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Schätzchen

© Sarah Tichy


Sie sitzt eingefallen auf dem blauen Sofa im Wohnzimmer. Das Gesicht ist mit Schminke verschmiert, ihr Körper zittert. Ihre schwarzen langen Haare sind strähnig und fettig. Sie knabbert an den heruntergekauten Fingernägeln und beißt den weißen Lack ab. In der linken Hand hält sie einen offiziell aussehenden Brief. Sie guckt ihn hasserfüllt und gleichzeitig erwartungsvoll an. Sie dreht ihn immer wieder um, legt ihn auf den kleinen Tisch vor sich, nimmt ihn wieder in ihre kalten Hände, will ihn aufmachen, überlegt es sich doch anders.
Genervt steht sie auf, schmeißt den großen, weißen Umschlag in eine Ecke, nimmt ihre Jacke und ihre Schlüssel und rennt raus. Sie läuft die Treppen hinunter, aus der Haustür, die Straße rauf. Vorbei an lachenden Gesichtern, an verliebten jungen Paaren, an älteren Menschen, an Kindern. Sie schluckt.
Warum?? Warum sie?? Warum gerade sie und nicht jemand anderes?? Was hat sie getan, um dies zu verdienen??
Ruckartig bleibt sie stehen, dreht sich um; sie hält es nicht mehr aus, so viel Angst sie auch hat, sie muss wissen, ob die Antwort positiv oder negativ ist. Zwei Stunden nachdem der Brief angekommen ist... Obwohl sie es doch schon weiß... Keuchend kommt sie wieder zu Hause an und rennt ins Wohnzimmer, um den Brief zu öffnen. Doch als sie ihn wieder in den Händen hält, zweifelt sie. Du willst es gar nicht wissen, du hast Angst. Sie nimmt dreimal tief Luft und macht ihn endlich auf.
"Es tut uns Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Verdacht auf HIV sich bestätigt hat...."
Sie starrt auf dieses weiße Blatt Papier, kann es nicht fassen, obwohl sie es schon gewusst hatte. Sie kann es sich nicht begreifen.
Warum?? Was hab ich getan? Warum ich und nicht jemand anderes?
Und plötzlich kommt alles aus ihr heraus; die Angst der letzten Tage, der Stress, aber auch der Hass auf ihren Freund. Und vor allem: die Angst vor der Zukunft.
Was soll ich denn jetzt machen?? Was soll jetzt werden? Was soll ich Mama sagen? Was Papa? Die wissen ja noch nicht mal, dass ich je schon mal mit einem Jungen geschlafen habe... Dieses verdammte Arschloch...
Sie lässt sich auf das blaue Sofa fallen und zerreißt dabei den Brief. Fast eine halbe Stunde bleibt sie so liegen. Reglos, blass, ohne Mimik.
Eigentlich sollte sie den Aufsatz in Deutsch zu Ende schreiben. Noch ein paar Vokabeln in Französisch lernen. Zum Basketball-Training gehen. Doch sie schafft es nicht.
Und wenn schon? Es bringt doch nichts. Aber ich wollte doch noch so viel machen, nach Afrika reisen, Architektur studieren, Japanisch lernen...
Und in 10 Jahren da bin ich schon...
Sie kann den Gedanken nicht zu Ende denken. Das Telefon klingelt. Sie erschrickt, springt auf und rennt in die Küche. Vielleicht war das alles ein Irrtum. Vielleicht haben sie die Testergebnisse vertauscht. Vielleicht haben sie die falsche Adresse auf den Brief geschrieben. "Ja?", ihre Stimme klingt leise, ängstlich, sie zittert. "Schätzchen? Bist du das? Stör ich dich? Ich wollte dich nur wegen Weihnachten fragen. Willst du einen blauen oder grünen Schal? Weißt du, Jeannette wollte den grünen und jetzt weiß ich nicht, ob du damit einverstanden bist.... Schätzchen??" "Oma, es ist mir egal. Sorry, aber ich kann jetzt nicht, ich ruf dich später wieder an." "Was ist denn los? Bist du krank?? Schätzc...." Sie hängt auf. Sie kann die fröhliche, putzmuntere Stimme ihrer Großmutter nicht ertragen.
Krank... ach Oma, wenn du nur wüsstest! Sehr viel mehr als krank! Todkrank!
