Hallo, hier John Moodie. Versuch einer Novelle
Ulrich Rakoún
Prolog:
Den Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe.
Das heißt:
je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind,
desto sinnvoller
wird unser Leben.
Hermann Hesse
Erstes und einziges Kapitel.
Ganz so, wie es hätte sein können und doch niemals gewesen ist...
Heute ist Freitagabend, der 10. September 1999, und das Wochenende steht kurz vor der Tür. Ich gehöre zu der "weißen Minderheit" dieses Landes und lebe seit fünfunddreißig Jahren in einem Township in der Nähe von Johannesburg in Südafrika. Vor drei Jahren hat man meinen Sohn Steve auf dem Nachhauseweg von seiner Arbeit in der Nähe des Supermarktes, in dem er immer die Einkäufe für seine Mutter machte, auf offener Straße erschossen, und vor fünf Tagen hat man nun auch meine Frau Winnie, als sie abends
von dem Haus der reichen Familie eines schwarzen Bankiers, wo sie im Haushalt und als Putzfrau beschäftigt war, nach Hause fahren wollte, hinterrücks mit einem schweren Gegenstand erschlagen und ihr dann die Handtasche mit 20 Rand in ihrem Portemonnaie geraubt. Meine Tochter und ich kommen gerade von ihrer Beerdigung auf dem Friedhof in Soweto, wo wir beide leben.
Ich habe jetzt nur noch meine kleine Tochter Sarah-Jane, die vor kurzem sechzehn Jahre alt geworden ist und die ich am liebsten gar nicht mehr aus dem Hause lassen möchte, aus Angst, auch ihr könnte etwas Schlimmes zustoßen und ich würde sie nicht mehr lebendig wiedersehen. Denn dann wäre ich ganz allein auf der Welt, ohne einen lebenden Verwandten, und außer ein paar wenigen, alten Freunden gäbe es niemanden mehr, zu dem ich gehen könnte, um über meine alltäglichen Sorgen und Probleme zu reden, so wie ich es
immer mit Winnie getan habe. Gott möge mir verzeihen, aber manchmal verfluche ich dieses Land und seine Regierung und natürlich die Schwarzen, denen Gott alle Macht und allen Reichtum gegeben hat, wovon wir Weißen unser ganzes Leben lang nur träumen. Obwohl wir nun seit über neun Jahren ohne das alte Apartheit-Regime leben, hat sich doch nicht sehr viel für uns Weiße dabei verändert. Manchmal denke ich, dass es viel besser wäre, wenn ich jetzt auch dort sein würde, wohin meine Frau und mein Sohn gegangen sind,
denn dann wäre ich nicht ganz so allein. Aber ich muss weiterleben, weil ich noch eine Aufgabe zu erfüllen habe, auch, wenn diese nur darin bestehen sollte, dass ich ein guter Vater für mein einziges noch lebendes Kind, meine Tochter, sein möchte. Dann bekommt alles wieder für kurze Zeit einen wirklichen Sinn, und ich schöpfe neuen Mut, der mich am Leben erhält in einer Zeit, die immer dunkler wird, trotzdem es an sich besser geworden ist, will man der Regierung Glauben schenken, da ja unser weißer Führer Nelson
Mandela, den man vor neun Jahren in die Freiheit entlassen hat, nun auch unser Präsident ist. Aber Theorie und Praxis haben oft zwei verschiedene Gesichter oder besser Gesichtshälften in einem Land, wie dem unseren, und hätte sich alles so verändert, was man in der Theorie hatte ändern wollen, wäre sicher auch das praktische Leben mit der Zeit anders geworden. So denke ich von Zeit zu Zeit, wie es wohl wäre, wenn die Schwarzen einmal das Leben in einem Staat mit der Apartheit hätten leben müssen, wie wir Weiße
es früher gelebt haben und noch heute in einer etwas milderen Form leben. Wenn sie, als reiche Schwarze, einmal einen Tag so ausfüllen müssten, wie wir armen Weißen ihn verbringen, wäre dies wohl für manchen von ihnen ein ganz besonderer Kick, den er oder sie sich vielleicht sogar noch etwas kosten lassen würde. Beispielsweise am morgen, anstatt in einem schönen, weichen Bett in einer großen, weißen Villa eines Nobelviertels von Johannesburg, in einem schmutzigen, mit Wellblech bedeckten Häuschen eines Townships
zu erwachen und den Tag so zu verbringen, wie es ein Weißer normalerweise tut, wenn er nicht etwas ganz besonderes ist und zu der neuen Klasse der reichen Weißen zählt, die ebenso umzäunt und geschützt leben, wie es die privilegierten Schwarzen schon seit jeher tun.
