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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Waldlauf mit Hindernissen

© Rosita Hoppe


Es war früher Nachmittag, als Sybille ihre Joggingschuhe zuschnürte.
Sie hatte einen Tag Urlaub und wollte an diesem sonnigen Tag, Ende Mai, durch den nahe gelegenen Wald joggen.
Sie liebte es, beim Laufen ihren Gedanken nachzuhängen und mit der Natur eins zu sein. Besonders jetzt, wo die Natur zu neuem Leben erwacht war und alles wieder grünte und blühte, erwachten auch Sybilles Lebensgeister.
Die letzten Monate waren nicht einfach gewesen. Die Trennung von ihrem Mann Thomas, nach nur fünf Jahren Ehe, war ihr sehr nahe gegangen. Im letzten Jahr ihrer gemeinsamen Zeit hatten sie fast nur noch gestritten und letztendlich hatte Sybille von Bekannten erfahren, dass er eine Affäre hatte. Diesen Betrug, den er zuerst nicht zugeben wollte, konnte sie ihm bis heute nicht verzeihen.
Ein paar Tage nach ihrer Aussprache war Thomas ausgezogen und Sybille hatte ihre Wohnung komplett umgestaltet. Nichts sollte mehr an Thomas erinnern. Sämtliche Räume hatte sie neu gestrichen. Die Möbel, die ihr nach der Trennung geblieben waren, hatte sie umgestellt und sich nach und nach einige neue Stücke dazugekauft.
Dies war das äußere Zeichen eines Neuanfangs.
In ihrem Innern hatte es ganz anders ausgesehen. Wut, Enttäuschung und Selbstmitleid wechselten sich ab.
An manchen Tagen genoss sie die Ruhe und Stille in ihrer Wohnung. Endlich keinen Streit mehr! Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Dann gab es Abende, an denen ihr die Decke auf den Kopf fiel. Wo sie sich nach Gesellschaft und einem guten Gespräch sehnte. Doch sie konnte ja nicht jeden Abend ihren Freunden auf den Wecker fallen. Sie hatten alle selbst Familie und etwas Besseres zu tun, als sich ständig um eine einsame, verlassene Frau zu kümmern.
In den letzten Tagen spürte Sybille etwas in sich, von dem sie geglaubt hatte, es verloren zu haben. Sie spürte einen Hunger nach Liebe und Zärtlichkeit.
Sicherlich liegt das an den Hormonen, dachte sie, während sie in Richtung Wald lief. Man sagt ja, auch die sprießen im Frühling. Sybille grinste schief und schüttelte über sich selbst den Kopf.
"Sei froh, dass du deine Ruhe hast und dir kein Mann auf die Nerven geht", hörte sie sich sagen.
Laut mit sich selbst zu reden war eine Marotte von ihr geworden, seit sie allein lebte.
Sie schlug den schmalen Waldweg ein, den sie am liebsten lief. Hier traf sie selten auf Spaziergänger oder andere Jogger. Die waren eher auf den breiteren Wegen anzutreffen.
Ihre übervorsichtige Mutter regte sich jedes Mal, wenn sie erfuhr wo Sybille lang lief, darüber auf. "Mädchen, lauf nicht immer auf so abgelegenen Wegen", pflegte sie zu sagen. "Wer soll dich finden, wenn du überfallen wirst oder schwer stürzt?"
Jedes Mal versprach Sybille ihrer Mutter das Handy mitzunehmen.
Tief sog sie den würzigen Duft ein, den der Erdboden und das frische Grün ausströmten. Der Weg führte sie tief in den Wald hinein. Sybille wusste, dass sie in etwa einem Kilometer Entfernung links abbiegen musste um in einer weiten Kurve, an einer Gaststätte vorbei, wieder zurück in den Ort zu gelangen. Insgesamt war das eine Strecke von fast acht Kilometern. Da sie mindestens zweimal in der Woche joggte und dies schon seit mehr als drei Jahren, schaffte sie den Weg ohne Verschnaufpause.
Sybille blickte nach oben, als sie den lauten Schrei eines Greifvogels hörte. Sie sah ihn hoch über den Baumwipfeln kreisen.
Da passierte es.
Sie trat auf eine Baumwurzel, die mitten über dem Weg verlief und knickte mit ihrem linken Fuß um.
"Autsch!", schrie sie. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie.
"Oh, verdammt!"
Sie ließ sich auf den Waldboden sinken und betastete ihren Knöchel. Vorsichtig versuchte sie ihren Fuß zu bewegen. Es tat höllisch weh.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie tun? Ausgerechnet heute hatte sie kein Handy dabei. Der Akku war leer.
"Oh, Mama!", stöhnte sie. "Wenn ich doch nur einmal auf dich hören würde!"
