Big Jim
Manfred Hoffleisch
Ein Sonnenstrahl, der durch das große Fenster des Hotelzimmers fiel, beendete seinen Schlaf noch bevor der Wecker klingelte. Einen Moment verharrte er in dem wohlig warmen Bereich zwischen Schlaf und Realität, dann war er plötzlich hell wach. Heute war der Tag, auf den er so lange gewartet hatte. Big Jim war alt, kurz vor der Pensionierung und er war jung und gut in Form. Die Vorfreude auf den bevorstehenden Sieg schickte heißes Adrenalin durch seinen Körper. Er schwang sich aus dem Bett und ging vergnügt
pfeifend ins Badezimmer.
Etwa zur gleichen Zeit saß Jim Whiteman missmutig in einem der Briefing-rooms des Flughafens. Er hatte schlecht geschlafen. Irgendeine Gruppe Betrunkener hatte zwischen den Hotelzimmern auf seiner Etage einen regen nächtlichen Fußgängerverkehr begleitet von lautem Türenschlagen und Gelächter eingerichtet. Ein Anruf bei der Rezeption war ohne Wirkung geblieben. Gegen Morgen war es endgültig mit Schlaf vorbei. So war er aufgestanden und nachdem er einsam im leeren Frühstücksraum ein Joghurtmüsli mit heißem
schwarzem Kaffee hinunter gespült hatte, nahm er sich ein Taxi und fuhr zum Flughafen.
Bis zum Eintreffen der Crew hatte er noch genügend Zeit. Sorgfältig ging er die Flugpapiere durch. Seine Konzentration hatte trotz des bevorstehenden Ruhestandes kein bisschen nachgelassen. Er nahm seinen Beruf als Chefpilot immer noch sehr ernst. Er studierte die Namen der Crewmitglieder, als ihm ein Name förmlich ins Auge sprang: Tom Donovan war auf diesem Flug sein Co. Heute war es also soweit. Irgendwann hatte es ja kommen müssen. Donovan war bereits vor zwei Jahren zu der Fluggesellschaft, bei der
Jim als Chefpilot flog, gewechselt. Man munkelte sogar, dass er seine viel versprechende Karriere bei Transglobal extra abgebrochen hatte, nur um auf Jim zu treffen. Die Begegnung war längst überfällig. Der Ruf eines unbesiegbaren, jungen Draufgängers eilte Donovan voraus. Er hatte noch kein Duell verloren. Jim wusste, dass er sich bei einem Mann wie Donovan nicht nur auf seine in langen Jahren erworbene Routine verlassen konnte. Jim fühlte sich plötzlich uralt und müde aber er wusste: So ging nun mal
das Spiel. Die Jungen würden so lange kommen und ihn herausfordern, bis er vom Thron gestoßen war. Nur gerade heute sollte es nicht so weit sein. Er musste er sich was einfallen lassen.
Nach und nach tröpfelte die Crew ein. Versteckte, abschätzende Blicke, auffällige Unauffälligkeiten. Jim wurde klar: Sie wussten Bescheid. Die Crew würde den ganzen Flug nur darauf warten: Links: Es lebe der König. Rechts: Der König ist tot, es lebe der König.
Und dann kam Donovan. Keiner von beiden ließ sich etwas anmerken, obgleich Jim seinen Kontrahenten genau musterte. Tom war mittelgroß und untersetzt. Jim sah sofort, dass nicht Fett sondern Muskeln für die Rundungen unter den Ärmeln der Uniformjacke Donovan's verantwortlich waren. Es würde schwieriger werden als gedacht. Auch Tom versuchte, seinen Gegner einzuschätzen. Er sah einen drahtigen Mann um die 60 mit ergrauten Haaren. Besonders kräftig sah er nicht aus. Aber Tom musste auf der Hut sein. Big Jim
war als verschlagen berüchtigt.
Das Briefing war routiniert wie immer. Boarding, Start, alles verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Nun saßen beide, der Pilot links und sein Co rechts in ihren Sitzen. Sie hatten die Reiseflughöhe erreicht und der Autopilot steuerte die Maschine, was man an den sich synchron und wie von Geisterhand bewegenden Steuerhörnern erkennen konnte. Die ganzen Checks waren so weit durch und es kehrte so etwas wie Ruhe im Cockpit ein. Tom merkte, dass er heute nervöser war als sonst. Er fieberte dem Kampf entgegen,
aber als Herausgeforderter hatte Jim das Recht, den Zeitpunkt des Kampfbeginns zu bestimmen. Aber die Zeit verging. Obwohl nur der Funkverkehr mit der Bodenkontrolle abgewickelt werden musste, machte Jim keinerlei Anstalten, den Kampf zu beginnen. Wollte er kneifen? Oder wollte der alte Fuchs ihn nervös machen? War das ein Zeichen von Verzweiflung bei Jim? Tom's Siegesgewissheit stieg. Wenn Jim solche Tricks nötig hatte, war nicht mehr viel mit ihm los.