Aber dies bleibt für den Schwarzen nur Utopie oder ein böser Traum, der Gott sei Dank niemals für ihn in Erfüllung gehen wird. Für uns Weiße gibt es außer dem Traum von einer besseren Wirklichkeit, keine andere Realität, als nur diese allein - von der Armut und den damit verbundenen alltäglichen Sorgen. Von den vielen Wunden, die uns die Rassentrennungspolitik im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zugefügt hat und für die es keinen Arzt gibt, ob schwarz oder weiß, der sie verbinden und heilen könnte. Der freiwillig
einen Schritt über die Türschwelle eines Hauses wie des meinen setzen würde, in dem Winnie, Steve, Sarah-Jane und ich so viele Jahre in unserem bescheidenen Glück gemeinsam verbracht haben. Die Angst vor dem Elend und der Armut, in der wir gelebt haben und zum Teil immer noch leben, wäre für den schwarzen Mann zu groß, nämlich die Angst davor, sich an dem Leid der anderen, die immer auch die ärmeren sind, zu infizieren und dann vielleicht auch ebenso krank, schwach und hilflos zu werden wie diese, ja wie wir,
die Untermenschen des Township, hielte jeden Mediziner wohl davon ab, in ein Haus wie mein Haus, das für manch einen der höheren Herrschaften doch nur eine bessere Hütte ist, einzutreten.
So denke ich, John Moodie, den sie alle immer nur Johnny den großen Träumer nennen, weil ich meinen Traum von einem besseren Leben in Gleichberechtigung und Wohlstand niemals ganz aufgegeben und zu Ende geträumt habe, manchmal morgens, noch bevor der neue Tag richtig begonnen hat und die Sonne über unserem Land, der großen Stadt und dem Township und vielleicht auch über den Homelands, in denen einige meiner Freunde aus der Jugendzeit leben, aufgegangen ist. Aber dann kommt doch immer alles ganz anders, und die
Gedanken wandern automatisch wieder dahin, von wo sie ihren Ausgang genommen haben. Zu meinem Tagesablauf, meiner Arbeit in der Schuhfabrik und zu den Kollegen und dann etwas später, wenn Gott will, zu einem neuen Feierabend, den ich mit meiner Tochter Sarah-Jane gemeinsam in unserem Wohnzimmer, das auch gleichzeitig als Eßzimmer dient oder auf der kleinen Veranda unseres Hauses verbringen werde. Aber das ist noch etwas zu weit im voraus gedacht, denn man weiß nie, was der neue Tag noch alles bringen kann. Gott
weiß es wohl, denn er muss es ja schließlich wissen, aber Johnny Moody weiß es noch nicht, und so wird er, werde ich erst einmal diesen Tag wie jeden neuen Tag beginnen, indem ich für meine Tochter und mich das Frühstück zubereiten werde, damit wir beide den Bus nach Johannesburg um fünf Uhr dreißig noch pünktlich erreichen können.
