Konnte meinen Blick nicht von ihr losreißen. Wie sie da lag, wunderschön in meinen unerfahrenen Augen, wie sie uns reizte. Wie sie mir ganz allein gefiel. Ich beschloss, sie zu heiraten. Meine Tante Edith war abgehakt, ihre dicken Brüste und ihr Lachen interessierten mich nicht mehr. Alles, was zählte, war Sabine Chrostek.
Ich war zehn und durfte mit. Mit in Christian Brockmanns Scheune, wo die Jungs sich trafen, um es zu treiben. Rauchen und anfassen. Das war das Leben. Mein Bruder Johannes kannte es bereits. Gut älter als ich. Und verdammt erwachsen. Ich hatte Respekt vor den Männern. Waren allesamt so um die vierzehn und rasierten sich. So nüchtern rückblickend war das nichts im Gesicht, was weg gemusst hätte. Aber sie zeigten mir ihre Schnittwunden und fassten sich in den Schritt, um zurechtzubiegen, was seinen Platz suchte, und das war's doch. Ihre Pickel hätte ich nicht gewollt, aber zu mir kamen die auch. Später. Gehörte dazu, wusste ich noch nicht, wie das Bier, das getrunken und nicht vertragen wird. Geschenkt. Muss man durch.
In Brockmanns Scheune war Sabine Chrostek eine Göttin. Tatsächlich hat sie nach der Mettwurst ihres Vaters gerochen, der Metzger war, und vermutlich hat sie später irgendwann irgendeinen gemütlichen Fleischermeister geheiratet, um den Laden weiter zu führen. Wahrscheinlich ist sie fett geworden und hat drei Kinder gekriegt, die sie noch fetter gemacht haben, war damals schon dicklich, mit dreizehn. Aber ich war zehn und suchte Eva. Und sie war da.
Es war lausig kalt, ich trug den roten Lodenmantel von Oma Ost Mia, und ich hatte die Wollhandschuhe an, die kratzten und zu groß und so herrlich warm waren. Ich durfte hinfassen, dafür wollte sie fünfzig Pfennig. Die Handschuhe zog ich nicht aus, das traute ich mich nicht. Dahin zu packen und irgendwas zu fühlen, zu ertasten, das wäre mir peinlich gewesen. Ich kniff die Augen zusammen und doch nicht so ganz, weil die Jungs "Jetzt mach schon" gröhlten. Johannes packte mich kräftig im Nacken, er hatte eine Zigarette irgendwo im Mundwinkel kleben, die da nicht hinzugehören schien, aber er war der Stärkste, und ich war stolz, solch einen Bruder zu haben. Wollte ihn nicht enttäuschen, hab meine Hand dort hin geführt, wäre gern umgefallen, ohnmächtig, das rettet manches, aber ich stand dort stocksteif und fummelte. Spulte in meinem Kopf Tante Ediths Lachen ab, schob mich zwischen ihre warmen Brüste, schloss dann doch die Augen, endgültig, wühlte mit meiner Hand, die gottlob in Wolle steckte, ungeschickt an etwas herum, das ich nicht kannte. Und war doch befreit. Endlich. Rauchte meine erste Zigarette, hustete schwer. War geschafft. Johannes grinste. Ich beschloss, meine erste Frau zu heiraten. Sabine Chrostek hatte sich wieder angezogen, ihre weißen weichen Rollen waren verpackt. Sie rauchte auch und lachte und zeigte schlechte Zähne. Ich liebte sie nicht lange. Ich wurde erwachsen.
Warum wünscht sich ein Mädchen in einer Leichenhalle zu liegen und aufzuwachen in einem weißen Nachthemd aus Spitze, das dem Totenhemd ihrer Tante ähnelt? Wer ist der Tote Mann auf dem Bett, in dessen Hals ein Schraubenzieher steckt? Wem gehört der Ring, der im Garten unter einer Zeder vergraben wurde? Kann ein harmloser Teddybär zum Mörder werden? Warum kann es verhängnisvoll sein, ein Einmachglas fallen zu lassen oder als Kind an seinem Zeh zu lutschen? Wer waren die Personen, die auf dem alten Gemälde ohne
Augen dargstellt sind und was ist ihr Geheimnis? …
Karin Reddemanns Geschichten erwecken alltägliche Ängste und düstere Bilder und entführen den Leser in eine verstörte und verstörende Welt.