Biggi Klosterkamp, Albis erste richtige Freundin, stand vor Siegfried Suerbaums großartigem Autoscooter und trippelte mit ihren Füßen auf der Stelle. Ungeduldig. Es war lausig kalt, und die pinkfarbenen Lackstiefelchen, so schmuck sie auch aussahen, waren gelinde gesagt was für den Arsch. Dachte Biggi in ihrer direkten Art. Sie war eine wunderbar ehrliche Haut, meist pleite, egal, aber die dünnen, billig gemachten Plastikschuhe hätten ein derbes Loch in ihr Portemonnaie gebrannt. Erfreulicherweise gab es ihren Albi. Albert Kiefernagel war seit gut drei Wochen Biggis neuer Freund, und er hatte ihr diese großartigen pinkfarbenen Stiefel gekauft. Einfach nur so. Erstaunlich einfach. "Willst Du die Dinger? Okay, gebongt." Damit hatte er sie mächtig beeindruckt.
Sie liebt ihn. Doch, zweifellos. Sie ist vierzehn, sieht gern deutlich älter aus und ist schwer verliebt. Momentan allerdings nicht so sehr. Sie friert, ihre Zehen sind ganz taub, und innerlich verflucht sie das kurze violette Seidenjäckchen, das sie trägt, obwohl es ihr wirklich wahnsinnig gut steht. Sie ist abgenervt, sie will hier weg. Die Musik, die aus den Boxen dröhnt, ödet sie auch an. Kinderkram, Disco-Shit für Rotznasen. Albi scheint das alles nicht zu interessieren. Er unterhält sich mit Siggi Suerbaum, der seinen fetten Bauch wie eine Trophäe umklammert, während er spricht. Sie lachen. Siggi zeigt unappetitliche Löcher im Gebiss. Albis Zähne sind gelb. Eigentlich widerlich.
Albi winkt Biggi zu und deutet mit der linken Hand, mit der er gleichzeitig sein leeres Tabakpäckchen zerknüllt, auf den schäbigen Wohnwagen hinter der mit grellbunten Farbe bemalten Plane. "Bin gleich wieder da." "Hey Mann, was soll das?" Sie fühlt sich verarscht. Wieso haut der blöde Wichser einfach ab? Albi dreht sich noch einmal kurz um, grinst schief, antwortet aber nicht, geht dann hastig weiter, hinter dem fetten schmierigen Autoscooter-Besitzer her, der für fünf Tage eine Aushilfe braucht. Und Albi braucht Geld.
Biggi sieht das irgendwie schon ein. Aber andererseits auch wieder überhaupt nicht. Wieso ist der plötzlich so scharf auf einen Job? Auf so einen beschissenen Job? Drei Wochen lang hat er Geld gehabt, Wieso jetzt nicht mehr? So war das nicht abgemacht, hat den dicken Dallas wohl nur gespielt. Immer das gleiche Theater, geht's nicht mal anders?! Biggi denkt an Cordula Puwinski. Blödes Tittenluder. Geht mit ihr in eine Klasse. Die hat's drauf. Deren Typ fährt Cabrio, die kriegt alles von dem. Ist aber ein wirklich ekliger Kerl. Sieht aus wie Karlsson vom Dach. Der aus der Verfilmung. Astrid Lindgren. Was für ein selten hässlicher fieser Vogel. Biggi grinst innerlich. Dann erinnert sie sich wieder, dass sie hier frierend herumsteht und grundsätzlich sauer ist.
So hat sie sich das nicht vorgestellt. Der Typ hat also allen Ernstes vor, hier fünf Tage lang die Pappnase zu spielen. Und sie, Biggi, guckt in die Röhre. Jeden verfluchten Tag wollte er mit ihr auf die Wellpirschner Kirmes, das hatte er ihr versprochen, jeden Tag gucken und rumstehen und abhängen, die Clique treffen und Bier trinken und rummachen. Was man halt so treibt. Das ganze Programm. Und jetzt will der hier ernsthaft arbeiten. Versaut ihr alles. Fünf volle Tage. Und sie? So lange sind sie ja auch noch nicht zusammen, der soll bloß aufpassen, sie kann auch anders. Spießer. Sackgesicht. Und dann auch noch Autoscooter. Kennt man doch, die Typen. Baggern wie bescheuert.