Ich wird dich vermissen...ich halt das nicht aus!!!
Und wieder bricht sie in Tränen aus und lässt sich auf ihr geliebtes blaue Sofa fallen.
Genau hier passierte es. Vor etwa 3 Monaten. Alles hatte so schön angefangen. Der Junge aus der Parallelklasse, groß, blonde Haare, beliebt, umschwärmt. Vor etwa 7 Monaten fragte er sie, ob sie sich nicht mal sehen könnten. Im Kino, oder im B5, ihrem Lieblingsclub. Damals konnte sie es nicht fassen. Er fragte SIE nach einem Date. Hals über Kopf sagte sie ja und war zum ersten Mal verliebt. Und beliebt! Es waren die schönsten Monate ihres Lebens. Sie sahen sich jeden Tag, morgens in der Schule, nachmittags beim Basketball-Training, abends im B5 oder sonst wo. Sie lebte wie im Himmel. Sogar ihre Eltern mochten ihn, fanden ihn "nett" und "sympathisch".
Oft waren sie bei ihr zu Hause, auf ihrem blauen Sofa, das sie schon seit ihrer Kindheit besaß. Ach, wenn sie nur gewusst hätte, was ihr hier Schreckliches widerfahren würde. Sie war so verliebt gewesen, dass sie damals im September nicht nein gesagt hatte, als er mit ihr schlafen wollte.
Sie tat es einfach. Glaubte, es tun zu müssen, weil er sie sonst verlassen würde. Und jetzt war er sowieso weg....
Danach waren sie noch viel mehr verliebt gewesen, sprachen sogar vom Zusammenziehen.
Doch vor etwa 2 Wochen war er plötzlich verschwunden. Einfach so. Keine Spur von ihm, nicht bei seinen Eltern, seinen Freunden und auch sie wusste nichts. Dann, nach ein paar durchgeheulten Nächten, kam ein Brief von ihm.
"Hey Süße!" stand drin, und dass ihm alles wahnsinnig leid täte und so weiter. Er würde nie wieder kommen, er würde in Zürich bleiben, bei seiner großen Schwester, warum, sagte er nicht. Nur, dass sie einen AIDS-Test machen solle. "Es kann sein, dass ich dich angesteckt habe .... aber wahrscheinlich ist es nicht!" schrieb er weiter.
Diese verdammte Arschloch, warum tut er mir das an? Dieser Feigling... Warum hat er nicht eher etwas gesagt? Ich hasse ihn so dafür... Warum war ich so dumm und hab mich auf ihn eingelassen??
Sie ballt ihre Hände zu Fäusten, als sie jetzt daran denken muss. Einfach so weg. Natürlich war sie gleich zum Arzt gegangen, widerwillig; ihre Freundin hatte sie dazu gedrängt, "Es ist besser, wenn du weißt, ob du's bist oder nicht!" Aber sie wusste es doch schon...
Sie springt auf, rennt in ihr Zimmer und sucht wie verrückt nach dem Brief.
Sie findet ihn zwischen ihrem Matheheft und ihrer Glamour. Sie geht langsam, fast ängstlich ins Wohnzimmer zurück und nimmt ein Feuerzeug. Langsam macht sie es an, hält es an den Brief und sieht zu, wie die Flammen das Papier auffressen. Und plötzlich wünscht sie sich, dass sie auch verbrannt wird, aufgefressen von den Flammen. Ihre Seele brannte doch schon, vor Schmerz, Hass, Angst. Alles ist besser, als diesen wahnsinnig großen Schmerz auszuhalten. Wieder kommen ihr die Tränen und die Frage nach dem Warum in den Sinn.
Warum musste es gerade sie treffen? Es gibt doch noch so viele andere Menschen auf der Welt, wieso ist sie die, die es getroffen hat??
Sie merkt, dass sie Hunger hat und würde gerne aufstehen, sich einen Apfel holen und essen. Doch warum soll sie es tun? Es bringt nichts mehr und wird nichts mehr bringen. Sie bleibt wie gelähmt auf dem Sofa sitzen. Denkt an ihre nichts ahnenden Eltern, ihren kleinen Bruder, ihre Schwester, ihre Freundinnen in der Schule, ihre Oma, an alles, was sie gerne gemacht hatte, sogar an ihre verhasste Deutschlehrerin.
