Rotweingedanken
© Edith Handelsmann
Ich bin kein Genie! Ich bin eine Trinkerin, die im Rotweinglas nach Antworten auf das Leben sucht. Ich bin keine Alkoholikerin. Ein Alkoholiker trinkt alles, notfalls auch Klosterfrau Melissengeist. Ich habe Stil beim Saufen: Ich trinke nur Rotwein! Sage ich jedenfalls immer. Natürlich bin ich gesellschaftlich gesehen kein Blindgänger und trinke beim Lieblingsgriechen den traditionellen Ouzo - hin und wieder auch zwei oder mehr.
Wieso spreche ich eigentlich vom Trinken? Ist Alkohol so wichtig, um zu schreiben? Ist Alkohol der Antrieb zur Kreativität? Haben nicht alle Genies irgendwie gesoffen? Hemingway, liebster Ernest - verzeih, war ein Quartalssäufer der harten Sorte. Bukowski - wie ich diesen versauten Säufer Charles verehre - lebte seine Welt im Suff, schrieb davon und hat letztendlich doch noch Millionen damit gescheffelt. Ich frage mich heute noch, ob er nach dem doch recht kommerziellen Erfolg die Biermarke gewechselt hat oder
bis zum tragischen Ende Billigdosen zur Tonne geschleppt hat. Jedenfalls brauchte er keinen Pfand mehr dafür zu bezahlen.
"Bin betrunken und schreibe Gedichte um 3 Uhr morgens" (aus Verrückt wie eh und je) ... so könnte ich jedes Gedicht beginnen, wenn ich wollte. Aber das hat "Buk" bereits gemacht und ich klaue nicht. Nicht bei ihm! Ich bin ich und ich trinke kein Bier. Rotwein!
Ich bin kein Genie. Ich habe auch nie als Tankwart gearbeitet oder mich mit einer Jugendbande in den Straßen amerikanischer Slums rumgetrieben. Der amerikanische Traum vom Tellerwäscher bis zum Millionär lässt sich in Deutschland nur in der Fantasie leben. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass ich als Mädchen geboren bin und zur Frau erzogen wurde. Frauen waschen zwar Teller, werden aber selten Millionär. Schon gar nicht in der eigenen Küche. Tankwarte sind sowieso out, und als es sie noch gab, waren
sie männlicher Struktur. Einen Job als Postbote bei der Deutschen Bundespost zu kriegen ist ebenso schwer, wie eine Audienz beim Papst abzugraben. Kein Lebensbericht weit und breit á la Bukowski.
Also trinke ich Rotwein und suche hartnäckig nach den richtigen Antworten. Manchmal hinterlässt das Getränk Reste auf dem Glasboden. Die stiere ich an, rühr darin herum und suche wie im Kaffeesatz nach meiner Zukunft. Manchmal hinterlässt das Getränk auch Kopfschmerzen, dann suche ich nach einer Schmerztablette und lasse die Welt da draußen allein schlecht sein. Ohne mich - der Tag ist dann gelaufen!
Manchmal aber hinterlässt das Getränk gute Worte auf dem Papier. Gedanken, gedacht, nicht gesagt, geschrieben. Suche. Das ist das Thema. Suche. Ist es vielleicht doch das, was einen guten Schreiber ausmacht? Die Suche. Die elendige Suche nach Worten. Nach der Wahrheit. Die Suche nach dem Erfolg?
Ich bin kein Genie! Genies schreiben Bestseller. Trinker weniger. Menschen, die trinken, sind isoliert. Jedenfalls die, die nicht nächtelang in Kneipen rumsitzen. Ich bin eine isolierte Trinkerin. Will meine Ruhe haben. Allein sein. Ohne Zuschauer und Zuhörer. Ohne Beobachter und vor allem ohne Moralapostel.
Tagsüber war ich
bei ihm und trank
und abends ging ich
zurück in meine Wohnung
und trank weiter
und tippte.
(aus Zwei Trinker)
Charles hatte es gut, er hatte seinen Kumpel Eddie. Eddie malte, Buk schrieb und beide soffen. Kein Apostel weit und breit. Bis Eddie verschwand. Dann musste Bukowski wieder allein saufen und schreiben.
Ich schenke mir noch ein Glas ein. Muss heute Lambrusco trinken, den ich so sehr verabscheue, weil die Kohlensäure Sodbrennen verursacht. Ist von der letzten Party übrig geblieben. Sie mochten ihn wohl auch nicht, obwohl sie ihn mitgebracht haben. Was soll es, ist Rotwein oder zumindest so etwas Ähnliches. Später kriege ich wieder
einen leckeren Tropfen. Und dann kommen vielleicht auch die leckeren, guten Worte ins Hirn, durch die Finger auf das Blatt. Abwarten. Abwarten und Suchen.
Die Suche beginnt schon morgens. Wo ist der Tag? Wo ist der Tag, der gut zu werden verspricht? Jeden Tag habe ich den gleichen Tag: Den sinnlosen Tag. Bin froh, wenn er vorüber ist und langsam in die Rotwein-Trink-Nachtzeit umschwenkt. Bin froh, wenn ich allein mit meinen Freunden Rotweinglas, Zigaretten und Aschenbecher vor der Tastatur hocke. Dann beginnt eine neue Suche. Die Suche nach Worten, nach dem Sinn, nach der Antwort. Das abgeklatschte "Wer suchet, der findet!" verhöhnt mich schon beim Denken
daran.
Ich habe ein Wort gefunden: Weltschmerz. Genau das habe ich gerade gedacht. Kranke ich an einem unüberwindbaren Weltschmerz? Nein. Ich kranke daran, dass ich ich bin. Wer ist "ich"? Wer ist diese Frau, die über all ihre Suche älter geworden ist und es dennoch nicht zulässt, ihre Worte und ihre Träume zu verlieren? Ich bin außen alt, innen verzweifelt auf dem für mich falschen Weg. Bin mit nichts zufrieden, schon gar nicht mit dem Leben. Mit meinem Leben. Frage mich immer wieder, ob ich den richtigen
Zeitpunkt verpasst habe. Wann ist der richtige Zeitpunkt?
Schenke mir ein Glas ein. Dieses mal "richtigen" Rotwein. Außerhalb meines Zimmers scheint die Sonne. Es ist heiß. Drinnen ist es ein wenig kühler, aber der Rotwein macht meinen Körper heiß. Stecke mir eine Zigarette an. Rauche langsam, nicht hastig, wie die Trinker auf der Straße, wenn sie eine "Fluppe" geschnorrt haben. Unterscheide ich mich wesentlich von den so abfällig genannten "denen"?
Sie sind auch keine Genies. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Ich bin auch kein Genie. Sie sind Säufer, ich auch. Sie sind Alkoholiker - ich nicht! Meine Selbsteinschätzung hat ihre Macken, ich weiß! Wir sind uns nicht unähnlich. Vielleicht schnorrt ein großer Poet eine Zigarette von einem Anzugträger, der offensichtlich zu den Findern dieses Systems gehört. Vielleicht ist der deutsche Bukowski ja auch derjenige, der morgens um neun Uhr bei Penny an der Kasse steht und sich mit Bierdosen und losen Sohlen aus dem Haus
stiehlt. Vielleicht ... vielleicht!
Suche. Suche und Finden. Nichts finden und nichts Neues suchen. Endstation? Ich trinke. Trinke meinen geliebten Rotwein. Rauche. Finde Worte. Wenige zwar, aber immerhin. Habe gefunden. Trost. Trinke, rauche, schreibe ... lebe!
Eingereicht am 10. März 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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