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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Disco, Disco

© Frank Moné


Wir waren zu Besuch bei Sarah. Meine Frau Stefanie und Sarah hatten sich jetzt fast eine Woche nicht gesehen und da gab es natürlich unendlich viel Neues zu berichten. Die täglichen, stundenlangen Telefonate, auf die ich kleinlaut hinwies, ersetzen auf gar keinen Fall die persönlichen Gespräche, so beschied man mich. Unruhig rutschte ich also weiter auf dem Sessel herum und machte mir bereits Gedanken über den Bezug, den ich bestimmt schon durch gescheuert hatte. Der Minutenzeiger von Sarahs großer Wohnzimmeruhr schickte sich an, senkrecht nach oben, den Stundenzeiger in Deckung zu nehmen, als Sarah mit einem kleinen Schrei aufsprang und meinte: "Großer Gott, schon so spät. Ich muss Klein Sarah von der Disco abholen. Ich habe es ihr versprochen". Etwas irritiert schaute ich Sarah an. Denn *Klein Sarah* war nicht vier oder fünf Jahre alt, wie man ja aufgrund dieser Aussage durchaus annehmen könnte, sondern siebzehn und schon eine recht ansehnliche junge Frau. Geistesgegenwärtig nutzte ich die Situation um meiner langen Weile zu entfliehen: "Sarah, wie wäre es, wenn ich Klein Sarah abhole und ihr beide könnt euch noch in aller Ruhe weiter unterhalten?" "Oh, fein, danke", meinte Groß-Sarah, "ich schicke ihr eine SMS, damit sie Bescheid weiß". So entfleuchte ich erleichtert.
Zur Disco ging es eine breite Treppe hinunter und ich stellte überrascht fest, dass die Sicherheitsmaßnahmen ähnlich denen auf dem Frankfurter Flughafen waren. Man und frau (nein, keine Schreibfehler, ich bin ein moderner Zeitgenosse) mussten an einem riesigen Muskeltypen vorbei, der jeden mit starrem Blick finster musterte, als wären Discobesucher immer auch potentielle Mörder. Als ich an der Reihe war, mich seinem prüfenden Blick zu unterziehen, zeigte er eine überraschte Miene. Ja, ja, dachte ich, ich bin über vierzig, aber ich will ja auch nur jemanden abholen. Er zog verächtlich die rechte Augenbraue hoch und beachtete mich nicht weiter, was ich als Genehmigung zum Passieren wertete. Durch eine hohe, schmale und schwere Eichentür ging es dann in den Vorraum, wo jeder mehr oder weniger genötigt wurde, irgendetwas an der Garderobe abzugeben. Für satte zwei Euro. So sicher war meine alte Jeansjacke noch nie verwahrt worden. Bevor es dann endgültig in den modernen Beatschuppen ging, folgte in der Tat noch eine Art Leibesvisitation. Der Chef persönlich, ein älterer Spitzbart und einem ebensolchen Bauch, der ihn schwanger aussehen ließ, nahm sich dieser verantwortungsvollen Aufgabe an. Besonders die Mädchen wurden sorgfältig überprüft. Ich hätte nicht gedacht, dass die jungen Dinger derart gefährlich sein könnten. Nach einer kurzen Musterung winkte er mich einfach durch. Ohne Prüfung meiner Gefährlichkeit. Blöder Heini.
Ich war zum letzten Mal mit 32 Jahren in einer Diskothek. Damals war es schon laut, aber was mich hier an Schallpegel empfing, erinnerte mich an die Bombardierung der Elbufer, von denen meine Großmutter immer auf so dramatische Weise berichtet hatte. Vor allem der Bass zwang meinen Herzmuskel sich seinem Rhythmus anzupassen. Nach nicht ganz fünf Minuten Akklimatisation wagte ich mich weiter hinein. Erst mal an die Bar und sich einen Überblick verschaffen. Vielleicht konnte ich ja Klein-Sarah schon von da aus erspähen. Ich suchte mir also einen freien Barhocker und ließ meinen Blick schweifen. Rechts neben mir drängten sich vier völlig überschminkte weibliche Teenies und nahmen mich in scheinbar in Augenschein. Zuerst fühlte ich mich etwas geschmeichelt, dann fiel mir eine Geschichte ein, die mir Thomas erzählt hatte. Auch er, sechsunddreißig Jahre jung, holte seine Tochter von der Disco ab, auch er stellte sich erst mal an die Bar und wurde von drei sechzehnjährigen Damen angelächelt. Dann kam sogar eine von ihnen näher und auch er fühlte sich geschmeichelt. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt bis die Göre ihn fragte, ob er wohl zum Sterben hergekommen sei. Als nun eine der Überschminkten mich direkt ansah und den Mund zum Sprechen öffnete, floh ich panisch davon. Das unaussprechliche Entsetzen in meinem Gesicht ließ die Unmengen von Tanzenden, hektisch eine Gasse bilden, durch die ich auf die andere Seite des riesigen Raumes hetzte. Völlig außer Atem kam ich an einer der überdimensionalen Bassboxen an. Schritt für Schritt kämpfte ich gegen die harten tiefen Schallwellen an, die durchaus auch in einem Krieg den Feind in die Flucht geschlagen hätten. Erleichtert kam ich zur Ruhe, nur um entgeistert auf einen jungen Mann zu starren, der im Rhythmus der Musik seinen Kopf gegen die Bespannung der Box hämmerte. Ich rief einen jungen Mann zu Hilfe, der mich aber beruhigte. Janno, der Typ mit der mittlerweile sicher schon stark lädierten Birne, sei ein stadtbekannter Headbanger, ein richtiger Künstler auf seinem Gebiet. Aha, Kunst war das. Na ja, dann. Meine seelische Rekonvaleszenz war erstaunlich kurz und ich suchte weiter nach Klein-Sarah. Bis ich sie endlich sah ... und mir die Luft wegblieb. Der Name Ultrakurzes-Röckchen-und-tiefer-geht-der-Ausschnitt-nimmer-Sarah wäre treffender gewesen. Wie konnte Groß-Sarah Klein-Sarah nur erlauben, derart ... nun, was soll's, das war nicht mein Bier. Nach zwei Minuten hektischen Winkens wurde sie meiner endlich gewahr und nach ihrer Befreiung aus dem Serail machten wir uns auf den Weg zum Ausgang. Trotz der fortgeschrittenen Stunde strömten immer mehr Schminkkästchen und Pickelnasen in das Dröhnhaus und ich musste Ultrakurzes- Röckchen-und... na sie wissen schon, an die Hand nehmen, damit sie nicht wieder hinein gespült wurde. Hand in Hand, marschierten wir, ich mit einem überheblichen Lächeln auf den vierzigjährigen Gesichtszügen, an dem sicherheitsfanatischen Chef vorbei, der daraufhin aus Versehen einen männlichen Besucher an den Po fasste und vorbei an Muskel-Jonny, dessen Blick nun auch leicht glasig wurde. Meinen starren, leicht glasigen Blick ausschließlich nach vorn gerichtet fuhr ich Klein-Sarah nach Hause.



Eingereicht am 09. Mai 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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