Herr Schmidt oder die Gesellschaft
© Matthias Weizenberg
Schmidt ging durch die Stadt und schwang gemütlich die bunte Einkaufstasche aus Pappe in der Hand. Seine Schritte waren gleichfalls beschwingt und indem er seine Lippen flötend spitzte, als wollte er jemanden küssen, sonderte er fröhliche Melodien ab. Weil ein kalter Wind durch die Straßen wehte, trug er seinen Mantelkragen hochgeschlagen bis zu den feinen Nackenhärchen, welche an seinem Hinterkopf in eine volle, lockige Mähne mündeten. Dieselbe Hand, mit welcher er die Tasche trug, war durch die silberne Armbanduhr,
welche seine Frau ihm zum Geburtstag schenkte, mit dem übrigen Arm verbunden, aber sie ging so leise dass Schmidt, wenn er sich nicht gehörig darauf konzentrierte, ihr feines, süffisantes Ticken gar nicht wahrnahm. Nur von Zeit zu Zeit nestelte er sie aus dem Ärmel, warf einen hastigen Blick auf ihr römisches Zifferblatt, und zog im selben Augenblick seine flache Stirn, in geschäftige Falten und Krausen. "So spät schon", murmelte er dann vorwurfsvoll und dann stellte er das Pfeifen ein, weil ihn das
verschärfte Tempo außer Atem brachte. Nur seine Uhr zeigte sich davon gänzlich unbeeindruckt und hielt auf nahezu provokante Weise ihren Takt.
In Gedanken war Schmidt schon zu Hause, er dachte an seine Frau und vor Allem an seinen eingewohnten Sessel mit den flauschigen Kissen, welche ihn fast noch liebender umgarnten als die Arme seiner Frau. Das Kopfsteinpflaster oktavierte die Geräusche seiner Uhr, wie ein Echo zählten sie die Sekunden, welche unter seinen festen, eiligen Schritten ins Gestern tropften. Er sah sein Spiegelbild in den erleuchteten Schaufenstern vorüberschweben und scheuerte beim Laufen die Hosenbeine aneinander. So friedlich ging
Schmidt durch die Stadt und als er endlich die S-Bahn Station erreicht hatte, strömten tausend fremde Schmidts mit ihm in die Halle und standen dann ohne miteinander zu reden als anonyme Großstadtmenschen an den Gleisen und warteten auf ihre Bahn. Die Anzeigetafel spulte gleichgültig Linien und Abfahrtszeiten herunter und an einem Pfeiler, den Schmidt im Bestreben, einen guten Warteplatz zu erlangen, passierte, lehnte sitzend ein alter, zerzauster Bettler der mit matter, monotoner Stimme um kleine Geldbeträge
bat. Sein Körper zitterte so sehr, dass man ihm das Atmen, also das gleichmäßige Heben und Senken der Brust, gar nicht mehr ansah und sein Gesicht war so zerfurcht, dass es Schmidt schauderte, als seine Augen versehentlich die arme Kreatur bemerkten. Es schauderte ihn so sehr, dass er vergaß beklommen wegzuschauen und stattdessen dem neugierigem Triebe nachgab, das Abscheuliche, nicht zu ertragende mit einer masochistischen Wollust zu begaffen. Mitleid stieg in ihm empor und als er in die müden Augen starrte,
dachte Schmidt: "Dem armen Kerl muss doch geholfen werden", und pflichtbewusst kramte er mit der freien Hand in seiner Manteltasche nach einem Geldstück. Aber weil er keines fand, und seine S-Bahn gerade schnaubend einlief, beließ er es bei dem Gedanken, und wandte sich von dem armen Manne ab, welcher ihm noch für ein paar Sekunden ohne Regung nachsah.
Obwohl er mitten in den Feierabendverkehr hineingeraten war, gelang es Schmidt einen Sitzplatz zu ergattern, den er allerdings wenig später zugunsten einer alten Dame aufgab, denn er war ein höflicher Mensch. So fuhr er dahin, die Stationen reihten sich aneinander wie die Unterhosen auf einer Wäscheleine. Nichts geschah und Schmidt nutze die Langeweile um an seine Frau, seinen Sessel und den armen Bettler zu denken. Immer wenn die Bahn, und das tat sie hin und wieder in normaler Regelmäßigkeit, ruckelte, schlug
ihm die Einkaufstasche an die Knie und manchmal stieß er auch mit den anderen Passanten zusammen, das heißt er bekam einen Ellenbogen ins Gesicht oder einen Fuß ans Schienbein. Doch weil diese Art von Gewalt schlichtweg dazugehört und obendrein nicht einmal beabsichtigt und zudem noch gegenseitig wie zufällig ist, störte sich niemand sonderlich daran.