Als Sarah-Jane und ich dann im Bus nach Johannesburg dicht gedrängt nebeneinander sitzen, kommt mir der Gedanke, dass ich Gott eigentlich noch dankbar dafür sein müsste, dass er mir wenigstens noch eines meiner Kinder gelassen hat. Einer meiner Freunde aus der Fabrik hatte gleich zu Beginn der blutigen Rassenunruhen in Soweto alle seine fünf Söhne, die noch im Schulalter waren und sich am Schüleraufstand beteiligt hatten, verloren. Jetzt ist vor kurzem auch noch seine Frau Linda an Krebs gestorben, und er steht
ganz allein da. Ja, man müsste Gott wirklich täglich danken für alles Gute, das man von ihm erhalten und für alles Böse, das er von einem ferngehalten hat. Denn der Mensch ist bekanntlich blind für Gottes Wege und denkt immer nur an sein eigenes, kleines und bescheidenes, irdisches Glück. Ich, John Moody, muss versuchen, das Leben mit anderen Augen zu sehen, denn dann werde ich meine Angst vor dem Morgen sicher verlieren. Wie und wo immer dies sein mag! Denn es liegt doch alles in eines Höheren Hand. Trotz des
ohrenbetäubenden Lärms im Bus, wurde es plötzlich ganz still in Moodies Herz, so als hätte er sich gerade wieder versöhnt mit dem, der ihm seinen Sohn und unlängst vor wenigen Tagen auch noch seine Frau genommen hatte. Der Mensch brauchte Versöhnung, um seinen inneren Frieden wiederzufinden. Dann bekam alles im Leben einen ganz neuen und anderen Stellenwert, und man sah sein Leben wie aus einer neuen Perspektive. Einer von oben, einer Vogelperspektive. Und Moody spürte, dass er alles wieder fest im Griff haben
würde, wenn er Winnies Tod erst einmal vollständig verarbeitet hätte. Alles Leben brauchte seine Zeit und auch das Sterben und der Tod. Ja, Gottes Wege waren letztendlich doch gut, auch, wenn es nach außen nicht den Anschein haben mochte. Eines Tages würden sie alle, sein Sohn, seine Frau und Sarah-Jane, wieder eine Familie sein. Eines Tages... John Moody konnte den Gedanken nicht mehr ganz zu Ende denken, weil der Bus an der Haltestelle, die sich nicht weit von seiner Fabrik befand, angekommen war und er, nachdem
er sich kurz von Sarah-Jane verabschiedet hatte, aussteigen musste. Sarah-Jane musste noch drei Stationen weiter fahren bis zu ihrer Arbeitsstelle in einem großen Geschäft in der Innenstadt. Sie würden sich erst um sieben Uhr abends, nach einem langen Arbeitstag, zu Hause wiedersehen. Es war Montag und ein Tag wie jeder andere, nur, dass nun beide durch das Wochenende etwas erholt und gestärkt waren. Winnie war heute eine Woche tot.
Als John Moody aus dem Bus gestiegen war, hatte er sich die Nase mit einem von seiner Tochter frisch gewaschenen und gebügelten Taschentuch schnäuzen müssen, aber es waren eigentlich die Tränen gewesen, die er sich aus den Augen hatte wischen wollen, um sie vor seiner Tochter zu verbergen, als er das Tuch vor seine Nasen- und Augenregion drückte und es danach schnell wieder in seiner rechten Hosentasche verschwinden ließ. Sarah-Jane brauchte nicht zu sehen, wie sehr ihr Vater noch unter dem Tod seiner Frau litt,
denn sie hatte es bestimmt genau so schwer, wie er. Denn eine Mutter konnte ihr John nicht ersetzen, das wusste er genau, und er wurde noch trauriger bei dem Gedanken, dass seiner Tochter nun vielleicht zu Hause die nötige Nestwärme fehlen würde, die sie sich deshalb woanders suchen musste, als in den vier Wänden ihres Elternhauses.
Heute Abend würde er seiner Tochter den Vorschlag machen, zusammen mit ihr für ein paar Tage zu verreisen, um ein bißchen auf andere Gedanken zu kommen und von all den vielen schlimmen Dingen der jüngsten Vergangenheit Abstand zu gewinnen. Vielleicht würde es ihnen ein wenig helfen, einmal einige Zeit an einem anderen Ort, wie zum Beispiel Durban, zu verbringen und nicht immer nur zu Hause an Sterben und Tod zu denken. Und an die sich daran unweigerlich anschließenden Beerdigungen. Winnie hatte so wunderbar friedlich
in ihrem Totenkleid und in ihrem Sarg ausgesehen, und es wäre bestimmt nicht ihr Wunsch gewesen, Sarah-Jane und ihren Mann den ganzen Tag über traurig und deprimiert zu sehen. Nein, Winnie war immer ein fröhlicher Mensch gewesen, und sie hatte mit ihrem Lachen die ganze Umwelt angesteckt und ein wenig glücklicher gemacht. Sie würde bestimmt nicht wollen, dass sie beide, er und seine Tochter, ständig nur an ihren Tod dachten. So kam es John Moody in den Sinn, bevor er das Tor zu seiner Fabrik betrat, um dann nur
noch an seine Arbeit zu denken, die er wie immer für seinen schwarzen Chef zu erledigen hatte. Die Arbeit duldete keinen Aufschub, auch nicht aufgrund von persönlichen Schicksalsschlägen. Aber trotzdem würde er, der fleißige John Moody, heute in der Mittagspause um eine Woche Urlaub bitten, das hatte er sich fest vorgenommen. Das erste Mal seit vielen Jahren wieder ein richtiger Urlaub weit weg vom Township und den Erinnerungen an manche glückliche und an noch mehr unglückliche Zeiten. Sarah-Jane würde sich sicher
auch sehr darüber freuen und hoffentlich auch von ihrem Geschäft ein paar Tage Urlaub bewilligt bekommen.
