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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Und dann kommt ihm wieder jeder Tag vor wie derselbe

© Klaus Reinhard


Gefolgt von immer den gleichen Ritualen, geht er jeden Tag dem nach, was er für seine wichtigste Beschäftigung hält und ist damit unzufrieden und mittlerweile schon mächtig zerknittert. Die Leute mögen ihm ansehen können, dass es ihm nicht gut geht - er muss unauffälliger werden, den Schutz des Schattens der Häuser suchen um ja nicht aufzufallen. Das hat er fast schon gelernt in all den Jahren, in denen er sich auf den verhassten, depressiven Winter freut, wo es zeitig genug dunkel wird und ihn unerkannt das Haus verlassen lässt.
Jetzt geht er wieder los und hofft darauf, wie immer, so wenig wie möglich Menschen zu treffen, die ihn womöglich kennen und grüßen, oder was noch schlimmer wäre, ansprechen könnten. Es klappt fast immer, und immer lohnt sich letztlich die Anstrengung, das schützende Heim trotz dieser Angst zu verlassen. Manchmal kann er nur wie gelähmt, manchmal vor sich hin winselnd oder weinend in seiner Stube hocken bleiben, auf Magenkrämpfe wartend, deren Vorzeichen er in den letzten Jahren gut zu erkennen gelernt hat.
Heute aber nicht. Er ist aus dem Haus gegangen um ein paar Einkäufe zu machen, kurz bevor der Supermarkt zumacht und kaum noch Leute im Laden sind. Er hat sich auf diesen Touren den verschiedensten Verkäuferinnen, allein durch die Tatsache, dass er an der Kasse vor ihnen steht - in manchmal sogar charmanter Weise - so offenbart wie selten einem anderen Menschen. Und das allein ist doch schon eine große Leistung. Er spürt fast körperlich ihre Blicke. Noch nie hat er mehr als nötig mit ihnen gesprochen, aber ausgeliefert hat er sich trotz allem und sein bisschen Mut sank nach einer solchen halbstündigen Einkaufstour auf den Grund des Sees an dem er so gerne sitzen würde und einen Bootsverleih hätte. Hätte den nicht jeder gern, fragte ihn neulich eine Frau, mit der er zusammenarbeitet und bei der er es sich nach diesen immer wiederkehrenden Kämpfen mit sich selbst, ausgelaugt und schwach, nicht mehr verkneifen konnte, von seinem manchmal geträumten Traum zu erzählen. Wahrscheinlich schon - wahrscheinlich hat jeder solche Gedanken. Die Aussicht darauf ließ ihn selbst an seiner Unnormalität zweifeln.
‚Das war ein gutes Zeichen, dachte er, ‚aber andererseits vielleicht auch ein schlechtes', denn solche Träume gehören ihm doch allein und warum denken auch andere daran, wenn sie dann doch ganz anders leben, als er. Er spürte, dass er sich vielleicht zu weit aus dem Fenster gebeugt hatte, es ihr zu sagen - wieder fühlte er sich nicht ernst genug genommen und unverstanden und bedauerte in diesem Moment, überhaupt mit ihr geredet zu haben.
‚wer war denn hier verrückt', er oder die anderen. Wo kommen wir denn da hin, wenn alle von Freiheit träumen und es als normal empfinden. Er hatte doch schließlich dieses Abo, anders sein zu können als alle anderen.
‚was bilden sie sich denn ein', hatte er zum Anfang gedacht, aber die Zeiten sind vorbei und er betrachtet sie nur noch mit Mitleid. Sie verstehen eben nicht, was er meint und seine Seensucht nach Freiheit und Liebe und seine skrupellose Einsamkeit werden sie nie erreichen können, in ihren kleinen süßen Wohnungen, mit ihren kleinen süßen Autos und widerlich süßen Familien, in denen sie tagein tagaus dasselbe tun und sich vorgaukelten, dass es auch so geht.
‚Pah', der Gedanke daran ließ ihn schaudern und er beneidete sie nicht um das Leben, das er sich vielleicht immer erträumte.