Irgendwie weiß sie, dass er gar nicht daran denkt, umzukehren und über seinen verflucht blöden Witz zu lachen. Arbeiten? Jetzt? Hier? Ich doch nicht. Er wird nicht grinsen und sagen: "Du müsstest Dein dämliches Gesicht mal sehen. Dachtest Du echt, ich geh' da rein? Bin ich denn bekloppt oder was?" Das wird er nicht, das weiß sie. Da hängt dieses verdammte Schild, Aushilfe bis zum 17. wegen Krankheitsfall gesucht, das wäre doch was für Dich, das hat sie ihm noch gesagt, war doch nicht ernst gemeint, so was, das hat sie ihm dann auch noch gesagt, mehrmals, und er, er geht hinein. Und dann?
Biggi ist ein recht hübsches Mädchen, nicht grad interessant, aber sehr hübsch mit ihrem frechen Kurzhaarschnitt und der dünnen lila Jacke. Sie steckt sich eine Zigarette an und sieht seinem grünen Blouson hinterher. Der Wind bläst die dünne Jacke am Rücken etwas auf, das sieht unfreiwillig komisch aus. Er geht etwas krumm, als würde der Ballon seinen Oberkörper nach vorn drücken wie ein Buckel. Er geht eigentlich immer krumm, das ist eine Unart lang geratener Menschen, die immer lieber etwas kleiner und unauffälliger wären.
Das hat sie mal irgendwo gelesen, dass es diese Großgewachsenen gibt, die nur sehr ungern so groß sind, weil sie automatisch auffallen und sich nicht verstecken können, obwohl sie es gern tun würden. Sie wären am liebsten unsichtbar, zumindest unsichtbarer, denn wer befindet sich schon gern im Mittelpunkt des Interesses, wenn er fortwährend über seinen eigenen schlaksigen Körper stolpert und auf die viel zu lange, viel zu verpickelte Nase fällt. Komisch, aber in diesem Moment denkt sie nur, verdammt, warum geht er nicht aufrecht, Männer müssen aufrecht gehen, Männer sind stolz und stark, Gott, das hatte sie halt so im Kopf.
In ihrer Familie sind alle ziemlich klein, auch ihr Vater. Ihre Mutter hat ihr mal vor einigen Jahren gesagt, sie habe als junges Mädchen immer davon geträumt, einen großen klugen gut aussehenden Mann zu heiraten, der ihr auch was bieten kann. Stattdessen habe sie diesen dicklichen verblödeten Zwerg abbekommen, einen rülpsenden Versager, der nur im Suff zu ertragen ist. Albi säuft nicht, zumindest nicht so, dass es widerlich wird. Blöd ist er auch nicht. Er ist sogar recht schlau. Biggi kann das beurteilen, sie kennt genug Arschlöcher mit großer Schnauze und nichts da oben drin. Er weiß verdammt viel über Politik, das imponiert ihr, weil sie keine Ahnung davon hat. Also muss das stimmen, was er sagt. Sie hört ihm zu und nickt, aber eigentlich langweilt er sie doch damit.
