Baumsterben in der Nachbarschaft
© Marion Treche
Es geht wieder los. Die Motorsäge heult auf. Ein Geräusch, das meine Ohren quält und mir die Tränen in die Augen treibt. Nicht, weil der Lärm so unangenehm ist, sondern weil er für mich Abschied bedeutet.
Ich liebe Tannen. In meiner Wohngegend, die vor allem aus Einfamilienhäusern und Gärten besteht, kenne - nein, kannte - ich jede einzelne.
Groß und stark, aufrecht und scheinbar unerschütterlich haben die meisten von ihnen meinen Lebensweg seit der Kindheit gesäumt. Und sie haben mich mit ihrer Schönheit verwöhnt, wenn um mich herum Hässliches geschah.
Seit einigen Monaten ist es in meiner Heimatstadt erlaubt, Tannen ohne Genehmigung der entsprechenden Behörde zu fällen. Wer ist nur auf diese zerstörerische Idee gekommen? Und vor allem warum? Auf jeden Fall hat sich seitdem das Bild meiner Wohngegend enorm verändert.
Nie hätte ich gedacht, dass so viele Menschen aus meiner Nachbarschaft ihre Tannen überhaupt nicht mögen und sie nun als lästiges Übel einfach aus dem Weg schaffen lassen - ganz ohne Antragsformular, horrende Gebühr und Ersatzpflanzungspflicht.
Im Gegenteil, ich hatte immer angenommen, meine Nachbarschaft empfindet wie ich. Ist ihr Blick denn nie an einer großen Tanne hoch gewandert? Für mich gibt es keinen schöneren Weg, als mich an einem Baum aufzurichten. Ein bewusster Blick von unten nach oben, und wenn meine Augen die Baumspitze erreicht haben, stehe ich gerade und mit gehobenem Kopf da und fühle mich für jede Herausforderung gestärkt. Das klappt immer.
Seit Monaten sehe ich beinahe täglich, wie eine Tanne nach der anderen verschwindet. Das praktische Verfahren, um einen so stattlichen Baum klein zu bekommen, hat etwas Entwürdigendes: Die kraftvollen und zugleich sanft schwingenden Äste werden Lage für Lage abgesägt, bis nur noch der Stamm, ein kahler Mast, übrig bleibt. Von unten nach oben. So wie ich mich gerade noch an dem Baum gestärkt hatte. Dann geht es anders herum weiter. Stück für Stück des Stammes fällt der Säge zum Opfer. Von oben nach unten.
Doch da habe ich den Blick bereits abgewendet. Ich gehe an den vielen grünen Ästen vorbei, die auf dem Boden liegen, und atme ihren aromatischen Duft ein letztes Mal ein - im Ohr immer noch das Geheul der Motorsäge und mit Trauer im Herzen.
Eingereicht am 02. Februar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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