Natürlich waren andere schuld daran - an der Misere, aus der nicht auch nur ein Hauch von positiven Emotionen und zukunftsweisenden Gedanken zu ziehen war. Seine Eltern, sein Vater vermutlich stärker als seine Mutter. Da liegt das Übel schon sehr weit zurück und noch immer nicht begraben. Das haben sie ihm schon oft gesagt, in all den letzten Jahren. Hier ist die Schuld zu suchen, nicht bei sich selbst. Das war Bestimmung und nichts dagegen zu machen. Durch die Verdrängung und Unterdrückung von Emotionen und die dadurch ausgelöste Verschiebung des Mikrokosmos seiner Hormone änderte sich alles in seinem Leben. So einfach ist das und plausibel. Er durfte auf seine Gefühle nie eingehen, über die er lange und immer wieder erfolglos nachgedacht hatte. Bruchstückweise kamen sie unter großen inneren Schmerzen nach und nach und schemenhaft hervor. Welche Situationen es im Einzelnen waren, weiß er nicht mehr. Kleinigkeiten, die jedes Kind erlebt oder existenzielle Sachen, an die es ihm sein Körper einfach verbietet, sich zu erinnern.
Das Leben geht weiter, denkt er manchmal, aber wohin und warum, das zu denken bereitet ihm schon nach ein paar Ansätzen Kopfschmerzen. Alle Wege scheinen nur dadurch begehbar zu werden, indem man sich aufrafft und irgendetwas unternimmt und ‚bei dem Gedanken daran kommen vielleicht auch gleich wieder diese inneren Schmerzen', die immer dann kommen, wenn er selbst versucht irgendeine Entscheidung zu treffen. Und Angst kommt auch. Angst, dass es sinnlos und verschwendete Energie ist und die Angst, dass es hinterher auch nicht besser oder anders ist. Das hemmt. Sieht doch jeder normale Mensch ein, dass das hemmt, aber normale Leute hat er lange nicht mehr getroffen, die begeistert davon sind, dass er keinen Plan hat, wie es weitergeht. Die letzten Bastionen in seinem Leben stürzen nach und nach um ihn herum zusammen und machen mit ihrem Leben was sie wollen oder glauben tun zu müssen und er wird einsam zurück bleiben und nicht weg können, an einen Ort seiner Träume.
‚selbst Träume sind nicht mehr das was sie mal waren', denkt er noch, während er so zum Supermarkt geht, im Halbdunkel und Nieselregen und keiner beachtet ihn, wie er einem Phantom gleich durch die Regalreihen des Marktes schleicht und versucht zu überlegen, was er eigentlich hier wollte. Da läuft einer vorbei, mit dem er mal Billard gespielt hat, vor Jahren. ‚zum Glück sieht er mich nicht', denkt er und will sich gerade sicherheitshalber umdrehen, als er von hinten plötzlich angetippt wird:
"Hi, Harald." sagt eine Stimme, die er als die von Marina identifiziert, während er sich umdreht. Sofort bricht ihm der Schweiß aus, schlimmer als würde er gerade einen Kühlschrank ganz alleine in den 3. Stock getragen haben, von dem aus sich ein Runterspringen nicht einmal lohnen würde.
"Hallo", ist das einzige, das er stammelt und hofft, dass sie seinen Schweißausbruch nicht bemerkt.
"Wie geht's dir denn?", ‚die übliche Frage' denkt er ‚hoffentlich merkt sie nicht, dass ich schwitze'.
"Gut, und dir?", ‚Scheißantwort. Ich bin nicht mal in der Lage irgendwas Vernünftiges zu fragen'.
"Nicht so gut", er ist über diese Öffnung nicht wenig überrascht.
‚Scheiße, hör auf zu schwitzen' versucht er sich zu ermahnen, aber ohne Erfolg.
‚Sie merkt es bestimmt - hör auf'
"Warum denn? Was ist los?" bringt er hervor und seine Stimme zittert etwas unglaubwürdig dabei.
Wenn es anderen nicht gut geht, will er immer wissen warum, ein komischer Zug, oder auch nicht. Vielleicht lenkt es von seinen Problemen ab, vielleicht kann er sich anderer Leute Elend anhören, vielleicht sogar helfen - irgendwie.
"Ach, ich weiß auch nicht", da war dieses vertraute Zögern, das er nie leiden konnte, und er fragte sich, ob es immer noch so war, dass sie erst zögerte, um ihm dann doch alles zu erzählen.
"Wollen wir uns mal wieder treffen und Kaffee trinken, oder so?" fragte Marina ohne ihn dabei anzusehen.
"Können wir machen." Er ahnte schon, wohin das führen würde.
"Was machst du heute Abend?"
"Ich weiß nicht" in seinem Kopf spukte alles Mögliche herum - ob es ordentlich bei ihm war, wie es wäre, wenn sie mal wieder bei ihm war, ob er überhaupt noch mit ihr reden kann ohne an alte Zeiten zu denken.
"Pass auf," sagte Marina "ich hol noch schnell ein bisschen Käse und Mehl und wir sehn uns gleich vorne an der Kasse, ok?"
