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Das andere Kind - eine Familiengeschichte

© Nannette Lachner


So weit ich mich auch an meine Kindheit zurückerinnere, immer war ich das "andere Kind". Ich fühlte mich nicht geliebt, nicht beachtet und auch nicht erwünscht. Aber ich war da und erst als Erwachsene sollte ich erfahren, warum ich all das erleben und erleiden musste. Ich wurde als zweite Tochter meiner Eltern, Henry und Saskia Hüblein, geboren. Meine ältere Schwester Wiebke, damals vier Jahre alt, war da bereits der Sonnenschein meiner Eltern. Ich wuchs auf, lernte an der Hand meines Vaters laufen und konnte mit drei Jahren bereits meinen Namen buchstabieren, Liane. Wie von selbst konnte ich mit meiner Armbanduhr umgehen, wusste wie spät es war und noch bevor ich in die Schule kam, konnte ich Bücher lesen. Dies brachte mir niemand bei, keiner nahm mich an die Hand und erklärte mir irgendetwas, ich lernte die Welt selbst kennen. Dies war bei meiner Schwester Wiebke alles ganz anders. Vater ging mit Wiebke in den Zoo. Mutter lief mit ihr zu jedem Kindertheater oder veranstaltete für sie extravagante Kindergeburtstage.
Meine Mutter hatte eine ganz besonders intensive Beziehung zu Wiebke. Mir kam es immer so vor, als ob sie sie wie einen Goldschatz behütete, sie Wiebke als ihr Eigentum betrachtete und nicht mehr hergeben wollte. Wiebke wurde auch von ihr ganz besonders "süß" angezogen, immer in pink, Ringelstrümpfchen, schwarze Lackschuhe, Fellmäntelchen usw. Mich dagegen brachte Vater in die Kinderabteilung von Karstadt, dort suchte er mir, meist in blau, weiß oder schwarz, knielange Röcke, Kleider, Hosen und Pullover aus. Ich wüsste nicht, dass ich jemals ein farbiges Kleidungsstück als Kleinkind getragen habe. Kurz bevor ich in die Schule kam, wollte ich auch unbedingt die Tiere im Zoo sehen. Wochenlang hatte ich das Tierlexikon meines Vaters von A bis Z studiert und wollte endlich die lebendigen Tiere betrachten. Mein Vater winkte ab, es wären immer viel zu viele Leute dort, man bekäme nicht immer alle Tiere zu sehen. Manche wären krank, schliefen oder wären gar nicht erst im Zoobestand. Er ging mit mir ins Museum König, ich musste das dicke Lexikon der Tiere von A bis Z mitschleppen und vor jedem Tier, das dort aufgestellt war, im Lexikon nachschlagen, was darüber geschrieben stand. Das machte meinen Vater sehr zufrieden. Schließlich konnte ich alle Ausstellungsexponate in Ruhe ansehen, sie hielten ja still, sie waren ja schließlich ausgestopft. Nur zu einer kleinen Dummheit ließ sich mein Vater hinreißen, die Giraffe und den Elefanten durfte ich kurz anfassen, was ja eigentlich total verboten war. Sein Kommentar dazu war der, dass man dies im Zoo ja nicht könnte. Entweder würden die Tiere weglaufen oder zubeißen und somit wäre das, was ich erleben durfte doch richtig großartig. Mich hat das alles ziemlich traurig gemacht, ich merkte recht bald, bei mir wurden immer Unterschiede gemacht, aber nur zu meinem Nachteil. Es hat sehr lange gedauert, bis ich die hämischen Blicke meiner Schwester Wiebke einfach übersah, sie irgendwann gar nicht mehr registrierte. Auch ihre bissigen Kommentare erwiderte ich nicht mehr, ich hörte ihr einfach nicht zu. Trotzdem blieb sie Vaters und Mutters Lieblingstochter, ich dagegen weiterhin "das andere Kind". Als wir älter wurden und Wiebke in die Disco gehen durfte, musste unser Vater auf Verlangen unserer Mutter den Wecker auf nachts um zwei stellen, um Wiebke mit dem Auto von der Disco abzuholen. Da duldete unsere Mutter keinen Widerspruch, Vater hatte das selbstverständlich zu machen, sie dagegen legte sich zufrieden ins Bett, wusste sie doch, ihr Mann würde sich kümmern.
