Schokolade
© Grete Ruile
Annette war ein fröhliches, neugieriges und aufgewecktes Kind. Mit ihren großen braunen Augen, war das kleine zierliche Mädchen ständig auf der Suche, etwas Interessantes zu entdecken. Ihr zartes Haar, das zu zwei kurzen Zöpfen geflochten war, unterstrich ihre Pausbäckchen. Annette ging schon in die zweite Klasse. Heute hatte sie nach dem Schulunterricht noch Reli, wie sie immer sagte. Das hieß: Freiwilliger Religionsunterricht. Die Klassenlehrerin hatte diese Aufgabe mit Freude übernommen. Sie erzählte den
Kindern hübsche Geschichten und sang Lieder mit ihnen. Annette kam danach stets vergnügt nach Hause.
An jenem Tag war sie anders. Sie setzte sich ernst und in Gedanken versunken an den Tisch und seufzte und seufzte. "Ich möchte am liebsten sterben", brach es aus ihr hervor. So hatte ich unsere Tochter noch nie erlebt. Ich fragte sie also, warum sie am liebsten sterben wolle. "Das sag ich dir nicht", war ihre Antwort. Mehr konnte ich trotz allem Nachdruck nicht erfahren. Die Sache beunruhigte mich. Meine Gedanken drehten sich wie wild im Kreise. Mache ich etwas verkehrt? Ich kam zu keinem
Ergebnis. Elda wollte ich um Rat fragen. Elda wohnte vis-a-vis auf derselben Etage. Sie hatte zwei Kinder, Lilli, die in Annettes Klasse ist, und Yvonne die zwei Jahre Ältere. Die Kinder gingen ein und aus in beiden Wohnungen und fühlten sich zuhause. Ich berichtete Elda von Annettes beängstigendem Ausspruch. Elda horchte auf. "Oh, wie gut, dass du kommst! Stell dir vor, meine Lilli möchte auch sterben. Vor lauter Entsetzen konnte ich nicht darüber sprechen. Nun bekomme ich wieder Mut. Ich werde versuchen,
der Sache auf den Grund zu kommen und mit Lilli sprechen. Wenn ich mehr weiß, gebe ich dir sofort Bescheid!" Am Abend klingelte Elda. Mit viel Diplomatie hatte sie des Rätsels Lösung gefunden. Die Klassenlehrerin war krank geworden. Damit der Religionsunterricht nicht ausfallen musste, hatte man kurzfristig, eine betagte Frau gebeten, auszuhelfen. Die Frau setzte sich auch für die Sonntagsschule ein. In jener Stunde sprach sie mit den Kindern über das Sterben. "Ihr müsst euch nicht fürchten vor dem
Sterben, man kommt dabei in den Himmel. Der Himmel ist wunderbar, da gibt es alles was man haben will!" Annette hatte sie sofort gefragt, ob man dort auch Schokolade bekäme. "Aber natürlich!", hatte die Aushilfe geantwortet, "Berge von Schokolade!" Lilli fragte nach ihren geliebten Coci-Fröschchen und den bunten Gummibärchen, die sie manchmal am Kiosk kaufen durfte. Auch die könne Lilli dort haben, sagte die Frau. In Erwartung solch Paradiesischer Zustände dachten unsere Kinder also ans
Sterben, gab es doch zuhause nur ab und zu die verlockenden Süßigkeiten.
Eingereicht am 08. Februar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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