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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Ein Tag ein Niemand

© Stefan Tillmann


Oliver kennt den Alltag ziemlich gut, seinen treuen Wegbegleiter. Jeden Morgen drängelt sich sein grauer Freund durch die Jalousien in sein Leben und mischt sich mit dem Nachtgeruch, mal hell mal weniger. Manchmal fragt sich Oliver, ob viele Menschen wie er in sich hinein lachen, wenn morgens der Regen seine Tropfen ans Fenster wirft. Die meisten Menschen bekommen dann doch schlechte Laune und man muss sich nicht den ganzen Tag mit sonnenangetriebenen, gutgelaunten Menschen herumschlagen.
Wie lange das jetzt schon so geht mit ihm und dem Alltag, das weiß Oliver nicht genau. Lange jedenfalls. Schon in der achten Klasse ging es los, als alles andere losgehen sollte: Als alles möglich war, die Brüste der Mädchen wuchsen, die Klassenavantgardisten erste Partyeinladungen rumreichten, manche heimlich Alkohol tranken, doch in Olivers Leben einfach nichts geschah. Das ist lange her. So lange, dass sich hin und wieder Nostalgie in Olivers Erinnerungen mischt, die alles halb so wild erscheinen lässt. Tatsächlich hat er sein Leben damals gehasst. Heute ist er 28, doppelt so alt wie Pubertierende. Vieles hat sich seitdem nicht getan.
"Erst mal aufstehen", denkt sich Oliver und bläst einen Hauch Nachtgeruch durchs Schlafzimmer. Es ist sieben, Zeit zum Aufstehen und die Zeitung vor der Haustür zu suchen. Von morgendlicher Idylle ist wenig zu spüren. Der Küchenboden ist kalt, die Teller stapeln sich im Spülbecken und überhaupt sollte ein Mann in seinem Alter zum Frühstück doch einer verschlafenen, hübschen Frau gegenübersitzen. Oder zumindest irgendjemandem. Über Homosexualität hat Oliver bislang kaum nachgedacht. Stattdessen ein loser Blick aus dem Fenster: Unten führt eine Hauptverkehrsader vorbei, die langsam zum Leben erweckt und die ersten Arbeitshungrigen zu Lohn und Brot bringt. Früher war das sicher einfacher, als jemand mit einem festen Beruf auch feste Arbeitszeiten hatte. Oliver indes ist in eine Zeit geraten, in der er zur Arbeit gehen kann, wann er will. Oliver geht immer um acht.
Nicht, dass er nicht gerne ausschläft, das macht er zuweilen am Wochenende, aber wenn er spät anfängt zu arbeiten, denkt Oliver, sollte er die Abende vorher auch entsprechend nutzen. Und bis in die Puppen vor der Glotze zu sitzen, nur um lange schlafen zu können, findet Oliver unnötig. Nachmittage kriegt er besser rum.
Auch heute verbessert sich seine Laune nicht am Briefkasten, der wieder mal leer bleibt. Oliver unterschreibt mittlerweile jede Unterschriftenaktion in der Fußgängerzone, in der Hoffnung in seiner kleinen, blauen Kiste mal fündig zu werden. Die einzigen, die sich in den vergangenen Monaten bei ihm postalisch meldeten, waren die freundlichen Herren mit der akkuraten Kleidung. Oliver bekam eine schwarz-weiß-rote Postkarte, die spürbar nichts mit Eintracht Frankfurt zu tun hatte: "Mein Opa war kein Verbrecher!" stand darauf. Erst dachte er, die Karte mache sich ganz gut an der kargen weißen Zimmerwand. Aber dann sah er genauer hin und knüllte sie wütend und ein Stück weit enttäuscht in den Papierkorb.
Oliver muss sich etwas beeilen. Er will nicht zu spät kommen, wenn er nicht zu spät kommen kann. Doch bevor er seine Wohnung schließt, blickt er wie jeden Morgen noch in sein Schlafzimmer. Wenn das seine Mutter sähe: Der Fernseher ist noch an, es laufen schlecht synchronisierte Verkaufssendungen.
Neben dem Mülleimer liegen zusammen gepresste Taschentücher. Auf dem Bücherregal hat sich über gut hundert historischen Romanen eine üppige Staubschicht eingerichtet. Das Zimmer ekelt Oliver an. Viel zu lange ist er schon alleine, eigentlich schon immer. Mittlerweile denkt er, dass er das gar nicht kann. Die Lavalampe auf der Fensterbank, die er seit fünf Jahren nicht mehr angestellt hat, erinnert an seine bislang einzige Freundin. Das war um die Jahrtausendwende. Überall lag was Neues in der Luft und Oliver roch, dass das Leben endlich losgehen würde. Tat es aber nicht. Stattdessen rannte Julia mit so einer Hanswurst davon. Der hatte sicher keine hundert Bücher, aber dafür auch keine Staubschicht. Er konnte auch ohne das Wissen der Bücher prima erzählen, das war Oliver bei einem Abend aufgefallen. Und Julia hatte er jetzt auch. Seitdem hat Oliver nie wieder jemanden gefunden, den er wirklich mochte. Niemanden, der ihn sonntags auf seinen Spaziergängen begleitet. Und niemanden, der ihn "Olli" nennt. Selbst seine große Schwester Birgit, die 35 und verheiratet ist, und in Hamburg irgendwas mit Medien zu tun hat, nennt ihn seit einiger Zeit wieder "Oliver".