Sie wusste, dass sie hier kaum Chancen hatte gefunden zu werden. Einen Moment noch wollte sie sich ausruhen und dann vorsichtig aufstehen.
Tränen der Wut und des Schmerzes standen in ihren Augen. Sybille überlegte, ob sie ihren Schuh ausziehen sollte, um ihren Knöchel genauer untersuchen zu können. Doch sie sah auch so, als sie ihren Socken hinunter schob, dass der Knöchel bereits angeschwollen war. Wahrscheinlich würde sie nicht mehr in ihren Schuh passen, wenn sie ihn erst einmal ausgezogen hatte. Nur auf ihrem rechten Fuß stehend, rappelte sie sich auf. Langsam versuchte sie, auch ihren linken Fuß zu belasten. Ihr wurde fast schlecht vor Schmerzen und sie musste sich an einen Baum lehnen. Panik kam in ihr auf. Wie sollte sie von hier wegkommen?
Laut rief sie um Hilfe, als sie in der Ferne Hundegebell vernahm. Niemand antwortete ihr. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie versuchen, auf den breiten Weg zu gelangen, oder lieber den Rückweg antreten. Welche Strecke war die Kürzere? Es war ihr klar, dass sie nicht die ganze Strecke auf einem Bein hüpfen konnte. Als sie es versuchte, spürte sie, dass die Erschütterung die Schmerzen verstärkte. Sollte sie auf allen Vieren vorwärts kriechen?
"Noch einen Moment verschnaufen!", redete sie sich Mut zu. Sie setzte sich wieder auf den Waldboden, lehnte sich an die raue Baumrinde und schloss die Augen. Der Schmerz pochte in ihrem Knöchel. Sie saß ziemlich lange dort, hatte nicht die Kraft irgendetwas zu tun.
Plötzlich schrak sie zusammen. Träumte sie, oder hatte wirklich jemand mit ihr gesprochen? Sie öffnete die Augen. Ein junger Mann hockte sich vor sie hin. "Geht es Ihnen gut?"
Sybille schüttelte den Kopf und rieb sich den Knöchel.
"Darf ich mal sehen?"
"Ja, aber bitte vorsichtig. Ich bin umgeknickt und kann nicht mehr auftreten!"
"Sieht gar nicht gut aus", meinte er nach einer eingehenden Betrachtung. "Der Fuß ist ja mächtig angeschwollen. Vielleicht haben sie einen Bänderriss."
"Das fehlte mir noch! Wie soll ich denn jetzt von hier wegkommen?" "Ich könnte Sie tragen! Ich heiße übrigens Nicklas", stellte sich der junge Mann vor. Er sah Sybille an und ihr wurde ganz komisch zu Mute, als sie in seine Augen sah. ´Himmelblau!` dachte sie. Er sah fantastisch aus. Braungebrannt, schlank, durchtrainiert und hatte außer seinen tollen Augen einen sinnlich geschwungenen Mund.
Er ist viel zu schön für diese Welt!, durchfuhr es Sybille. Einen Augenblick lang hatte sie sogar ihre Schmerzen vergessen.
"Wollen wir es versuchen?", unterbrach er ihre Gedanken.
"Wie? Was?"
"Ob ich Sie tragen soll?"
"Wohin?"
"Entweder zu Ihnen nach Hause oder zum nächsten Parkplatz. Mein Auto steht da. Ich kann Sie ins Krankenhaus bringen."
"Ich glaube, bis zum Parkplatz ist es kürzer" überlegte Sybille. "Da ist doch auch eine Gaststätte. Von dort aus könnte ich einen Krankenwagen anfordern."
"Als Erstes müssen wir es bis dahin schaffen!" Er half ihr hoch und nahm sie einfach auf seine Arme.
"Ich bin viel zu schwer!", wehrte sich Sybille.
"Keine Angst. Wenn ich dich nicht mehr halten kann, lasse ich dich einfach ins Gras plumpsen." Er war unvermittelt ins Du gefallen und sah sie lächelnd an. "Möchtest du mir nicht deinen Namen verraten?"
"Oh, Entschuldigung! Ich bin Sybille."
"Angenehm. Sehr angenehm sogar!" Sybilles Herz klopfte unkontrolliert. Er schien sie mit Leichtigkeit tragen zu können. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Er war ihr so Nahe. Immer wieder musste sie ihn ansehen.
"Na, habe ich deine Prüfung bestanden?", holte er sie aus ihren Betrachtungen. Sybille wurde rot. Es war ihr unendlich peinlich, dass er sie dabei erwischt hatte.
"Mhm...". Mehr wollte sie nicht preisgeben.
