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Die Vergessenen

© Frank Moné


Der kleine verhärmte Mann saß in seinem alten, abgewetzten Sessel und schaute zum Fenster raus. Eigentlich interessierte es ihn nicht was da draußen vor sich ging. Das war nicht mehr seine Welt. Schon lange nicht mehr. Aber was sollte er sonst tun? Die vergilbten Tapeten mit den mittlerweile aus der Mode gekommenen Mustern betrachten? Die vielen Bilder an der Wand wollte er auch nicht mehr sehen. Die damit verbundenen Erinnerungen taten ihm weh. Sie waren stumme Zeugen eines anderen Lebens. Bilder aus der Schulzeit. Aus der Lehre. Aus dem Fußballverein. Bilder seiner Hochzeit, Bilder aus vielen herrlichen Urlaubszeiten in Deutschland, Italien, Spanien, Griechenland, verschiedenen europäischen und karibischen Inseln. Bilder seiner Kinder, vom Stammtisch und Gartenfesten. Tränen liefen dem hageren Männchen die Wangen hinab. Sie erreichten nicht einmal sein Kinn, so wenig Substanz hatten sie. Lange zurückliegende Augenblicke krochen langsam durch seinen Kopf. Er durchlebte noch einmal die besseren Zeiten, als er noch jemand war. Nein, niemand Großes, niemand Bedeutendes, das hatte er nie gebraucht. Er dachte an Zeiten, in denen er noch arbeiten durfte. In denen er genug Geld mit nach Hause brachte, um noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Als man ihn noch nach seiner Meinung fragte, im Beruf, beim Sport, in den Diskussionen in der Kneipe. Dann der Tag, an dem sich alles änderte. Er sah wieder den Einsenträger, der, zwei Metern Höhe, aus der Halterung rutschte und auf den verschlammten Boden der Baustelle zu fallen drohte. Aus einem Reflex heraus packte er zu. Kriegte das Ding zu fassen ... dann war da nur noch Schmerz. Die Diagnose lautete: Schwerer Bandscheibenvorfall. Er war lange Zeit zu Hause. Mit fünfundfünfzig Jahren steckte man so was leider nicht mehr so leicht weg. Dann kam die Kündigung. Nach über dreißig Jahren im selben Betrieb. Es blieb nur der Weg auf die Ämter. Aber da wurde das Geld noch knapper. Es reichte hinten und vorne nicht. Und es gab deswegen oft Streit zuhause, zu oft. So oft, dass Marianne sich von ihm trennte. Nach dreiunddreißig Jahren Ehe. Sie hielt es einfach nicht mehr aus. Er war ihr nicht böse, er verstand sie doch. Sie ging nicht aus mangelnder Zuneigung, sie konnte ihn nicht mehr leiden sehen. Und die Kinder? Kamen auch nicht mehr oft. Die hatten genug damit zu tun, ihre eigenen Familien über Wasser zu halten.
Sein ausgezehrter, bebender Körper rang um Kontrolle und seine Seele um Fassung. Die dunklen, tief liegenden Augen blickten ins Leere. Irgendeine Macht hatte ein Einsehen und stoppte den Schlag seines Herzens.
Er starb nicht nur an Herzversagen. Er starb an verlorenem Selbstbewusstsein, an gestohlenem Stolz, an zertretener Freude, an verweigerter Schaffenskraft, an fehlendem Lebenssinn, an Einsamkeit und vielen dieser Dinge mehr. Wie viele andere auch. Und es werden täglich mehr.
Sie starben im Harz. Am 4.



Eingereicht am 04. Mai 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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