Sie steht auf, geht ins Bad und holt tief Luft, bevor sie sich traut in den Spiegel zu gucken. Ihr Gesicht ist aufgequollen, ihre Schminke verwischt, ihre Haare zerzaust, bei ihrem trostlosen, elenden Anblick heult sie wieder.
Sie blickt sich an und verspürt gleichzeitig eine wahnsinnige Wut auf sich, auf das, was sie getan hatte und wozu es geführt hatte.
Du hast doch selbst daran schuld, warum hast du auch nur mit ihm geschlafen?
Du, du ganz allein bist schuld.
"Du allein!", sie schreit es regelrecht dem Spiegel entgegen und schlägt ohne zu Überlegen den Spiegel ein. Sie verspürt zwar den Schmerz in ihrer Hand, doch es ist nichts gegen ihre brennende Seele. Aber trotzdem guckt sie ungläubig auf ihre blutende Hand, den zerbrochenen Spiegel und die Scherben auf den kalten Kacheln.
Fast 10 Minuten lang steht sie so da, wieder reglos, blass, ohne Mimik. Und dann fängt sie wie programmiert an, die Scherben aufzuheben, den Boden zu putzen, die Spiegelreste zu beseitigen und ihre Hand zu verbinden.
Doch es lenkt sie ab. Und das ist das Wichtigste. Nachdem das Badezimmer wieder normal aussieht, geht sie wieder in das Wohnzimmer, um sich auf ihr Sofa zu setzen. Doch als sie das blaue, weiche Etwas sieht, zögert sie.
Ich kann das nicht, hier hab ich mit ihm... aber ich hab es doch so geliebt.
Das Sofa hatte sie zum siebten Geburtstag bekommen und seitdem stand sie es im Wohnzimmer, weil sie damals gedacht hatte, dass sie es mit ihrer ganzen Familie teilen möchte. Und es war ihr Lieblingsplatz im Haus gewesen bis heute. Sie guckt ihr bis dahin geliebtes Sofa mit Hass an. Und ohne zu Überlegen, schmeißt sie sich auf das blaue Sofa, benutzt Hände und Zähne, um es zu zerstören. Sie tobt sich aus und lässt ihre ganzen Gefühle am Sofa aus. Nach 10 Minuten ist sie außer Atem und völlig ruhig. Sie hat nicht nur das Sofa zerstört, sondern hat auch das Gefühl, ihn aus ihrem Leben endgültig verband zu haben.
Sie sitzt auf dem Boden, keuchend, schluckend, weinend und doch irgendwie erleichtert. Es gibt das blaue Sofa nicht mehr. Und doch ist ihr bewusst, dass sie noch immer HIV-positiv ist. Die Krankheit, die gibt es noch. Doch ihre Wut auf ihn ist verschwunden, was bleibt, ist die Angst vor der Zukunft und die Frage nach dem Warum.
Sie fühlt sich dreckig, schuldig und sie ekelt sich vor sich selbst, nach allem, was sie eben getan hat und in den letzten Monaten getan hatte. Sie geht wieder ins Bad, lässt sich ein Schaumbad ein und legt sich mit Klamotten ins warme Wasser. Es tut gut, die Wärme auf der Haut zu spüren und für eine Weile stellt sie sich vor, ihre Oma würde sie in den Armen halten und schon hört sie ihre Stimme: "Schätzchen! Ach Schätzchen, es tut mir so leid, aber wir schaffen das schon, du bist stark und ich auch, wir schaffen das...!" Sie schließt die Augen und genießt ihren Tagtraum.
Lange Zeit liegt sie so, bis sie die Augen öffnet und sich im Badezimmer umguckt. Ihr Blick fällt auf den Fön und gleichzeitig schießen ihr verschiedene Fragen im Kopf herum.
Warum sie? Was sollte jetzt werden?? Und hatte ihr Leben noch einen Sinn??
Sie hat auf keine dieser Fragen eine Antwort und ihr Blick haftet noch immer auf dem Fön. Sie steht auf, nimmt ihn in die Hand, guckt ihn ungläubig an, als er wirklich angeht. Im gleichen Augenblick hört sie die Türklingel und eine schrille Stimme "Schätzchen! Bist du da? Ich bring dir den blauen Schal! Mach auf, bitte! Schätzchen!!...."
Sie schließt die Augen und lässt den Fön los.



Eingereicht am 19. März 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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