Manchmal kam unser Vater dann erst gegen vier oder gar fünf Uhr mit Wiebke nach Hause. Sie hatte mal wieder die Zeit vergessen und unser Vater saß stundenlang im Auto und wartete darauf, dass Wiebke endlich aus der Disco kam. Unser Vater hat sich überhaupt immer um alles gekümmert, er war Mathematiklehrer am Gymnasium, er hat diesen Beruf geliebt und seine Schüler ebenso. Schon aus dieser beruflichen Verantwortung heraus, erfüllte er auch pflichtbewusst alle familiären Pflichten. Als Familienoberhaupt hatte er seiner Meinung nach stets alles mit Sorgfalt und eiserner Disziplin im Auge zu behalten. Mich hat dies nie gestört, es gehörte einfach dazu, dass unser Vater sich für alle familiären und häuslichen Belange verantwortlich fühlte.
Als Wiebke und ich älter wurden, konnte unser Vater immer schlechter schlafen. Dies äußerte sich darin, dass er, der nie Alkohol trank, sich abends ein erwärmtes Bier hinunterekelte, um wenigstens für ein paar Stunden einschlafen zu können. Spätestens um halb sechs stand er auf, ging ins Bad, setzte danach Kaffee und Tee auf und füllte diese in Thermosflaschen.
Pünktlich um sechs Uhr zog er sich an, um bei Frau Wilmers um die Ecke, die einen Zeitungskiosk betrieb, seine Zeitung und Brötchen für alle zu kaufen.
Er deckte den Tisch und als wir alle dann kurz vor sieben am Frühstückstisch saßen, wusste er schon von den Geschehnissen der Welt zu berichten. Wiebke und unsere Mutter verleierten dann die Augen, ihnen war das wurscht und sie wollten ihre Ruhe haben. Mir dagegen imponierte, dass unser Vater sich für alles interessierte und uns daran teilhaben lassen wollte. Je älter Wiebke und ich wurden, desto deutlicher wurde, dass ich das "andere Kind" war. Als ich mit dreizehn Jahren Wiebke fragte, warum das eigentlich so wäre, antwortete sie nur, ich wäre das Kind vom "anderen". Ich war total geschockt, fragte ich mich doch, was das nun wieder soll. Natürlich fragte ich weder meinen Vater, noch meine Mutter nach dem "anderen", ich begann unsere Familie genauestens zu beobachten. Wiebke hatte das lange, braune Haar unserer Mutter geerbt, nie musste sie zum Frisör gehen. Unsere Mutter schnitt ihr alle vier Wochen, wie bei einem heiligen Ritual, immer nur die Haarspitzen. Ich dagegen musste mit Vater zum Herrenfigaro, der mir dann ebenfalls die Haare kurzraspelte. Schön fand ich das nicht, aber Vater versuchte mir immer einzureden, wie pflegeleicht dieser Haarschnitt nun wäre. Weil ich sowieso nur zu Hause war, viel las oder einfach nur auf der Bank vor dem Haus saß, schenkte mir unser Vater als ich zehn Jahre alt wurde eine kleine Katze. Sie war schneeweiß und sehr anhänglich. Ich gab ihr keinen Namen, sie hörte auf alles, was nett in ihren kleinen Ohren klang.
Anfangs wollte diese Katze irgendwie nichts mit mir zu tun haben. Wie ich mich auch bemühte, sie streichelte, hochnahm und verwöhnte, sie dankte es mir mit Ignoranz. Wiebke dagegen, die an Tieren so gar nichts fand, lief sie ständig hinterher. Das war schlicht und ergreifend ganz furchtbar für mich.
Später fand ich heraus, dass dies bei Katzen normal ist, je mehr man sie bedrängt, desto mehr ziehen sie sich auch zurück. Kurioserweise suchen sie die Nähe der Menschen, die Katzen am wenigsten mögen, weil sie von diesen eben nicht bedrängt werden. Meine Katze jedenfalls änderte nach einigen Monaten ihre Meinung, schlief in meinem Bett, hörte auf mich und füllte mein Kinderherz mit unendlich viel Zuneigung und Wärme. Diese Katze nahm ich auch in meine erste eigene Wohnung mit, sie war zu diesem Zeitpunkt zwar schon einige Jahre alt, aber wir zwei konnten nicht ohne einander. Wiebke hat oft die Fenster absichtlich offen gelassen, damit die Katze, wir wohnten im Parterre, abhauen konnte. So sehr ich Wiebke auch anschrie, sie spielte immer das Unschuldslamm und war nie daran schuld. Gott sei Dank lief die Katze nie weit weg und einmal brachte sie sogar ein Nachbar wieder. Nie in meinem Leben hatte ich bis dahin vor Dankbarkeit so geweint wie damals.
