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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Die Reise

© Andreas Kindling


Du weißt nicht mehr seit wann du es hast und woher es kam, aber irgendwann war es einfach da. Dieses Gefühl, dass etwas fehlt, welches du dort, wo du bist, nicht bekommen kannst.
Dieses Gefühl ist eine Fahrkarte welche du plötzlich in deiner Jackentasche hattest. Sie ist auf deinen Namen ausgestellt, aber es fehlte jede Angabe über Ziel und Abfahrtszeit.
Du machst dich auf die Suche nach dem Bahnhof. Viele fragst du nach dem Weg, jedoch gibt dir jeder eine andere Auskunft. Welcher Wegbeschreibung du auch folgst, keine führt dich an dein Ziel. Du beschließt alle Hinweise zu vergessen und einfach deinen Füßen zu folgen und als du den Kopf hebst, stehst du mitten in der Bahnhofshalle.
Hier herrscht ein buntes Treiben. Es ist laut und es gibt viel zu sehen. Eilig dahinhastende Reisende oder Leute die gelangweilt warten. Es gibt flüchtige und scheue, aber auch neugierige und interessierte Blicke.
Nun stehst du auf dem Bahnsteig und wartest sehnsuchtsvoll auf deinen Zug. Du hast keine Ahnung wie er aussehen wird, oder wohin er fährt. Du stehst da mit deiner Fahrkarte in der Hand und wartest.
Die Jahre vergehen. Du hast sie nicht gezählt.
Im Laufe der Zeit kommst du mit vielen der anderen Reisenden ins Gespräch. Jeder wartet auf seinen Zug. Ihr vergleicht eure Fahrkarten, mutmaßt über Ausstattung und Ziele eurer Züge. Ihr erlebt manche schöne Stunde. Es wird gefeiert, gelacht und getanzt, aber auch gestritten und geweint. Du vergisst die Zeit. Die Tage gleichen einander.
Und plötzlich ist er da. Langsam rollt er auf deinem Gleis ein und bleibt genau vor dir stehen.
Was für ein Zug!! Er ist einfach phantastisch.
Du hast schon nicht mehr damit gerechnet, dass er überhaupt noch kommt. Ja, nicht geglaubt, dass es ihn überhaupt gibt. Erst kannst du es nicht fassen, aber dann begreifst du es ist Wirklichkeit. Du bist begeistert und glücklich und zeigst jedem der anderen Wartenden deinen Zug.
Du bist so stolz, so ein toller Zug. Du feierst Abschied und alle freuen sich mit dir.
Aber du steigst nicht ein.
Obwohl der Zug absolut leer ist, er ist nur für dich bestimmt und du kannst jeden Platz frei wählen vom Stehplatz bis zur ersten Klasse alle Abteile stehen dir zur Verfügung.
Es ist dein Zug!
Aber du steigst nicht ein, und je länger du den Zug betrachtest um so mehr fällt dir der Unterschied zu den Zügen, der anderen wartenden Reisenden, auf.
Du wirst misstrauisch und denkst, vielleicht ist es doch nicht mein Zug. Vielleicht ist er gar nicht echt. Du fängst an ihn zu testen, an ihm zu kratzen, daran herum zu klopfen. Du schonst ihn nicht und unterziehst ihn einer harten Prüfung. Er reagiert nicht, irgendwann verlierst du die Lust, es ist anstrengend und führt zu nichts.
Das Leben auf dem Bahnsteig lockt mit Genuss, Party und Spaß. Du siehst in die grauen Gesichter deiner grauen Bahnhofsfreunde auf dem grauen Bahnsteig.
Du hast gar nicht gemerkt, dass du deine Fahrkarte nicht mehr hast. Du hast sie wohl in all den Jahren des Wartens verloren. Oder dir einen Joint daraus gedreht. Du weißt es nicht mehr.
Und was ist das eigentlich für ein Zug?
Er passt hier überhaupt nicht her.
Er stört!!
Da fängst du an ihn mit deinen Bahnhofsfreunden kaputt zu machen, ihr nehmt ihn auseinander bis er endlich losfährt. Der Zug braust los als müsste er flüchten oder als hätte er seine Verspätung bemerkt und will sie wieder aufholen.
Ihr treibt ihn, unter lautem Gejohle, regelrecht aus dem Bahnhof.
Der kommt bestimmt nicht wieder! Das ist ein Grund zum Feiern, schon werden die ersten Flaschen entkorkt und ... dann schreckst du hoch. Du siehst dich um. Du bist zu Hause, sitzt in deinem Sessel und warst eingenickt. Alles war nur ein Traum. Du bist erleichtert. Es ist alles in Ordnung.
Gedankenverloren siehst du aus dem Fenster, als du in deine Tasche greifst und nach deinen Zigaretten suchst, hältst du plötzlich eine vergilbte Fahrkarte in der Hand.
Sie ist auf deinen Namen ausgestellt!!



Eingereicht am 06. April 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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