"Ich brauche eine Pause", stöhnte er kurze Zeit später. Doch er sah gar nicht erschöpft aus. Langsam ließ er sie auf den Boden sinken. An dieser Stelle wuchs viel Moos und der Boden war angenehm weich. Er setzte sich neben sie und schob behutsam eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopfband gelöst hatte, hinter ihr Ohr.
"Du bist schön...", flüsterte er. Sybille antwortete nicht, sie sah ihn nur an. Versank in seinem intensiven Blick. Langsam kam sein Mund näher. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als er sie endlich küsste. Er zog sie an sich, küsste sie immer wieder. Sie schlang ihre Arme um ihn und erwiderte seine Küsse.
Was tue ich hier eigentlich? Liege im Wald und küsse einen fremden Mann!, schoss ihr durch den Kopf. Doch es gefiel ihr, das gestand sie sich ein. Und Nicklas gefiel ihr auch. Sehr sogar. War es Schicksal, dass sie sich den Knöchel verletzt hatte? Sonst wäre sie ihm wahrscheinlich nicht begegnet.
"Ich könnte ewig mit dir hier bleiben", meinte Nicklas, als sich seine Lippen von ihren lösten. "Aber du musst zum Arzt." Sybille seufzte auf. Schade eigentlich, dachte sie, als er aufstand und sie wieder auf seine Arme nahm. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie endlich am Parkplatz ankamen. Nicklas hatte unterwegs noch eine Pause einlegen müssen, sich aber geweigert, Sybille humpeln zu lassen.
Erschöpft ließ sie sich auf den Beifahrersitz seines Autos gleiten.
"Sollen wir nicht doch einen Krankenwagen benachrichtigen", überlegte Sybille mit schmerzverzerrtem Gesicht. Nicklas begutachtete noch einmal ihren Knöchel und war dann auch der Meinung, dass ein Krankenwagen das beste Transportmittel wäre. Während der gemeinsamen Wartezeit unterhielten sie sich über das Joggen und was sie sonst noch so alles in ihrer Freizeit unternahmen.
Kurz bevor Sybille dann in den Krankenwagen verfrachtet wurde, tauschten sie Adressen und Telefonnummern aus.
"Ich muss unbedingt wissen, was mit dir los ist. Darf ich dich morgen anrufen?" Sybille nickte und freute sich schon darauf.
Es war tatsächlich ein zweifacher Bänderriss, den der behandelnde Arzt in der Notaufnahme diagnostizierte. Sybille bekam erst einmal einen Liegegips für eine Woche und ein paar Krücken, damit sie sich fortbewegen konnte. Ein Krankentransport brachte sie zwei Stunden später nach Hause. Zum Glück hatte sie einige Schmerztabletten mitbekommen, denn jetzt, nach der Untersuchung und dem Gips, tat ihr Knöchel höllisch weh. Sie nahm gleich zwei Tabletten und wollte es sich gerade mühsam auf dem Sofa bequem machen, als das Telefon klingelte. "Ich bin´s, Nicklas. Wie geht es dir?"
"Frag lieber nicht. Es tut verdammt weh."
"Kann ich irgendetwas für dich tun?"
"Mhm...,das wäre schön!"
"Dann öffne doch einfach deine Tür, wenn du es schaffst, bis dahin zu humpeln."
"Wieso?"
"Tu es einfach!"
Es dauerte ziemlich lange, bis Sybille mit zusammen gebissenen Zähnen die Tür öffnete. Da stand er. Ihr Retter, mit einem bunten Frühlingsstrauß und einem unwiderstehlichen Lächeln.
"Darf ich reinkommen?"
"Natürlich!" Sybille konnte es nicht fassen, als er sie einfach auf seine Arme nahm, die Blumen noch in der Hand. Die Krücken fielen auf den Boden. Er schloss die Eingangstür mit einem Fußtritt und ihre Lippen mit einem langen zärtlichen Kuss. Dann trug er sie zur Couch und bettete sie wie eine Schwerkranke.
"Du schaffst das nicht allein hier in der Wohnung, solange du auf Krücken gehst. Darf ich dich pflegen?"
"Du willst mich pflegen? Eigentlich keine schlechte Idee. Wie lange kannst du bleiben?" Sybille sah ihn herausfordernd an. "Wenn er jetzt nur die richtige Antwort gibt!", schickte Sybille ein Stoßgebet zum Himmel.
"Wie lange darf ich denn?" Und flüsternd fügte er hinzu: "Du bist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seit wir uns begegnet sind."
"Vielleicht benötige ich heute Nacht Hilfe. Vielleicht auch die nächsten Tage und Nächte. Vielleicht auch noch länger...", hauchte sie, bevor Nicklas sie in seine Arme nahm und leidenschaftlich küsste.



Eingereicht am 08. April 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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