Unser Vater brachte dann an alle Fenster einen Katzenschutz an und für Wiebke wurde es uninteressant, mich auf diese Art und Weise zu demütigen.
Wiebke und ich wurden älter, gingen uns aber immer mehr aus dem Weg. Alles, was sie interessierte besprach sie mit unserer Mutter. Die wurde dann immer ganz geschäftig und Wiebke bekam, was sie wollte. Ich versuchte erst gar nicht, unsere Mutter auf meine Belange aufmerksam zu machen. Mittlerweile wusste ich, dass sie froh war, wenn ich sie in Ruhe ließ. Unser Vater wurde krank, ein erster Herzinfarkt folgte. Nur langsam erholte er sich wieder, blieb aber nun mehr und mehr zu Hause. Da unsere Eltern schon immer getrennte Schlafzimmer hatten und beide eigentlich seit jeher ihrer eigenen Wege gingen, fing meine Mutter an, sich "selbst zu verwirklichen", wie sie es nannte. Sie besuchte Frauenkreise, reiste umher und lebte ihr eigenes Leben. Unser Vater blieb zu Hause, Wiebke zog in ihre erste eigene Wohnung und unsere Mutter richtete diese ein. Eigentlich wäre ich auch noch gern zu Hause wohnen geblieben. Ich bekochte unseren Vater, wir sahen zusammen Dokumentarfilme und ich hatte ihn irgendwie endlich für mich allein. Unsere Mutter bestand aber darauf, dass ich kurz nach meiner Berufsausbildung in eine eigene, kleine Wohnung zog. Sie gab mir einen Scheck und ich zog los, um mir meine Ersteinrichtung zu kaufen. Da wir zum 18. Geburtstag den Führerschein von unseren Eltern geschenkt bekommen hatten, die einzige Ausnahme, bei der kein Unterschied zwischen Wiebke und mir gemacht wurde, konnte ich meinen ersten Hausstand mit einem kleinen Transportwagen selbst lenken. Ich hatte also meine Wohnung, meine Katze und eine Arbeit, die mich ausfüllten. Mein Leben war in Ordnung. Die erste große Liebe kam und ging, ich nahm es nicht tragisch und alles nahm seinen Lauf. Dann kam der Brief von Wiebke. Sie wollte, dass wir einen Vaterschaftstest machen ließen, sie wollte nun endlich mal die Familienzugehörigkeiten schwarz auf weiß festgestellt haben. Für mich war das bis dato völlig unerheblich gewesen. Im Hinterstübchen von mir wusste ich doch von ihr, ich war das Kind "des anderen", aber es interessierte mich nicht mehr. Sie bestand auf diesen Test und seltsamerweise war unser Vater überhaupt nicht dagegen. Nur unsere Mutter rief mich vor dem Test an und fragte mich, warum ich da mit machen wolle. Es wäre doch alles so schön in Ordnung, wir müssten doch nun nicht alles in Frage stellen. Ob sie Wiebke das auch gefragt hat, habe ich nie erfahren. Wir haben diesen Test jedenfalls durchführen lassen, Wiebke hatte es sich nehmen lassen, diesen auch selbst zu bezahlen. Dann kam das Ergebnis per Post, jeder bekam persönlich eine Mitteilung. Diese wurden an unsere elterliche Wohnung versandt, Wiebke hatte darauf bestand, dass wir gemeinsam das Ergebnis erfahren sollten. Mein Vater öffnete den Brief erst gar nicht, er forderte uns auf, als erste die Umschläge zu öffnen. Höhnisch überließ Wiebke mir als Erste, das Ergebnis zu lesen. Nachdem ich die ersten Zeilen gelesen hatte, bekam ich einen Lachanfall, ich konnte einfach nicht mehr aufhören. Wutentbrannt las sich nun Wiebke auch das Ergebnis des Vaterschaftstests durch. Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Vater, Henry Hüblein, ihr Vater sei, war ausgeschlossen. Ich dagegen war zu 99 Prozent die leibliche Tochter meines Vaters. Damit hatte sie nie im Leben gerechnet.
