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Sinnsuche

Simon Müller


Sein Leben lang war er im Kreis gelaufen.
Das war auch nicht weiter verwunderlich, das machte jeder, der unverschuldet in diesen Job als Uhrzeiger hineingeboren worden war. Stetig drehte er sich im Kreise, kreiste so lange es die Mechanik des Weckers wollte. Als der Tag des Stillstandes gekommen war, nahm er sich zum ersten Mal die Zeit durch das dünne Glas nach außen zu schauen. Was er dort sah faszinierte ihn. Er sah das kleine, frisch bezogene Bett, den bunten Flickenteppich auf dem Boden, das Kreuz über der Tür und Unmengen von Spielsachen, die unordentlich im gesamten Raum verteilt waren. Er wollte raus, seinem Willen folgen, die Welt erfahren, sie begreifen und am Leben auf der anderen Seite teilhaben.
Also zerschlug er voller Erwartung das Glas, löste sich von der Uhr und begann die Freiheit zu genießen.
Nach etwas weniger als einem Jahr kannte er das Kinderzimmer in dem er von nun an lebte in und auswendig. Bald fing er an sich zu langweilen, saß gedankenverloren in den dunklen Ecken des Raumes, weinte oftmals und sehnte sich nach mehr. Dann, eines Tages wurde er von einer lieblosen Hand gepackt und unsanft auf die Fensterbank geworfen. Was er hier entdeckte verschlug im beinahe den Atem. Er blickte hinunter auf die Straße, sah fremde Gesichter, Bäume, saftig grüne Wiesen und den Schein der Sonne der ihn unmittelbar in seinen Bann zog. Von nun an saß er den ganzen Tag auf dieser Fensterbank und beobachtete das Treiben auf der Straße. Als die Sehnsucht zu groß wurde unterdrückte er seine Angst und ließ sich durch den dünnen Spalt, vorbei an dem Glas das ihn von seiner Freiheit trennte hinunter, in den Garten des Hauses fallen.
Er fühlte sich wie neugeboren, atmete tief die frische Frühlingsluft ein und machte sich auf die Welt zu erkunden.
Viele Jahre lebte er recht unbeschwert, blieb wo es ihm gefiel, zog weiter wo nicht.
In seinem zehnten Winter in Freiheit jedoch, als seine Beschichtung den stetigen Schnee und Regenfällen sowie der klirrenden Kälte nicht mehr standhalten konnte fing er an zu rosten.
Erneut machte er sich auf die Suche. Auf die Suche nach einer weiteren Scheibe hinter der das wahre Leben von statten gehen musste, denn das konnte einfach nicht alles sein.



Eingereicht am 06. Januar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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