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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Sehnsucht nach der Unschuld (Erinnerung)

© Agnes Jäggi


Ich bin ein Kind. Ich weiß nichts von der Welt. Ich lebe in einer großen Familie. Ich denke noch nicht nach, lasse Eindrücke von außen auf mich einwirken, ohne sie zu analysieren. Ich genieße, ohne zu wissen, dass ich das tue. Ich fühle mich wohl, ohne zu wissen, wieso. Es ist einfach so. Ein goldener Sommernachmittag. Ich stehe auf der hügeligen Wiese. Die Sonne scheint warm auf meinen Kopf, meine Schultern, meine bloßen Arme und Beine. Der Himmel ist weit und von einem satten Blau. Das Gras verdorrt, fast blond und ganz kurz geschnitten. Es kitzelt an den Füssen, wenn ich mich bewege. Die Erwachsenen arbeiten und plaudern dabei. Lachend durchkämmen sie das goldene Gras - das Heu - mit großen Rechen, deren blanke Gabeln silbern schimmern im Sonnenschein. Sie werfen das raschelnde Heu in die Luft, kehren es wieder zusammen, werfen es wieder in die Luft. Das geschnittene Heu bedeckt bald die ganze Wiese wie ein weicher heller Teppich. Später wird der Teppich in viele kleine Hügel zerlegt, dann kommt der Traktor mit Anhänger und die Erwachsenen heben die Heuhaufen mit den großen Rechen auf den Anhänger.
Am Bach unten turtelt das verliebte Paar noch immer. Sie sind nicht mehr besonders jung. Weil ich noch ein Kind bin, scheint das Pärchen alt zu sein. Heute, da ich erwachsen bin, weiß ich, dass das Paar von damals jung war, jünger als ich es jetzt bin. Ja, ich möchte in Zeiten wie diesen wieder ein Kind sein. Ein unverbrauchtes, unwissendes Wesen, das die Sonne genießt, dessen Füße vom dürren kurz geschnittenen Grass gekitzelt wird, das sich wohl fühlt, ohne zu wissen, warum, das zufrieden ist, ohne zu analysieren, weshalb.
Wann war ich nicht mehr jenes zufriedene Kind, das nicht verurteilte, nicht nachdachte, kombinierte, analysierte? Mein Kopf war voller Eindrücke, mein Herz rein und unschuldig. Alles wäre möglich gewesen, doch irgendwann kam das vermeintliche Wissen, das vermeintliche Verstehen der Welt, der Menschen. Und damit - Hand in Hand - folgte die Hilflosigkeit, die Angst, das Böse, die Dunkelheit.
Ich weiß noch immer nichts, doch dieses Nichtwissen macht mich nicht mehr glücklich und zufrieden. Ich stehe hilflos vor dem Leid in mir und vor dem der ganzen Welt. Ich habe vom Holocaust gehört, von Kriegen, von Hungersnöten, vom bösen Spiel der Wirtschaft und Politik. Und ich habe selber unschöne Dinge erlebt und getan. Ich bin nicht mehr unschuldig, möchte es aber so gerne wieder sein - jenes Kind an jenem warmen goldenen Sommertag.



Eingereicht am 06. Februar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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