Im Moment lief bei Wiebke alles schief im Leben; ihre große Liebe hatte eine andere Frau gefunden, ihre Arbeitgeber hatte ihr wegen ständiger Unpünktlichkeit gekündigt und auch so fand sie nicht die Anerkennung, die ihr ihrer Meinung nach zugestanden hätte. Sie hat sich wohl darauf besonnen, dass sie als letzten Trumpf nun ihre Schwester für all ihre Niederlagen büßen lassen müsste. Deshalb strengte sie diesen Vaterschaftstest an, um mir nun ein letztes Mal beweisen zu können, dass ich "das andere Kind", bin, es hätte ihr unendlich viel Genugtuung bereitet. Unsere Mutter stürzte zornig in das Wohnzimmer und war außer sich vor Wut. Alles Angestaute brach nun aus ihr raus. Sie, die mit 17 Jahren von ihrer großen Jugendliebe Robert schwanger sitzen gelassen worden war, musste den Familiefreund und Mathematiklehrer Henry Hüblein auf Weisung des Vaters heiraten. Damit wurde die Familieehre gerettet und Wiebke hatte einen wirklichen Vater. Als unsere Mutter kurze Zeit später eine Liebesaffäre mit einem anderen Mann hatte und mein Vater dahinterkam, forderte er von ihr nicht, diese zu beenden. Er war auch nicht gekränkt oder wollte die Scheidung. Als einzigen Pfand für all seine Opfer verlangte er ein eigenes Kind, mich. Dazu ließ sich unsere Mutter herab. Mein Vater erzählte mir nun, dass er, als er mich das erste Mal wickelte, sofort wusste, dass ich auch wirklich seine Tochter war.
Plötzlich öffnete mein alter Vater das erste Mal in seinem Leben die Hose vor mir, zog sie herunter und zeigte mir sein Muttermal. Dieses Muttermal am linken Oberschenkel habe auch ich und er wusste damals, dass ich wirklich seine Tochter bin. Unsere Mutter wusste also von meiner Geburt an, dass ich nicht das Kind "des anderen" war. Sie hat Wiebke einfach nie die Wahrheit gesagt, damit ihre Lebenslüge nicht auffliegen konnte. Wiebke verließ daraufhin sofort die elterliche Wohnung und auch unsere Mutter suchte das Weite. Ich blieb bei meinem Vater, ich war so aufgewühlt und wollte mehr wissen. Geduldig erklärte er mir, warum eine uneheliche Schwangerschaft zur damaligen Zeit so verpönt war. Er wollte unserer Mutter und ihren Eltern helfen und opferte sich als Ehemann und Vater. Unsere Mutter sah in Wiebke ihre große Liebe und vergötterte sie dementsprechend, ich war das lästige Übel für sie, um im gesellschaftlichen Leben weiter gut dastehen zu können.
Mein Vater erlitt noch in derselben Nacht einen zweiten, dieses Mal tödlichen, Herzinfarkt. Er starb in meinen Armen. Sein Testament wurde kurz nach seiner Beerdigung eröffnet, ich war Alleinerbin, Wiebke bekam nur seine Taschenuhr, weil sie zeit ihres Lebens immer so unpünktlich war. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass mich mein Vater immer um sich haben wollte. Er hat mir die vielen Bücher gekauft und mir die Buchstaben erklärt, damit ich lesen lernen konnte. Er hat mich ständig gefragt, wie spät es ist und wenn ich es nicht genau wusste, erklärte er mir die Zeiger und Zahlen immer wieder. Er wollte, dass ich nicht durch Äußerlichkeiten, sondern wegen meiner inneren Werte, meines Wissens, das er mir vermittelte und meines Charakters, den er prägte, auffalle. Er hat mich gefördert und gefordert, ohne dass ich es bemerkte. Heute erfüllt mich diese Gewissheit mit sehr viel Freude, endlich weiß ich, wie sehr mich mein Vater geliebt hat. Wiebke hat sich erst wieder gemeldet, als unsere Mutter starb. Ich bat sie um die Rechnung der Beerdigungskosten, die ich zur Hälfte beglich. Zur Beerdigung meiner Mutter ging ich nicht. Ich habe Wiebke nie wieder gesehen. Sie ruft nicht an und ich weiß auch nicht, ob sie noch in ihrer alten Wohnung wohnt.
Irgendwie macht mich das alles aber nicht unglücklich, im Gegenteil ich bin sehr zufrieden. Ich fühle mich heute nicht als das "andere Kind", ich weiß jetzt, dass mir durch meinen Vater sehr viel Liebe, wenn auch versteckt, zuteil wurde. Dies wird mich für den Rest meines Lebens begleiten und tragen, ich fühle mich jetzt verstanden, geliebt und gebraucht.



Eingereicht am 09. April 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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