"Ok." Sagte er und war nun doch ein bisschen verunsichert. Wohin sollte das nur führen, wenn sie jetzt mit zu ihm ging.
Sie lächelten sich zu und gingen auseinander. Immer noch schwitzte er und überlegte jetzt, was ihn wohl erwartete. Harald packte noch eine Büchse Erbsen in seinen Korb, holte noch ein Brot am Backstand, ging dann langsam in Richtung Kasse und begann sich drauf zu freuen, mal wieder mit einem vertrauten Menschen zu reden. Wann passiert das schon mal. Er selbst hatte sich noch nie um seine Freunde und Bekannten gekümmert und die meisten haben es auch nach einer Weile gelassen, sich um ihn zu kümmern, weil nie irgendeine Gegenreaktion kam. Nie interessierte ihn, wie es seinem Gegenüber ging und jedes Gespräch lief nur darauf hinaus, dass er sich dann irgendwann öffnete und nur noch darüber reden konnte, wie schlecht es ihm ging und wie sinnlos alles war. Die Leute waren irgendwann so irritiert und gefrustet, dass sie ihn nicht mehr anriefen oder trafen.
Als er an der Kasse stand und seine Waren in regelmäßigen Abständen über den Scanner piepten, war von Marina weit und breit nichts zu sehen.
‚Na, wo isse denn?' sah er sich um, erleichtert aufatmend, als sie hinter einem Regal hervor und auf die Kasse zukam.
Er holte einen alten Plastikbeutel aus der Tasche seiner stumpfen, braunen Kordjacke, packte seine Einkäufe zusammen und wollte warten, bis auch Marina fertig war. Sie aber fing sofort zu reden an, noch während die Verkäuferin kassierte.
"Wollen wir gleich jetzt bei dir einen Kaffee trinken?" Das war ihm nun gar nicht recht, dass diese Verkäuferin, die bislang nichts außer bitte, danke und auf wiedersehen, von ihm zu hören bekam nun auch noch ein mögliches Gespräch zwischen ihm und seiner ehemaligen Freundin mitbekam. Er versuchte die Antwort hinauszuzögern, aber auch die Aktivitäten an der Kasse zogen sich länger als erwartet hin, und so klang es recht mürrisch, dieses: "Warum nicht." Die Verkäuferin sah ihn an, während sie von Marina das Geld entgegen nahm. ‚schrecklich' dachte er nur und konnte kein Wort mehr herausbringen. Auch Marina mochte seine Scheu registriert haben, denn nun sagte auch sie nichts mehr und packte schnell ihr Zeug ein. Beide verließen sie nebeneinander den Supermarkt, wobei es ihm unangenehm war, neben ihr zu laufen. ‚dreh dich jetzt nicht um, die guckt jetzt bestimmt hinterher.'
Draußen hatte es inzwischen stärker zu regnen angefangen und sie gingen wortlos in seine Wohnung.
"Warum geht es dir nicht gut? Was ist los?" Harald stellte die Tassen auf den Küchentisch und einen Topf mit Wasser auf den Herd. Bei ihm gibt es immer türkischen Kaffee. Irgendwann hat er es sich angewöhnt nur noch türkischen zu kochen. Der schmeckt doch viel besser hatte er seine Freunde immer wieder von den Vorteilen zu überzeugen versucht. Jetzt aber, sein einem Jahr etwa, trank er ihn nur noch äußerst selten, denn sein Magen spielte nicht mehr mit. Er wusste aber auch, das Marina seinen Kaffee immer geliebt hatte.
‚Warum kann ich sie nicht lieben?' schoss es durch seinen Kopf. Sie stand an den Rahmen der Küchentür gelehnt und beobachtete ihn.
"Ich weiß auch nicht." ihre Stimme klang traurig und vertraut "Lass uns erst mal hinsetzen" fügte sie hinzu.
"Wann warst du denn das letzte Mal hier?"
"Erinnere mich nicht daran, du warst total fies."
"Was war ich? Nie im Leben." er konnte sich wirklich nicht mehr daran erinnern, nur noch, das sie irgendwann in Tränen aufgelöst gegangen war und er sie seitdem nur noch ein Mal im Auto gesehen hatte.
Das Wasser kochte auf und Harald goss es in die Tassen.
"Wie war das noch mal? Zucker oder Milch oder wie oder was? Ich hab's vergessen."