Vier Wochen später saßen John Moody und seine Tochter Sarah-Jane auf dem Sand am weißen Strand von Durban, beide in einem neuen Badeanzug und mit ein bißchen guter Urlaubslaune im Gepäck. Sarah-Jane hatte ihren neuen Rucksack mit zum Strand gebracht, in dem sie genug zu trinken und zu essen eingepackt hatte, dass es für den ganzen Tag reichen musste.
Man war am gestrigen Nachmittag in Durban mit dem Zug angekommen und hatte sich kurze Zeit später in einer preiswerten Pension, die in nicht allzu weiter Entfernung vom Meer lag, für die nächsten anderthalb Wochen einquartiert. Ja, anderthalb Wochen Urlaub war ihnen beiden bewilligt worden, und dies war noch nicht einmal der gesamte Jahresurlaub, der Vater und Tochter zustand. Sarah-Jane hatte sich in Johannesburg noch ein neues, buntes Sommerkleid gekauft, das sie auf der Hinreise schon einmal getragen hatte
und das jetzt frisch geglättet in ihrem Schrank in der Pension hing und auf ihren ersten großen, gemeinsamen Ausgang wartete. Auch John bekam für den Strandurlaub eine neue Sommerhose und ein kurzärmliges Hemd mit einer passenden Krawatte, wobei ihn Sarah-Jane, wie dies früher Winnies Aufgabe gewesen war, fachmännisch beraten hatte. Seine Sachen lagen noch schön zusammengefaltet in ihrem gemeinsamen, neuen Lederkoffer, und John würde sie das erste Mal am heutigen Abend tragen, wenn er mit seiner Tochter in einem
Restaurant speisen würde. Er war schon früher einmal mit Winnie und den beiden Kindern in Durban gewesen, aber das war schon eine lange Zeit her, gleich nach dem Ende der Apartheit. Damals hatte es noch an so manchem gemangelt, aber jetzt sollte es seiner Tochter und ihm an nichts fehlen, das hatte sich John selber versprochen. Versprechen müssen, um sich in die Augen sehen zu können. Die beiden würden immer gut essen und trinken und am Abend noch ins Kino gehen, obwohl es auf dem Zimmer auch einen Farbfernseher
gab. Mit der Zeit würden sie so etwas Abstand von den grauenhaften Ereignissen der Vergangenheit gewinnen. Der Schmerz, der sich tief in ihrer beider Seelen eingegraben hatte, würde sich dann allmählich lösen. Geist, Leib und Seele sollten langsam entkrampfen und wieder in einen ganz normalen Zustand, den des inneren Gleichgewichts, übergehen. Diese Hoffnung trug John Moody im Stillen in seinem Herzen, als er das dicke, mit Wurst belegte Butterbrot, von seiner Tochter gereicht bekam. Ja, es musste einen Neuanfang
geben, so wie es einen gnädigen Gott im Himmel geben musste. Einen, der über ihnen wohnte und der auf John und seine kleine Tochter Sarah-Jane hinunter sah. Einen Gott, der nicht wollte, dass die Menschenkinder so sehr unter der Last ihres Lebens und Leides litten, weil er sie gemacht und auch irgendwie lieb hatte. John Moody hatte schon in das Brot gebissen, als ihm seine Tochter noch eine gekühlte Dose mit Coca-Cola reichte, die er fast in einem Zug leer trank und deshalb seine geistigen Betrachtungen über
Gott und die Welt für einen kurzen Augenblick unterbrechen musste. Das Leben begann ihm langsam wieder zu schmecken, so wie ihm Sarah-Janes Butterbrot schmeckte. Aber es war etwas, das in seinem Leben noch fehlte und dass das Brot schon in sich hatte. Eine Zutat, die seine Tochter bei ihren Vorbereitungen für ihr gemeinsames Strandpicknick nicht vergessen hatte, zwischen die beiden Scheiben des Brotes zu legen. Etwas von ihrer Liebe hatte sie zwischen die Wurst und die Gurkenscheiben getan. Und als John Moody
langsam und bedächtig sein Brot verzehrte, gelang auch etwas von der Liebe seines Kindes in seinen Magen und in seinen Blutkreislauf und von dort weiter in sein Gehirn und in seine Gedanken. Wie gering waren doch die Mittel gewesen, mit denen sie dies alles vorbereitet hatte und wie groß ihre Wirkung! Aber Liebe bedurfte oft keiner großen Mittel und noch viel weniger großer Worte. Sarah-Jane lächelte nur kurz für ein einziges Mal, und John Moody erkannte, dass sein Rezept eines Strandurlaubs bereits seine erste
Wirkung zeigte.