Je mehr sich die Fahrt dem kleinen Vorort näherte, in dem Schmidt samt seiner Gattin beheimatet war, desto leerer wurde das Abteil und schließlich konnte sich Schmidt auch wieder setzten. Der Plüsch war noch ganz warm und verschwitzt von seinem vorigen Besitzer, doch das scherte Schmidt nicht weiter und unbeteiligt sah er aus dem Fenster, ohne etwas zu erkennen. Nach einiger Zeit wurde ihm auch dies zu blöde und um sich zu beschäftigen entschloss er sich, die noch verbliebenen Mitfahrer zu mustern. Es waren in
seinem Abteil noch 9 andere, die meisten davon waren wohl Arbeiter oder Studenten, zudem saß in der Ecke eine Mutter mit ihrem kleinen Kind. Schmidt schätze das Kind in lächelnden Erinnerungen schwelgend auf ungefähr 4 Monate, doch er wusste, dass es genauso gut auch 9 oder 11 Monate sein konnten, da er sich in diesen Dingen, wie er mit einem gewissen Schrecken einräumen musste, nicht mehr allzu gut auskannte. Ihm gegenüber saß ein älterer Herr, mit kargem weißen Haar und einer goldenen Brille, welche seine dichten
grauen Augenbrauen wirkungsvoll zur Geltung brachten. Neben ihm lag eine zusammengefaltete Zeitung, ohne Interesse überflog Schmidt die so alltäglichen Schlagzeilen und was er las, war ihm nicht einmal mehr ein Schulterzucken wert. Er hatte sich damit abgefunden kein Revolutionär zu sein. Die Welt war schlecht, die Menschen dumm und beide waren höchstens an sich aber nicht als Sachverhalt zu ändern. Das Leben unterlag nun einmal gewissen Gesetzen, deren Herkunft Schmidt zwar schleierhaft war, aber deren Autorität
er nach all den Enttäuschungen nicht mehr anzuzweifeln wagte. "Soll die Welt in Gottes Namen doch zur Hölle fahren.", dachte er sehnte sich nach seinem Sessel.
An der nächsten Station stiegen zwei Menschen hinzu, die sich schon bevor sie sich das erste Mal begegneten nicht ausstehen konnten. Auf dem verwaisten Bahnsteig trafen sie auf einander, der eine von ihnen war groß und stämmig, und ohne seine großen Ohren hätte man seinen Schädel gar nicht als solchen erkannt, sondern ihn nur für einen abgerundeten Ausläufer seines Körpers gehalten. Unterhalb der bulligen Glatze trug er eine zernarbte Stirn, und die kräftigen Oberarme welche der Mensch, der Kälte scheinbar beleidigt
trotzend, im schwarzen Muskelshirt zur Schau stellte, waren über und über mit Tätowierungen übersät. In der alten Sütterlinschrift prangten "Großdeutschland" und "88" sowie eine Reihe von weiteren Symbolen auf der ansonsten recht bleichen Haut. Der andere Mensch wirkte zum dem Nazi wie dessen Bild in einem Zerrspiegel. Er war dünn, doch gleichsam stabil, auf dem Kopfe trug er dunkles und in harte, länglich-strähnige Fetzen zerschnittenes Haar. Um den Hals hatte er sich einen geschirrtuchähnlichen
Lumpen gewickelt und seine Kleidung war mit Aufnähern übersät, die in grellen Rot- und Schwarztönen Parolen wie "Alles Scheiße", "Kein Bock auf Arbeit" "Saufen, Rauchen, ficken", "Schlagt sie tot!" und "Halt die Fresse" in die Umgebung schrien. Als sie gleichzeitig in die Bahn stiegen, fingen sie an sich zu bepöbeln, und noch bevor sich der Waggon wieder in Bewegung setzte, waren sie schon dazu übergegangen sich zu bespucken. Die Wut zeigte sich deutlich in den
hässlichen und hasserfüllten Fratzen der beiden, immer lauter wurden Flüche und Beleidigungen, der Lärmpegel stieg derart an, dass er das wummernde Dröhnen der S-Bahn um ein Vielfaches überstieg und das kleine Kind die Bluse seiner Mutter vollheulte.
