und auf jedem Blatt Papier, das er mit Skizzen versehen hatte, vorwiegend Brüste, gekritzeltes Schamhaar zwischen gespreizten Beinen, auch mal ein weit geöffneter Mund, gierig darauf, gefüttert zu werden. Ich sah betreten zu Boden, wusste nicht, wohin mit meine Blicken, obgleich ich bereits so viel erfahren hatte, so nüchtern war, so abgebrüht. Und doch jetzt so betroffen. Meine Mutter atmete schwer, fuhr fahrig mit ihren Fingern zwischen die einzelnen Blätter, ließ Zärtlichkeit ahnen, sah mir plötzlich direkt in die Augen, fest, stark. "Manchmal hat er Mädchen hier oben gehabt. Junge Dinger. Hat er Dich jemals dabei gehabt?" Ich schüttelte den Kopf. "Und Babette?" Ich wurde unruhig. Was sollte die Frage? "Nein, Babette niemals. Babette hat sich nicht für die Bilder interessiert." Sie nickte. Lächelte. Befreit, wie mir schien. "Natürlich. Stimmt. Das warst immer nur Du." Ich nickte auch, fühlte mich unbehaglich dabei, ärgerte mich darüber. Ich war Mitte Zwanzig, verflucht, ein Mann, der bereits alles gesehen hatte. Dachte ich. Stand jetzt hier vor meiner Mutter wie ein verklemmter Teenager, wollte nichts mehr hören und wollte es doch. "Was für Mädchen denn?" Großer Gott, was hatte der alte Bock sich dabei gedacht. Mir wurde lausig kalt. Das war einfach nur grauenhaft. Meine Mutter zögerte, legte die Mappe beiseite, fuhr sich mit den Fingern durch die rotgefärbten kurzen Locken, was sie immer tat, wenn sie grundsätzlich ein Gespräch beenden wollte, überlegte es sich dann wohl anders, grinste mich schief an. "Mädchen ist wohl übertrieben. Junge Frauen waren das, so alt wie Du jetzt vielleicht. Vielleicht etwas jünger. Keine Ahnung, wo er die hergehabt hat. Wollte ich auch nie wissen. War immer nur in Sorge, dass Mutter nichts davon erfährt. Du weißt ja, wie sie war." Ich sah sie an, war augenblicklich glücklich. Also hatte er nicht. Grinste auch schief, klemmte mir Großvaters Mappe unter den Arm und zwinkerte meiner wundervollen Mutter ein Auge zu. "Der alte Schlawiner." Kurze Pause. Dann, dreister geworden. "Hat er mit denen?" Sie errötete. Ihre Generation. Lockerer, enthemmter geworden durch ihre Kinder, trotzdem streng darauf bedacht, nicht schmutzig zu werden. "Also weißt Du." Wieder die Finger im Haar. Die linke Augenbraue hochgezogen. Missbilligend, wie ich es kannte und hinnahm, weil es zu ihr gehörte wie diese ganz besondere Eigenart, die Nasenflügel beben zu lassen. Habe mich immer gefragt, wie sie das macht, wer ihr das beigebracht hat. Ließ sie beben und wartete. "Kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Bei allem Respekt." Das hat mich umgehauen. Sie sagte Respekt. Beeindruckende Antwort. Ich ließ es so stehen, wusste nichts Gescheites darauf zu erwidern. Sah meinen Großvater vor mir, wie er stolz und wichtig an seiner Staffelei steht und die beiden Freundinnen Eva Wessels und Magda Thomann bittet, ihre Blusen auszuziehen, die Büstenhalter aufzuhaken und ihre Brustwarzen zu befeuchten, sich auf die hohen Holzstühle zu setzen, die Beine zu spreizen und den Slip zur Seite zu ziehen. Um sie auf seine anrührend dilettantische und für mich doch so einmalige Art zeichnen zu können. Ich sah ihn vor mir mit seinem Kohlestift an der Staffelei vor dem weißen Leinenpapier, viel zu teuer für bloße Skizzen, und doch war es das alles wert. Ich sah ihn wichtig und erregt, und ich denke, das allein hat ihm genügt. Ich war noch so klein, und ich habe ihn geliebt. Ich will so denken, und mehr ist nicht hinzuzufügen.


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