Eine strahlende Sarah-Jane wartete am frühen Abend vor dem Eingang der Pension in ihrem neuen, gelben Sommerkleid mit den großen bunten Blumen, auf einen ebenso stattlich gekleideten Vater, der seine Tochter zum Essen in ein Restaurant und danach ins Kino ausführen wollte. Auch John hatte sich fein herausgemacht, um seiner Tochter keine Schande zu bereiten. Seine neue, hellblaue Hose und sein dunkelblaues Hemd mit der mit wilden Tieren gemusterten Krawatte, machten ihn zu einem ansehnlichen, noch nicht alt wirkenden
Mann, der sicherlich auch auf Winnie eine anziehende Wirkung ausgeübt hätte. Aber John dachte jetzt weder an eventuelle kritische, noch an die würdigenden Blicke seiner lieben Frau, die immer irgendwie auf ihm ruhten, denn er wollte nur seiner Tochter eine besonders schöne Zeit in Duban bereiten, ehe sie beide wieder zurück in den tristen Alltag ihres Heims und an ihre Arbeit zurückkehren würden. Der Gedanke an Johannesburg lag jedoch vorerst noch in weiter Ferne. Anderthalb Wochen Urlaub am Meer! Der Körper
und vor allem die Seele des jungen Mädchens brauchten Erholung und sollten sie auch bekommen. Sarah-Jane hatte begriffen, dass John ihr ein Stück Himmel schenken wollte, bevor es wieder zurück in die "irdische Hölle" gehen sollte oder wie immer man diesen Zustand auch bezeichnen mochte. Sie lächelte ihren Vater dankbar an, womit dies ihr zweites Lächeln am heutigen Tag war, bevor sich beide auf den Weg zu einem der im Reiseprospekt empfohlenen Restaurants für Weiße machten. Der heutige Abend sollte
für beide, Vater und Tochter, nur eine von einer Reihe von wunderbaren Erinnerungen werden, das hatte John fest geplant, und sein Plan würde bestimmt in Erfüllung gehen. Und es sollte schließlich auch alles so kommen.
Das Essen in dem Restaurant, in dem fast nur Weiße und Inder speisten, war wunderbar gewesen. Noch nie hatten sie beide eine so reichliche Auswahl, besonders an Fischgerichten, in einem Restaurant und auf einer Speisekarte, gesehen. Auf jedem der kleinen Tischchen hatte eine Kerze gestanden, die der Kellner, gleich nachdem sie an ihrem Tisch angekommen waren, angezündet hatte, und es war richtig romantisch während des Essens und im weiteren Verlauf des Abends geworden. Auch im Gespräch waren beide weit weg von
den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit gewesen, und der Tod von Steve und seiner Frau Winnie wurde in keiner Weise mehr angeschnitten oder berührt, so als hätte es diese Vorfälle gar nicht gegeben. Ja, es hätte wirklich ebenso gut sein können, dass sie niemals vorgefallen waren und dass Steve und Winnie nur eben einmal aufgestanden waren, um die Toilette aufzusuchen. Sie würden sicher gleich wieder hereinkommen und auf ihren Stühlen Platz nehmen. Dann wäre alles wieder so, wie es immer gewesen war und sein
würde. Man vermißte die beiden deshalb am heutigen Abend auch nicht besonders. Sie waren und blieben ein Teil im Herzen von John und Sarah-Jane. Ein ganz besonderer Teil, der sich nicht auslöschen ließe. Denn niemand wollte diesen Teil jemals auslöschen, weil damit auch die Erinnerung an die beiden geliebten Menschen für immer verlöschen würde und später vielleicht das Leben selbst.
