Kinderreim vom ausgetretenen Paar Schuhe
Anne Zegelman
Als sie dich kennen lernte, warst du zwölf Jahre alt. Dein Haar trugst du gescheitelt, du mochtest karierte Hemden, Popmusik und Pizza mit Ketchup. Alles an dir war kindlich, und das war okay, denn wir lebten in einer anderen Zeit.
Als sie anfing, sich (für dich) zu schminken, als sie ihre blonden Strähnen dauerwellte und anschließend versuchte, zu plätten, als sie sich färbte und Diät hielt, nahmst du vielleicht einen kurzen Schatten im Augenwinkel wahr, der ihr Gesicht trug. Sicher war sie sich nie. Später wurdet ihr Freunde. Du warst unzuverlässig, der Himmel weiß, warum sie an dir festhielt. Du riefst selten an, obwohl du es versprochen hattest, und setztest dich im Kino neben einen andern Freund statt neben sie.
Als ihr beide siebzehn wart und sie ihren ersten Freund hatte, warst du vielleicht selbst überrascht, etwas zu fühlen. Sie belog sich und hoffte, es sei mehr als der Verlust einer hässlichen, bequemen alten Joggingmontur. Natürlich musstest du dir selbst beweisen, dass niemand dir dein Recht und diesen Schatten nehmen konnte.
Der eine Kuss war kurz und nicht einmal zärtlich. Jahrelang hatte sie sich gesehnt, dir mit den Fingernägeln über die Wange zu fahren, deine Stirn zu berühren und das Leben in der Handfläche wie ein zerbrechliches kleines Vögelchen zu halten.
Unser bisheriges Leben war eine Katastrophe, Lenni. Nach der Schule trennen sich unsere Wege, und obwohl ich oft an dich zurückdachte, hoffe ich nie auf mehr von all dem Schmerz und der Entwürdigung, die du mir zugefügt hast.
"Von sechs bis sieben ist Happy Hour", sagst du, als wir uns zufällig an der Uni treffen. Du studierst Jura, bist der Schwarm deines Semesters und verdammt mies in allen Kursen. "Von sechs bis sieben ist Happy Hour", begründest du deine schlechten Noten und trinkst mehr als du solltest.
Von da an laufen wir uns überall über den Weg. Im Kino. Auf dem Weihnachtsmarkt. In fremden Städten. In manchen Jahren denkst du an meinen Geburtstag. Von manchen Geschäftstreffen schreibe ich dir Postkarten. Ich weiß nicht, ob deine Adresse noch stimmt und will nicht fragen. Als du dich entscheidest wegzuziehen, ist mein Leben längst weit genug von dir entfernt, als dass ich dich vermissen könnte.
Und immer, immer kannst du mir nicht in die Augen blicken. In der Bar in Barcelona, in der Stadtbibliothek und als ich dich im Fernsehen sehe. Ich bin nicht dein schlechtes Gewissen, Lenni. Vielleicht siehst du in mir alles, was du nie erreicht hast. Weil ich dich als Kind kannte. Und weiß, wer du einmal werden wolltest. Siehe und ich sehe, dass das Leben dich nicht verschont hat. Und dass du diese Ziele verkaufen musstest, um sie zu erreichen.
Jahre später bist du Rechtsanwalt und leicht ergraut. Die Börsennachrichten lieben dich. Was gehst du mich an. Du scherst mich nicht einmal. Deine Bartstoppeln sind mir egal, deine Augenschatten kümmern mich nicht. Nichts an dir rührt mich mehr.
Und hundert Jahre später stehe ich in Badeschlappen, mit Ausbrecher-Bräune und Zigarette im Mundwinkel in einem Supermarkt in Andalusien, werfe fremdländisches Geld in den gierigen Münzschlitz des Fernsprechers und blättere mit der anderen Hand in diesem abgenutzten kleinen Büchlein. Dein Geburtstag.
Wir sind beide Mitte dreißig, als du mich fragst, ob ich deine Frau werden möchte.
Wir sind Anfang vierzig, als ich ja sage.
Dass wir uns kaum zehn Jahre später scheiden lassen, unterstreicht nur die feine Bitterkeit dieser Geschichte. Es soll darum nicht unerwähnt bleiben.
Eingereicht am 10. Januar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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