Ohne Vorwarnung legte Jim plötzlich die linke Hand an's Steuerhorn und Tom machte es im sofort gleich. Die Rechte Jim's ging zum Autopiloten und schaltete ihn aus. Gebannt verfolgte Tom Jim's rechte Hand, wie diese sich langsam Richtung Steuerhorn bewegte. Jetzt kam es auf den richtigen Moment und auf die Reaktion an. Jim's und Tom's rechte Hände umschlossen gleichzeitig die Steuerhörner und unvermittelt begann der Kampf. Tom hatte sich immer gefragt, welche Eröffnungstaktik Big Jim wählen würde. Jetzt
wusste er es: die Slope-Variante, das sachte Ansteigen. Mit stetig steigender Kraft versuchte Big Jim, das Steuerhorn nach links zu drehen, Tom hielt mit seinem dagegen. Die Steuerhörner des Piloten und des Kopiloten sind fest miteinander verbunden und so bewegten sich die Tragflächen kein bisschen, das Flugzeug flog exakt waagerecht weiter. Tom versuchte einen Ausfall, um die Reaktionsfähigkeit Big Jim's zu auszutesten. Ruckartig versuchte er, sein Steuerhorn nach rechts zu drehen. Big Jim konnte parieren.
Das Flugzeug wackelte kein bisschen. Der Kampf wogte hin und her. Tom wendete nun eine, wie er meinte, von ihm entwickelte Taktik an. Durch unregelmäßiges ruckartiges Drehen am Steuerhorn versuchte er, seinen Gegner geistig und körperlich zu ermüden. Big Jim durfte in seiner Aufmerksamkeit keine zehntel Sekunde nachlassen. Das ständige, unvorhersehbare, ruckartige Anstrengen der Arm- und Oberkörpermuskulatur ermüdete ihn tatsächlich. Feine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. "Ich habe ihn",
dachte Tom, "mein Gott ich hab ihn". Triumphierend betrachtet er das leicht verzerrte Gesicht seines Gegners. Big Jim merkte, wie sein Oberkörper zu schmerzen begann. Tom's Taktik war gut aber nicht neu. Aber sie war wirksam, sehr wirksam. Die einzige Gegenmaßnahme bestand darin, den Spieß umzudrehen und seinerseits unregelmäßig, ruckartig das Steuerhorn zu drehen. Als Tom merkte, dass Big Jim den Trick durchschaut hatte, änderte er die Taktik. Urplötzlich versuchte er mit all seiner Kraft, das
Steuerhorn nach rechts zu drehen. Big Jim konnte nur mit äußerster Kraft diesen Ausfall parieren. Doch seine Hände waren feucht. Zum ersten Mal hatte er feuchte Hände. Das Steuerhorn rutschte ihm etwas durch die Finger. Er verstärkte seinen Griff, der bereits eisern um das Steuerhorn lag und konnte ein Weiterrutschen verhindern. Die Maschine legte sich aber leicht auf die rechte Seite. Tom sah die Not Big Jim's während er selbst sich noch recht frisch fühlte. "Hasta lavista baby, das war's, Big Jim,
ab heute heißt es Big Tom". Am Kippen und der sogleich wieder waagerechten Fluglage des Flugzeugs merkte die Crew, dass der Kampf im Gange war. Die Maschine hatte sich nach rechts bewegt. War der König gestürzt? War Big Jim Legende?
Big Jim bemerkte, dass Tom wieder zu seiner alten Taktik zurückgekehrt war und zugleich seine Anstrengungen zum Endspurt noch einmal erhöhte. Doch er hatte noch einen Trumpf im Ärmel. Wenn sein Timing stimmte, musste es jeden Moment so weit sein. Er war diese Strecke so oft geflogen, er kannte "jeden Kilometer".
"DA-3241, this is ground control west, over"
Big Jim hatte unbemerkt die Lautstärke voll auf gedreht. Die Stimme war urplötzlich überlaut in ihren Kopfhörern. Er war darauf gefasst. Tom nicht. Dieser winzige Moment der Unaufmerksamkeit genügte Big Jim. Mit aller Gewalt riss er sein Steuerhorn nach links.
Und nun die neun Uhr Nachrichten:
Eine Maschine der TWA kippte heute Nacht über die linke Tragfläche ab und stürzte 5000 Meter tief, bis sie vom Piloten wieder abgefangen werden konnte. Der Pilot konnte die Maschine sicher auf einem nahe gelegenen Flughafen landen, wo auch die zahlreichen Verletzten versorgt wurden. Als Ursache für das Unglück wird ein Strömungsabriss im linken Triebwerk oder ein Luftloch vermutet"
Eingereicht am 25. Januar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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