In dem anschließenden Film mit Whoopi Goldberg und Michael York "A Knight in Camelot", der in dem nicht weit vom Restaurant entfernten Kino aufgeführt wurde, hatte Sarah-Jane gleich mehrere Male hintereinander gelacht. Auch John hatte gelacht, weil ihn das Lachen seiner Tochter angesteckt hatte und nicht, weil er die Szenen und Pointen im Film so lustig fand. Und John war überzeugt davon, dass Sarah-Janes Herz das erste Mal wieder richtig fröhlich war, nach einer langen Zeit der inneren Traurigkeit
und des Kummers über den Verlust der zwei so innig geliebten Menschen. Ja, ihr Herz hatte gelacht und dabei sein Herz mitgerissen in einen Strom von Lachen, der fast nicht mehr hatte enden wollen. Sie hatte sich die Tränen mit ihrem Lachen heraus geweint oder heraus gelacht, ganz so, wie man es sich vorstellen wollte und konnte, und das war bestimmt besser gewesen, als alles Weinen der vergangenen Zeit. Ja, an diesen Abend und an hoffentlich viele weitere ihres Urlaubs würden die beiden noch lange zurückdenken.
Sie würden einmal ein Teil einer wunderbaren Erinnerung sein, die niemand ihnen beiden nehmen konnte. Sie würde ihnen bleiben, so wie Steve und Winnie immer blieben, nämlich ein Teil in ihrer beider Herzen. Ein ganz besonderer, wunderschöner Teil, der niemals sterben und vergehen konnte. Ein Teil auch, den sie einmal mitnehmen würden, wenn sie eine längere Reise antreten mussten, wo immer diese Reise auch hingehen sollte. Sarah-Jane hatte während des Films nach der Hand ihres Vaters gegriffen, und John hatte
ihre Hand fest in der seinen gehalten, so als wollte er das einzige auf der Welt, das ihm noch geblieben war, niemals mehr loslassen. Aber es blieb ihnen beiden nur dieser einzige, kurze Augenblick des gemeinsamen Glücks, das in dem Moment, wo es ihnen als solches richtig bewusst wurde, eigentlich schon vergangen und vorbei war.
Bis zum Ende ihres Urlaubs waren Sarah-Jane und John fast jeden Abend gemeinsam in das gleiche, kleine Restaurant mit den Kerzen auf den Tischen und danach manchmal noch in das nicht weit von der Pension und vom Strand entfernte Kino gegangen. Und nach dem Kino oder Essen lud die wunderbare, sommerlich warme Abendluft die beiden Urlauber noch zu einem ausgedehnten Spaziergang ein, den sie meistens auf der Uferpromenade unternahmen. Schweigsam und ohne allzu große Worte, denn irgendwie hatten sich Vater und Tochter
nicht so viel zu sagen, weil alles Wichtige schon gesagt worden war. So ging man oft nur stundenlang nebeneinander her, schaute auf das Meer und manches Mal auf die langsam untergehende Sonne am Horizont und ließ die Seele dahin wandern, wohin sie wollte. Es war wichtig, dass sich dieser Teil des Menschen langsam von allein erholte, und was konnte dabei besser helfen, als die Natur und ein durch sie im Einklang mit ihren Objekten lebender Mensch. Die Natur, Sonne, Strand und Meer waren der weit bessere Arzt.
Einen besseren würde es auch in Soweto nicht geben, einen, zu dem man immer Zugang hatte und den man nicht erst bitten musste, zu kommen. Ja, es brauchte keiner großen Worte zwischen John und seiner Tochter, denn es stand etwas zwischen ihnen, das niemand zerreißen konnte. Ein festes, unsichtbares Band, das Liebe und Vertrauen hieß und ein dickes Bündel Erinnerungen, das von Tag zu Tag dicker wurde, denn die beiden erlebten ständig so viel neues am Strand, auf ihren Ausflügen, in den vielen kleinen Erfrischungsbuden
und Schnellrestaurants an der Uferpromenade und natürlich am Abend in Sarah-Janes Lieblingsrestaurant, dass man jetzt schon einen kleinen Roman darüber hätte schreiben können. Einen Tatsachenroman mit vielen bunten Bildern darin. Aber genau so schnell, wie die beiden die schöne Zeit erlebten, ging dieselbe auch vorbei, und es blieben ihnen bald nur noch wenige Stunden bis zu ihrer Abreise nach Johannesburg, die sie noch einmal bei einem gemeinsamen Abendessen mit Kerzenschein verbrachten. Sarah-Jane strahlte
an diesem, ihrem letzten Abend auf wunderbare Weise, und John dachte später noch oft an die letzte gemeinsame Zeit, die ihnen geblieben war, zurück. Sie hatte sogar etwas Farbe während ihres Urlaubs im Gesicht und am gesamten Körper bekommen, und John würde später oft die alten Fotos herausholen, wenn er sich einsam und traurig fühlen sollte, um die Erlebnisse mit seiner Tochter in seinem Gedächtnis wieder aufzufrischen.