Schmidt versuchte sich zwischen seinen Schultern zu verstecken, nervös beobachtete er die Situation. Sein altes Gegenüber hob die Zeitung auf und begann zu lesen, die Studenten schauten entweder zu Boden oder begannen plötzlich ihre Taschen aus- und einzupacken, ein anderer setzte dazu an, sich mehrere Minuten lang gewissenhaft die Nase zu putzen, ein weiter ließ sich seinen schüchternen Kopf zunächst auf seine Brust, dann auf seine Schulter fallen und gönnte sich mit blinzelnden Augen ein unschuldiges Schläfchen.
Der erste Schlag klatsche dem einen ins Gesicht, der andere reagierte prompt mit doppelter Vergeltung, die ersten roten Spritzer schossen aus der Nase, schon war es dem zitternden Schmidt nicht mehr möglich zu sagen wer angefangen hatte, und er begriff, dass diesem Umstand in diesem Fall auch gar keine Bedeutung beizumessen war. "Ich mach dich fertig!", brüllte der eine und klang wie ein Tier, der andere brüllte zurück, dann verstummten sie beide weil sie ihre Schnauzen kurzfristig als Beißinstrumente
verwendeten. Schmidt versuchte tief durchzuatmen, aber er konnte nur jämmerlich japsen. "Nun mach bloß nichts Falsches", nuschelte er mit trockenen Lippen und schielte flehend nach den anderen. Der alte Mann ihm gegenüber fing seinen Blick auf legte warnend den Zeigefinger vor seinen Mund. "Bleiben Se ruich!", zischte er, "wenn Se dazwischen geen geraten se nur zwischen die Fronten, weiter nischt. Solln se sich doch prügeln wenn ses wollen, unsa problem is det nischt." Schmidt nickte
hektisch. Die beiden Schläger waren mittlerweile beide blutverschmiert, und der kleinere der beiden, schien für einem Moment das Bewusstsein zu verlieren, er taumelte, stürzte und fiel neben Schmidt in dessen Papptasche hinein.
Schmidt rückte in Richtung des Fensters, aber der am Boden liegende sackte nach und Schmidt spürte den schwitzigen Kopf an seinen Beinen. Der andere trat jetzt mit dem Fuß auf den nun Wehrlosen ein. Da überkam Schmidt ein noch nie da gewesenes Gefühl, er spürte sein Herz poltern und pochen, es war als wäre sein Körper im Begriff zu explodieren, das Blut schoss ihm hämmernd in die Schläfen, ohne es wirklich zu merken, schoss er aus der Bank empor und seine Stimme bebte vor Erregung als er schrie: "Schluss
jetzt!" Der Neonazi war für einen Augenblick lang so überrascht, dass er einen Schritt zurückwich, der andere erhob sich wieder und stützte sich auf Schmidt auf, um Halt zu gewinnen. "Ihr Idioten!", schrie Schmidt und fühlte sich als Held. Endlich hatte er einmal sich selbst überwunden! Endlich war es ihm gelungen, etwas zu tun, vor dem sich alle anderen fürchteten, endlich hatte er einmal Zivilcourage bewiesen! Warum nicht schon dem Bettler von vorhin gegenüber? Weil ihm da seine Bahn wichtiger
gewesen war! Und nun? Er hätte dem Rat des alten Mannes Folge leisten können, aber er hatte es nicht getan, er hatte sich tatsächlich dazu entschlossen der Ungerechtigkeit, oder vielmehr der Dummheit, der rohen Gewalt Einhalt zu gebieten! "Komm", hauchte ihm der Gerettete wütend ins Ohr, "jetzt machen wir das Faschoschwein fertig!". "Nein", entgegnete Schmidt, und wunderte sich selbst bewundernd über seinen Mut. "Hier wird niemand fertig gemacht. Ich hätte auch ihm geholfen,
ich half nicht dir oder dir", er deutete auf die beiden Schläger, "ich wollte das Schlimmste verhindern. Wie kommt es überhaupt dass ihr einander die Köpfe vom Hals schlagen wollt, wo ihr euch doch so ähnlich seid." Triumphierend und am eigenen Pathos berauscht betrachtete er die versteinerten Gesichter der beiden. Ihn kitzelte die Lust, das Bedürfnis, seine glorreiche Rolle zu vollenden, er musste sich noch weiter steigern, musste die Vernunft noch mit Belehrung und mit Hochmut übertreffen. "Denn
ihr seid beide Idioten, Eure scheinbaren Gegensätze si nt! Ihr seid beide brutale Verbrecher, Schläger, Krawallmacher! Ihr seid euch so gleich..."
