Der Seemann und das Glück
© Elisa Stein
Oskar machte große Augen. Der Seemann hatte ein rot-weiß kariertes Stoffrestchen aus der Hosentasche gezogen und hielt es dem Jungen vor die Nase. "Das da", sagte er, "ist mein altes Taschentuch. Ich hab es überall mit hingenommen, ich habe mein Geld darin versteckt, meine Pfeife damit geputzt, den Frauen ein Höschen gebaut und einmal habe ich die ganze Nacht lang so sehr hineingerotzt, dass es ein gewaltiges Loch in der Mitte bekommen hat." Er grinste belustigt. Oskar sah das Taschentuch,
das nur gar nicht mehr aussah wie ein Taschentuch, nachdenklich an. Langsam strich er sich durchs rote Haar und rümpfte leicht die Nase, sodass ein paar Sommersprossen auf dieser in drei tiefe Falten gerieten und nahezu verzweifelt um Licht rangen. "Und weißt du, was ich auch noch damit mache?", fragte der Seemann. Oskar schüttelte den Kopf. "Ich fange Sterne", sagte der Seemann. Oskar lächelte breit und grabschte mit beiden Händen nach dem Taschentuch. "Oh, nein, nein, jetzt sind grad
keine drin", lachte der Seemann und nahm ihn auf den Schoß. "Sie sind raus gefallen, durch das Loch, du weißt schon." Als er das enttäuschte Gesicht des Jungen sah, wurde ihm ganz verdrießlich ums Herz. Er schaute aus dem Fenster. Die Nacht war mit Wolken verhangen und grau und überhaupt nicht geeignet zum Sternefangen. "Ich würde ja gerne ein paar für dich sammeln, aber ich denk nicht, dass wir welche finden werden." Oskar schniefte. Er hätte so gerne ein paar Sterne gehabt. Die waren
so klein und glitzerten so schön. Und außerdem hatte er noch nie einen in der Hand gehalten.
"Nun guck mal nicht so." Der Seemann wuschelte dem Jungen durchs Haar. Nachdenklich sah er sich in der Kajüte um. Irgendwo musste er noch ein paar haben, er hatte früher doch so viele gesammelt! Missmutig brummelnd setzte er den Knirps auf den Hocker und humpelte zu seinem alten Schrank. "Hier muss sie irgendwo sein...", nuschelte er und warf ein paar alte Bücher auf den Boden, worauf sich eine gewaltige Staubwolke erhob und der Junge unwillkürlich niesen musste. Traurig sackte er in sich
zusammen. Wenn er wüsste, wie man seine Beine bewegt, könnte er dem Seemann helfen und unter die Eckbank krabbeln, unter der der Seemann soviel Krimskrams gehortet hatte. Aber Oskar war in seiner Entwicklung ein paar Jahre zurückgeblieben, vor allem beim Laufen, und wusste meist nicht einmal, wie er sich auf den Beinen halten konnte. Meist saß er irgendwo auf einem Hocker und schaute dem Seemann mit großen, verwunderten Augen beim Steuern zu oder beim Kochen oder Kohlenschaufeln. Und abends setzten sich die beiden
auf die gemütliche Eckbank in der Kajüte und der Seemann las Oskar so viele lange Geschichten vor bis dem Jungen der Kopf zu schwer wurde und er ihn auf die breiten Schultern des Seemanns sinken ließ und einschlief. Dann trug ihn der Seemann zu seinem Bettchen, deckte ihn mit der kratzigen Filzdecke zu und schlief selbst neben ihm ein. Oskar war ein schweigsames Kind. Er schwieg nicht, weil er unglücklich war oder krank, nur stand er den meisten Dingen sehr verwundert gegenüber. Er wunderte sich viel. Die ganze
Welt um das Schiff herum war voller unfassbarer Dinge, voller Sterne, voller Blau und so voll von glitzernden und funkelnden Sonnenstrahlen und so lebendigen Düften, dass er einfach nicht die Worte fand, die er gerne wollte.
"Hah!", rief der Seemann da auf einmal und Oskar schreckte aus seinen Gedankengängen auf. "Ich wusste, dass ich sie nicht verloren hatte, ich wusste es!" Der Seemann saß breitbeinig zwischen einem majestätischen Haufen aus Kerzenleuchtern, Büchern, Bildern, Rahmen, Holzstücken, Puppengeschirr und all dem anderen Schnickschnack, der sich in den Jahren eben so angesammelt hatte. In der Hand hielt er eine kleine hölzerne Schatulle, auf der mit oranger und roter Farbe eine lachende Sonne gemalt
war. Die Farbe war schon rissig und teilweise abgeblättert, aber Oskar sah sehr gut, dass es eine Sonne war. Sie hatte große, schwarze und freundliche Augen und ein zurückhaltendes aber sehr vergnügtes Lächeln auf den Lippen und Oskar war fast ein wenig verliebt in sie. Er liebte die Sonne. Sie lachte immer, und sie lachte wirklich, nicht nur so, wie man es so sagt, ihm war, als würde sie ihm wirklich zulachen wenn er auf dem Deck des Schiffes saß und sie an sah und für sie sang.
Der Seemann glitt liebevoll mit der Hand über den Deckel der Schatulle und pustete ein wenig Staub von ihr. "Du wirst dich wundern, Oskar, du wirst dich wundern." "Was ist es?", fragte Oskar. Der Seemann stellte die Schatulle vor dem Jungen auf den Tisch und setzte sich feierlich neben ihn. "Da", sagte er und tippte mit dem Finger auf den Deckel des Kästchens, "da ist das Glück drin." Oskar schaute ihn erstaunt an. "Das Glück?", fragte er. "Ja", sagte
der Seemann, "Sterne, Sonnenstrahlen, ein frischer Frühlingswind aus Norwegen und ein bisschen Glück."
Oskar fasste vorsichtig an den Riegel der Schatulle, der sie verschloss. Zaghaft schob er ihn zurück und klappte behutsam den Deckel auf. Oskar machte große Augen. "Sterne", flüsterte er, "Sterne, Sonnenstrahlen, ein frischer Frühlingswind aus Norwegen und..." - "...und ein bisschen Glück", sagte der Seemann und lächelte bedeutsam.
Eingereicht am 18. März 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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