Am folgenden Morgen saßen Vater und Tochter in ihrem Zug nach Johannesburg, und ein paar Tage später würden beide auch wieder mit ihrer Arbeit beginnen. Die schöne Zeit war viel zu schnell vergangen, aber es waren wundervolle Tage und Abende der Freude und des Glücks daraus geworden, die beide niemals würden missen wollen. Die sie um so mehr vermissen würden, wie sie sich innerlich davon entfernen würden. John war überzeugt davon, dass seine Tochter ein bißchen vom "Himmel auf Erden" abbekommen hatte,
den sie auch wirklich dringend benötigt hatte. Hoffentlich würde der Neuanfang im Alltags- und Berufsleben nicht allzu schwer für sie beide werden, dachte ein fürsorglicher Vater, als er mit seiner Tochter auf dem Bahnhof in Johannesburg aus dem Zug stieg.
Aber seine Befürchtungen sollten letzten Endes doch unbegründet bleiben, weil besonders Sarah-Jane alles mit einer spielerischen Leichtigkeit in Angriff zu nehmen und zu bewältigen schien. Ja, es schien ihr leichter zu fallen, als ihrem Vater, dem die Umstellung vom Urlaub auf den Berufsalltag zu Anfang noch einige Probleme machte. So vergingen die nächsten Tage, Wochen und Monate wie im Flug, und man hatte insgeheim schon wieder einen kurzen Urlaub für das kommende Jahr in Durban geplant. In der gleichen kleinen
Pension mit der Nähe zum Meer und zur Uferpromenade.
Ein halbes Jahr war inzwischen vergangen, der Sommer in Südafrika, der in Europa diesmal ein ziemlich strenger Winter gewesen war, hatte einem milden Frühling Platz gemacht, und spätestens im Zeitraum vor Weihnachten wollten Vater und Tochter wieder ans Meer fahren, wo sie so glückliche Stunden verlebt hatten. Aber bis dahin würden noch einige Monate vergehen, und es gab eine Menge Arbeit für sie beide. Dann hätten sie sich den Urlaub auch wirklich verdient, von dem sie beide träumten und der ein Ausgleich für
manche schwere Stunden sein sollte! Winnie und Steve waren von den beiden noch nicht vergessen worden. Sarah-Jane brachte jeden Monat einen Strauß frischer Blumen zu den Gräbern, und im Haus hatte sie überall Photos in bunten Bilderrahmen aufgestellt, auf denen ihre Mutter und ihr Bruder abgebildet waren. Die Betten der beiden toten Familienangehörigen waren mit Kissen und gehäkelten Deckchen geschmückt worden, so dass man nicht den Eindruck bekam, dass hier in diesem Haus jemals Trauer geherrscht hatte, so bunt
und feierlich war alles von seiner Tochter hergerichtet und geschmückt worden. Ja, Winnie hätte dieser Umgang mit Tod und Trauer sicher auch sehr gut gefallen, weil sie immer so fröhlich gewesen war. Steve war dagegen immer von etwas ernsterer Natur gewesen, aber niemals so sehr, dass man ihn als depressiven Menschen hätte bezeichnen können. Er lachte auch manchmal, aber doch sehr zurückhaltend, so, als müsse er die Reaktion auf sein Lachen erst noch abwarten. Das Leben in Soweto, besonders die Zeit unter der
Apartheit, hatten ihn ernster und reifer und vielleicht auch sehr schnell älter gemacht. Als Kind sehr zart, war er oft Opfer jugendlicher Straßenbanden geworden, die in kriegerischen Auseinandersetzungen miteinander standen. Opfer oder Prügelknabe, weil er sich zu keiner der verschiedenen Seiten hingezogen fühlte. Die Spannungen zwischen ihm und den rivalisierenden Schlägergruppen waren nicht so, wie die zwischen Weißen und Schwarzen gewesen , bei denen dann immer die Weißen den Kürzeren gezogen hatten. Es war
mehr wie ein Modell des Alltagskriegs von Südafrika auf den Straßen von Soweto, und Sieger blieben immer die Burschen mit den härteren Fäusten. Steve wollte sich jedoch nicht schlagen und wurde von beiden Parteien nur für ihre Zwecke und als Ventil für deren Spannungen benutzt, je nach Lust und Laune der anderen Jugendlichen. So, wie man die schwächeren beschimpft und schlägt, weil sich diese nicht wehrten und vielleicht auch, weil man so seine eigene Schwäche am besten besiegen konnte. Mit den Schwarzen hatte