Die Straßenbahnfahrt zur Arbeit nutzt Oliver eigentlich immer um zu lesen.
Er liebt das Lesen. Manchmal, wenn er mit Menschen redet, denkt er sich anschließend, dass er das lieber nachgelesen hätte. Nicht unbedingt eine Art, die den Kontakt zu Menschen erleichtert. Aber Oliver legt keinen großen Wert auf kleine Kontaktaufnahmen. Erst recht nicht in Straßenbahnen. Was sollte er auch erzählen? Dass es ihm gut gehe etwa? Dass er es mag hier zu sitzen? Und nein, dass er von ihr und ihm auch schon lange nichts gehört hätte. Ja, und am Wochenende, da sei er mal zu Hause geblieben, ausnahmsweise. Oder sollte er lieber von seiner Gedankenwelt erzählen in die er gerade wieder eintauchen wollte oder von seinem aktuellen Buch, "Die Entdeckung der Langsamkeit" über das Leben des Seefahrers John Franklin?
Oliver weiß, dass er nicht viel zu erzählen hat und, noch schlimmer, er es auch nicht gut erzählen könnte. Deswegen senkt er lieber den Kopf und blättert in seinen Gedanken, wenn an der Koblenzer Straße Achim einsteigt, ein damaliger Studienfreund von Julia, bei dem Oliver nie weiß, ob dieser ihn noch kennt und wenn, ob und was sie sich zu erzählen hätten.
Oliver arbeitet in einer Firma, die alles Mögliche mit Schreibartikeln macht: Herstellen, verkaufen oder ähnliches. Mittlerweile gibt es sogar eine Marketing-Abteilung. Oliver interessiert das weniger, ist schließlich nur sein Job. Das Leben hat wohl zu bieten, hofft Oliver. Seit fünf Jahren sitzt er im hessischen Rodenbach. Nicht weit von Frankfurt entfernt, wo er demnächst unbedingt mal hinwollte. Bei der Arbeit denken sicher viele, dass Oliver einen Schatten hat. Das spürt er. Oliver liebt es über den langen Flur zu laufen und zu pfeifen. In der Mittagspause bleibt er hin und wieder oben im Großraumbüro und guckt aus dem Fenster rüber ins Industriegebiet, wo die Schornsteine schweren Rauch ausspucken. Im Innenhof hört er ein Dutzend seiner Kollegen beim Espresso feixen und oft blicken sie hoch zu ihm in den dritten Stock und stecken konspirativ die Köpfe zusammen. Dann überlegt er wie es wäre, wenn er nach der zehnten Klasse nicht aufs Gymnasium gewechselt wäre, um sich für einen Schreibtischjob zu qualifizieren. Vielleicht stünde er heute paar hundert Meter weiter im Industriegebiet mit den anderen im Blaumann vor der Lagerhalle. Vielleicht hätten sie sich mehr zu erzählen.
Oft denkt Oliver darüber nach, was sie wohl den ganzen Tag hinter dem großen Hallentor machen, und ob es ihnen gut geht. Besser als ihm. Halten sie sich manchmal auch für unterschätzt oder haben sie ganz andere Sorgen?
Heute erstickt Olivers Arbeitstag wieder in Überflüssigkeit. Viel hat er zu tun, Listen schreiben, abgleichen, Aufträge eintippen. Aber welches Interesse hat sein Fernweh an 1.500 blauen Kugelschreibern? Wird er jemals ganz alleine sein und bis zum Horizont niemanden sehen, unter freien Sternenhimmel schlafen und nachts die Tiere hören, die das jeden Abend dürfen, die nie in Straßenbahnen und Großraumbüros sitzen? Oliver kann hier nicht bleiben, nicht vor dieser Computermaske, nicht unter dieser Alltagsglocke.
Er denkt an Urlaubstage, die er noch zu Genüge hat- und ans Reisen. Abends im Bett beschließt er, morgen zum Chef zu gehen und ihn nach zwei Wochen Urlaub zu fragen. Einfach mal nach Afrika fliegen. Der Reisegruppe wird er sich dann einfach als "Olli" vorstellen. Und wenn er ganz viel Glück hat, kann er vor dem Abflug auch noch Frankfurt ein bisschen kennen lernen. Das wäre ja mal was.



Eingereicht am 09. März 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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