Er mag keine Ausländer. Das ist ein Thema, da wird er richtig aggressiv. So kennt sie ihn sonst gar nicht. Er drückt sich da ziemlich beschissen aus, sie ist ja einiges gewohnt, aber manchmal wird selbst ihr das zuviel. Sie hält sich da lieber raus, ihr Vater redet schließlich genauso. Das ist nicht ihre Angelegenheit. Sie ist schon mit Ausländern gegangen, was soll der ganze Scheiß, sie will ja keinen heiraten. So einen wie Tom Wessels hatte sie auch nicht für immer gewollt, nur solange, bis ein anderer kommt. Obwohl der ihr schon mächtig imponiert hatte. Doppelt so alt wie sie, fast sechsundzwanzig. Er hatte sie immer in seinem Auto mitgenommen, ein schwerer kackbrauner Wagen, den Fahrzeugtyp kannte sie nicht, aber das war ihr auch egal, Hauptsache, die Eltern kriegten das nicht mit. Mit dem hatte sie richtigen Sex gemacht, also die ganze Chose, auch mit dem Mund, aber das gefiel dem Tom nicht, wie sie das machte, trotzdem sie sich wirklich Mühe gegeben hatte. Der schmeckte auch ziemlich übel, sie kannte sich da ja noch nicht so aus, aber da war dieser muffige modrige Geschmack, eigentlich überhaupt nicht richtig definierbar, und sie musste ständig würgen und hatte auch keine große Lust dazu. Er schubste ihren Kopf dann einfach zur Seite, das war in seinem blöden braunen Auto, aber immerhin, er hatte eins. "Stellst Dich mächtig dämlich an, Mädchen." Das hatte er zu ihr gesagt, und sie fühlte sich dann auch ziemlich eingeschüchtert und irgendwie auch gekränkt. Er lud sie danach zu einer Pizza und zu einem scheußlich sauren Rotwein ein und sagte noch, sie würde ihr blaues Wunder erleben, wenn sie jemand erzählen würde, dass er mit ihr fickt. Klar, so blöd war sie ja nicht, sie war erst dreizehn, der musste sich schon in die Hose scheißen. Aber sie hielt ihren Mund, warum auch nicht.
Biggi träumt gern davon, etwas ganz Besonderes aus sich zu machen. Später vielleicht mal. Eine besonders schöne Frau in einer besonders chicen Wohnung mit einem besonders tollen Typ, der ein geiles Auto hat und der gut riecht. Sie ist ja erst vierzehn, da sind solche Gedanken noch nicht unbedingt völlig weltfremd. Tatsächlich sind sie es aber jetzt schon, und sie werden es aller Wahrscheinlichkeit auch immer sein. Irgendwie ist ihr das auch klar. Das frustriert, aber nur manchmal. Schule nervt sie, sie hat auch nicht mehr lange, zu lernen fällt ihr schwer, sie schafft's mit Ach und Krach, wahrscheinlich, und dann wird sie irgend was machen. Irgendwas. Zuhause kann sie sich nicht konzentrieren, alles ist eng und billig. Und immer laut. Sie schreien sich an, Biggi schreit mit, es ist ihr gar nicht bewusst, wie unsympathisch laut sie miteinander umgehen. Wie vulgär, wie hohl sie miteinander sprechen. Wie gewöhnlich sie sind. Doch, das schon. Das weiß sie. Die anderen sind auch nicht besser. Sie sieht wenigstens gut aus.
Früher war sie mal pummelig, die Jungs haben sie Breitarsch und Fettklops genannt. Das sagt jetzt keiner mehr, sie ist eher zu dünn, aber das ist okay so. Sie genießt es, angemacht zu werden, auch von Kerlen, die aus dem Mund stinken und verschwitzte Handflächen haben, die sind halt so.
Albi ist anders. Eigentlich überhaupt nicht ihr Typ, aber eben anders. Sie könnte Bessere haben. Schlechtere auch. Unbedingt gut sieht er wirklich nicht aus. Er ist viel zu dürr und hat keinen Hintern, und seine Haare sind zwar lang, aber er lässt sie einfach nur wachsen. Sie sehen immer fettig aus, und sie baumeln irgendwie hilflos an ihm herunter. Seine Augen haben eigentlich gar keine richtige Farbe, aber sie wirken traurig, und das rührt sie.
Er hat noch nicht einmal ein Auto. Seine Haut ist weiß und durchsichtig, daran hat sie sich mittlerweile gewöhnt. Anfangs hat seine Haut sie erschreckt, sie sah so tot aus. Seine Hände sind zärtlich. Er spricht nicht viel. Sie glaubt nicht, dass er ihr jemals wehtun könnte. Dafür ist er viel zu nett. Und höflich, er ist so verdammt höflich zu ihr, manchmal kotzt sie sein blödes Getue an. Aber es schmeichelt ihr auch. Er würde alles für sie geben. Er würde für sie töten.
