Manchmal zerplatzt mein Freund Max heute noch in meinen Träumen. Ich sehe, wie er in dieser lausig kalten Dezembernacht mit seinen dünnen Ärmchen in der Luft rudert. Ein alberner kleiner Engel, unselig mutiert, ohne Flügel, ohne Chancen, der einfach so aus seiner Wolke purzelt. Sein schäbiges Blouson bläht sich auf, als würde ein verwaschener Ballon aus seinem Rücken wachsen, irgendein verdammter Ballon, der ihn vielleicht nach oben ziehen könnte. Aber da will Max gar nicht hin. Er ist ein cleverer Bursche, der das Gesetz der Schwerkraft kennt, und er ist damit einverstanden, dass es grundsätzlich funktioniert.
Vermutlich war ich noch bei den Jungs, als Max zerplatzte. Wir waren sturzbetrunken und schamlos, und wir grölten grausam sinnverdreht die Lieder, die man uns mit süßen Stimmen vor Ewigkeiten in die unschuldigen Ohren geflötet hatte. Es war die Nacht nach Heiligabend, und wir fühlten uns stark und glücklich, weil wir den ganzen rührseligen Scheiß zuhause ohne Schaden überstanden hatten. Der tote Baum in Beppos Pub war mit gelben Plastikkugeln dekoriert, auf die Ilse, Beppos fette Freundin, dämliche Fratzen gemalt hatte. Es sah pervers aus. Wir brüllten vor Lachen, erleichtert, nicht länger in die feuchten Augen unserer glücklich lächelnden Mütter blicken zu müssen. Deren alljährliche Enttäuschung darüber, dass wir "jetzt schon?!" aufbrechen wollten, obgleich es doch wieder einmal so schön, so feierlich und friedlich, so gottverdammt schön war, gefiel uns, weil wir uns wichtig und überlegen fühlten. Wir bedauerten sie ein bisschen. Aber mehr Gefühl war uns lästig. Mehr Gefühl...
Ich schließe die Augen und sehe diesen gelben Baum, der mich anwidert, jetzt, viele Jahre später. Und ich sehe meine Mutter und lächle zurück. Ich verfluchtes Weichei. Max sehe ich auch. Er fliegt. Etwas fliegt. Fällt zu Boden, dann noch einmal, ich höre es sanft aufklatschen und fühle mich irgendwie absurd erleichtert. Ich weiß, was da liegt, kann nicht Max sein. Kein Mensch kriegt solch eine butterweiche Landung hin, nicht einmal Max Kellerhoff, dessen Kopf nicht größer als ein Granny Smith ist. Max fliegt immer noch. Was er vorausgeschickt hat, sind nur ein Schuh und seine Brille. Das vergammelte Heftpflaster hat den linken Bügel, an dem es klebte, tatsächlich gehalten, nur das Glas ist zersprungen. Ich mache mir Sorgen um Max. Der lächerliche kleine Scheißer weiß doch genau, dass er ohne Brille rettungslos verloren ist. Du selbstherrliches Arschloch, brülle ich ihm zu, was denkst Du, wer Du bist?! Du siehst doch gar nicht mehr, wo Dein feiger Flug hingeht. Aber dieser verdammte Idiot hört mir gar nicht zu. Blind rudert er einfach weiter, als würde er den Weg genau kennen. Der Wind reißt ihm noch in unmittelbarer Bodennähe die letzten Tränen aus den Augenwinkeln, dann schlägt er auf. Max placiert sich exakt einen Meter rechts von diesem kitschigen Springbrunnen vor dem Gebäudetrakt unserer Universität.
Ich weiß nicht, ob Max genau dort neben dem Springbrunnen landen wollte, aber ich bin mir sicher, dass es ihm wichtig war, nicht geradewegs hineinzuplumpsen. Es hätte einfach nur lächerlich ausgesehen, und er hätte sich geschämt, dort in dem Brunnen zu liegen und Wasserfontänen hilflos ausgeliefert zu sein, die sich munter mit seinem verdrehten Körper amüsieren. Vielleicht wäre Max in dem Brunnen nicht so sehr zerplatzt, und vermutlich wäre er auch sanfter aufgeklatscht, wenn auch nicht so sanft wie sein Schuh. Aber dieses scheußliche Geräusch, das er bei seiner Landung verursacht haben muss, war ihm, glaube ich, trotzdem lieber als der Gedanke im Moment des Todes, mal wieder und wenn auch nur zum letzten Mal eine Schießbudenfigur gewesen zu sein. Dieses abscheuliche Geräusch begleitet meine Träume, in denen mein Freund Max in der Nacht nach Heiligabend irgendwann vor Urzeiten wieder und wieder zerplatzt. Vielleicht, um seinen Platz in meinem Kopf zu finden, ohne mich angeklagt zu haben. Mag sein, ich übertreibe. Aber ich danke Gott dafür, nicht verflucht zu sein.
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