Das war das letzte was Schmidt sagte und während seiner kühnen Rede übersah er die bittende und warnende Mimik des alten Mannes. Die beiden Schläger wollten sich in ihrer Beschäftigung nicht stören und in ihrer Raserei nicht bremsen lassen. Zynischerweise befolgten sie aber Schmidts Worte in dem sie sich tatsächlich für einen kurzen Augenblick in einer Handlung vereinten, nämlich schlugen sie Schmidt, während sie einander schon wieder die Gesichter zu Brei kloppten, mit der jeweils freien Hand, also insgesamt
zweihändig, kurzerhand tot. Schmidt brauchte nur zwei Schläge, dann fiel er einfach um. Im Eifer des Gefechts geschah Gleiches mit seiner Einkaufstasche, doch das bekam er schon gar nicht mehr mit.
Als die S-Bahn schließlich hielt, kam ein Polizist in das Abteil und nahm sich der Sache an. Der alte Mann, der Schmidt gegenüber saß, hatte die Polizei verständigt. Auch ein Notarzt kam, aber der konnte nur noch den Tod feststellen. Der Polizist, ein fülliger und gemächlicher Zeitgenosse, der zwischendurch immer wieder seufzend erwähnte, dass er doch in einer Woche endlich pensioniert würde, befragte die Fahrgäste nach dem Hergang der Situation. Es verstrichen einige Minuten bis er von den beiden Schlägern,
ihrer Prügelei, Schmidts Einsatz und dem konkreten Tathergang erfuhr. "Wo sind die beiden denn?", fragte er und der alte Herr antwortete sachlich. "Die sind ausgestiegen, als die Bahn gehalten hatte. Eigentlich müssten die Ihnen noch auf dem Gelände entgegengekommen sein." "Ja, und woher soll ich das wissen?", tobte der Polizist und er zählte kopfnickend die Menschen im Abteil. "Hier sind doch 5, 6, 7, 8 Männer anwesend - wieso haben sie die beiden denn nicht festgehalten?"
Einer der Studenten murmelte verlegen, dass man sich nicht unnötigerweise selbst gefährden wollte. Der Polizist wischte sich ächzend ein paar Schweißtropfen von der Stirn. "Und er?", fragte er schließlich, wobei er auf den toten Schmidt deutete, "was ist mit ihm? Wieso hat ihm denn niemand geholfen?" Der Student wiederholte sein Argument und diesmal sagte er es ohne jede Verlegenheit und sehr von seiner Korrektheit überzeugt. Der Schläfer, entschuldigte sein unsolidarisches Verhalten mit seinem
festen Schlaf und beteuerte seine "grundsätzliche Hilfsbereitschaft in solchen Dingen". Er wurde rot wie eine Tomate, als er sprach, denn jeder der Zuhörer wusste, dass er log, und vor allem wusste er es selbst. Der alte Herr rückte an seiner Brille und sagte: "Ich habe ihn ja gewarnt. Und dann ging alles so schnell." Noch ein anderer bewies ganz besonders viel Takt, indem er erklärte: "Ich hielt den Konflikt für eine Privatangelegenheit der Beteiligten und wollte mich nicht einmischen."
Der Polizist schüttelte sein Haupt, dann sprach er irgendetwas in sein Fun urze Notizen. Schmidt hingegen lag tot da und hatte den Kopf so gelegt, als säße er zu Hause in seinem Sessel.
Eingereicht am 15. April 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.