Und jetzt? Was passiert jetzt? Sie ist verunsichert. Sie zieht an ihrer Zigarette, sie erinnert sich, dass sie ein neues Päckchen braucht. Er hat das Geld, großartig, sie hat keine Lust auf saublöde Spielchen, sie will was trinken gehen. Er verschwindet hinter der Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Biggi zuckt mit den Schultern, schließt ihre Jacke, stemmt die kalten Fäuste in die Taschen. Dann eben nicht.
Sie wird ihn erst drei Tage später wieder sehen. Er steht am Autoscooter und nickt ihr lässig zu. Unsicher vielleicht auch, kann schon sein, interessiert aber nicht mehr. Eine hässliche Rothaarige mit breiter zugeklatschter Visage lehnt sich an ihn, klebt an ihm. Sieht aber nicht so aus, als würde das Mondgesicht ihm gefallen. Wie auch? Albi macht einen Schritt nach rechts, schüttelt die Rothaarige ab wie ein lästiges Insekt und sieht wieder zu Biggi hinüber. Er wartet. Nervös? Egal. Sie hat längst schon einen anderen. Und Albi widert sie nur noch an.
Albi sieht sie jetzt direkt an, wirkt irritiert. Wieso eigentlich? Selbst schuld. Siegfried Suerbaum schnauzt von der Kasse aus. "Voran, Mann, wirst hier nicht fürs Gaffen bezahlt."
Noch ein Tag. Albi schüttelt sich, verharrt noch für einen kurzen Moment regungslos, sieht, wie dieser Typ neben Biggi ihr einen Plastikbecher mit Bier hinhält, sieht, wie sie ihn küsst. Wie sie ihn anlacht. Ihm wird flau, er kämpft mit einer Wut, die er nicht gelernt hat, herauszulassen. Bloß nicht aufmucken, sonst setzt's was.
Siggi kotzt ihn an, behandelt ihn wie Dreck. Der Job ist mies bezahlt. Ein Tag nur noch. Nicht, dass er sich danach sehnte, die Vormittage wieder in der versifften Bruchbude seines versoffenen Stiefvaters abzuhängen. Aber er hätte ihr den Ring gekauft, den sie in der Auslage bewundert hat. Seine große Liebe. Sein Mädchen. Trägt schon wieder die Lackstiefel. Es ist auch wärmer geworden. Er schluckt. Scheußlich, dieser dicke Kloß im Hals. Will raus, kann nicht.
Übermorgen hat er keinen Job mehr. Innerlich grinste er gequält. Typisch. Wie wunderbar, das alles bei vollem Bewusstsein ertragen zu dürfen. Sauf Dir einen, Junge, dann wird's schon wieder.
Biggi knutscht noch etwas mit ihrem Neuen, dann ist sie weg. Albi hat sie abgehakt, wollte ihn halt noch ein wenig ärgern. Sie ärgert sich auch. Später wird sie drüber lachen. Jugendsünden. Eben.
Warum wünscht sich ein Mädchen in einer Leichenhalle zu liegen und aufzuwachen in einem weißen Nachthemd aus Spitze, das dem Totenhemd ihrer Tante ähnelt? Wer ist der Tote Mann auf dem Bett, in dessen Hals ein Schraubenzieher steckt? Wem gehört der Ring, der im Garten unter einer Zeder vergraben wurde? Kann ein harmloser Teddybär zum Mörder werden? Warum kann es verhängnisvoll sein, ein Einmachglas fallen zu lassen oder als Kind an seinem Zeh zu lutschen? Wer waren die Personen, die auf dem alten Gemälde ohne
Augen dargstellt sind und was ist ihr Geheimnis? …
Karin Reddemanns Geschichten erwecken alltägliche Ängste und düstere Bilder und entführen den Leser in eine verstörte und verstörende Welt.