"Nur Milch, danke"
Sie setzten sich auf das über Eck stehende Sofa in die Stube, und stellten die Tassen ab. Harald sprang noch mal auf, ging in die Küche und kam mit einem Aschenbecher zurück. Er dachte nicht daran, dass Marina ihn selbst aus Ton geformt und angemalt hatte, während ihrer gemeinsamen Therapie war das gewesen, bei der sie sich kennen und für kurze Zeit ein bisschen lieben gelernt hatten. Sie hatte ihm den Aschenbecher noch während der Therapie, zum Geburtstag geschenkt. Jetzt sah sie ihn lange an, kramte ihre Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an.
"Weißt du noch, als ich ihn dir geschenkt hab?", fragte sie und jetzt schien auch Harald sich daran zu erinnern. Ein Schmunzeln umfuhr seine Lippen. "Ja." sagte er. "ich hab mich richtig sehr gefreut."
"Ja, und du hast mir das Buch von Hoimar von Ditfurth geschenkt." Sie schwiegen beide für ein paar Sekunden "Manchmal lese ich noch ab und zu darin, weißt du?"
"Ehrlich?" ‚so ein Quatsch' - "Warum?"
"Ich weiß auch nicht, es ist ganz nützlich manchmal und lenkt mich ab, wenn ich nicht gut drauf bin."
"Das ging mir auch immer so." er nahm einen kleinen Schluck von seinem Kaffee.
"Was liest du grade?" 'oh Gott, was soll ich sagen? Was wird sie denken?'
"Ich lese nichts, hab schon ewig nichts mehr gelesen." sagte er lieber die Wahrheit. Die Wahrheit ist immer noch besser, als sich im Laufe des Gesprächs, wie so oft schon geschehen, zu verstricken und zu verhaspeln. Das hatte er auch gelernt in all den Jahren.
"Warum nicht?" "Ich weiß es nicht." Was sollte er ihr denn erzählen? Das er zu schwach war um Bücher oder Artikel zu lesen, dass er, wenn er hier sitzt oder liegt und grübelt, nicht einmal mehr auf die Idee kommt, ein Buch anzufassen. Dass er das letzte Mal nicht über die ersten Sätze hinausgekommen ist, ohne wieder zurück in seine Lethargie zu fallen und durch die Seiten hindurch zu starren. Oder dass er nicht mehr wusste, was er noch Minuten vorher erst gelesen hatte, weil er mit sich selbst zu sehr beschäftigt ist und ihn nichts ablenken kann. Dass er es nie richtig probiert hatte dagegen anzugehen und sich nicht mehr auf andere Welten einlassen kann?
"Aber du hast doch früher immer so gern gelesen."
"Ja, ich weiß. Aber ich komm nicht mehr ran." und fügte "Im Moment" hinzu, denn wirklich hatte Harald nun einmal wieder die Hoffnung, es könnte sich um ein vorübergehendes Desinteresse handeln.
Er spürte, dass sie ihn so ansah wie früher, wenn er nahe am Austicken war. Ihr Blick drückte für ihn Unverständnis aus. Diesen Blick kannte er. Er holte die Gefühle, die mit ihm verbunden waren, von ganz weit unten hervor. Harald erinnerte sich, dass es unter anderem dieser Blick war, der ihm sagte, dass sie für ihn nicht die Richtige war. Er erinnerte sich plötzlich an einige dieser kleinen Nicklichkeiten. Oft, zu oft fühlte er sich von ihr unverstanden. Sie mochte nie begreifen, dass er nicht auf sie eingehen konnte, sondern immer nur mit sich zu tun hatte und Harald wusste, dass das ein Fehler war, aber auch, dass er selbst heute nicht anders sein konnte. Dieser Blick sagte ihm ganz deutlich, dass sich in ihrer Beziehung nichts geändert hatte.
Er versank in sich selbst, wusste nicht mehr was er sagen sollte und es war ihm auch egal. Eigentlich wollte er sie nur noch aus seiner Wohnung haben.
Sie saßen nur noch da schlürften ihren Kaffee. Marina sagte nichts, er wollte nichts wissen und so war es beklommen, bis zu dem Moment, als sie aufstand und ihre Jacke nahm. Wortlos zog sie sich die Schuhe an, winkte mit einem Lächeln zurück, als sie in der Tür stand, und ging.
‚Irgendwie war es kein schlechter Abend' dachte er manchmal, von gelegentlichen Selbstvorwürfen unterbrochen. Er konnte sich nicht darüber ärgern, wie alles gelaufen war.
Ob er sie jemals wieder sah, ich weiß es nicht. Von ganzem Herzen wünschte er es sich nicht.



Eingereicht am 14. Februar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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