Steve komischer Weise Zeit seines Lebens weniger Probleme gehabt, als mit gleichaltrigen Weißen seines Ghettos, dem Township Soweto. Ja, so konnte es im Leben kommen, man gehörte seit seiner Geburt einer bestimmten Rasse an, die eine ethnische Minderheit darstellte und die diskriminiert wurde. Und doch spürte man eine größere Zugehörigkeit und Verbundenheit zur anderen Seite, nämlich zu den Schwarzen. Bei Steve musste es so gewesen sein, denn es hatte wohl kaum jemals einen Weißen gegeben, ob in Sport, Literatur
oder Wissenschaft, den er verehrt hatte. Immer waren es nur die Schwarzen gewesen, denen seine heimliche Zuneigung und Sympathie galt. Er hätte in seiner Kindheit auch gerne einen farbigen Freund gehabt, aber die Rassentrennungspolitik verhinderte dieses. Als sich dann alles endlich, wenigstens auf dem Papier, verändert hatte, war es für eine Veränderung in seinem Leben zu spät gewesen, denn es hatten sich schon zu viele Verhaltensweisen und inneren Regeln in ihm ausgebildet. Man konnte solche festen Verhaltensweisen
später nicht oder nur noch sehr schwer ändern, das wusste John. Und für Steve war es jetzt ohnehin zu spät. Denn Steve und Winnie waren tot.
Inzwischen war es Anfang November und immer wärmer geworden, und bei John und Sarah-Jane hatte sich die Vorfreude auf den geplanten Urlaub fast schon in ein Unendliches gesteigert, so dass eine gewisse Nervosität in ihrer beider Verhalten nicht zu übersehen war. Sarah-Jane hatte im Schlußverkauf ihres Geschäftes, in dem sie tätig war, zwei neue Röcke und ein paar dazu passende Blusen mit kurzem Arm billig erstehen können und für John zwei Oberhemden in dessen Größe gekauft, die ihrem Vater auch gut gefielen.
Schuhe konnte John in seiner Fabrik günstiger einkaufen und hatte sich und Sarah-Jane bereits mit allem nötigen für die Ferien an Meer und Strand eingedeckt. Jetzt warteten beide fieberhaft auf den Tag, an dem es losgehen sollte, auf den Montagmorgen in drei Wochen.
Die letzten drei Wochen Arbeit würden schnell vergehen, und ehe man sich versah, würde man wieder am Meer sitzen, die Sonne auf den eingeölten Körper brennen lassen und die Möwen bei ihren Sturzflügen in die Wellen beobachten. Ehe man sich versah... John Moody stoppte bei seinen Gedanken, weil Sarah-Jane den Raum betreten hatte, um sich von ihrem Vater zu verabschieden, denn sie wollte noch mit ein paar Freundinnen, wie manchmal am Samstagabend, in Johannesburg eine Diskothek besuchen. Drei Männer würden zur
Sicherheit der Mädchen auch dabei sein, und um spätestens zehn Uhr abends wären sie alle wieder zurück. So hatte es Sarah-Jane fest versprochen. Versprechen müssen. Für den Rückweg würde man zusammenlegen und zwei Taxis nehmen, damit alle sicher wieder nach Hause kämen, denn abends wurde die Stadt zu einer der gefährlichsten Schauplätze der Welt. John hätte seine Tochter am liebsten gar nicht aus dem Haus gelassen, aber er wusste, dass dies auch nicht die richtige Methode war, um das Leben seiner Tochter zu beschützen.
Sie musste jeden Tag nach Johannesburg zur Arbeit, und Winnie und Steve waren ja auch auf dem Weg von der Arbeit nach Hause gewaltsam ums Leben gekommen. Nein, es gab keine hundertprozentig sichere Methode, das Leben seiner Tochter abzusichern, das wusste John, als er seiner Tochter beim Abschied die Hand gab und sie diesmal ganz fest drückte, so als wollte er noch sagen: "Komm sicher nach Hause zurück, mein Kind!" Aber Sarah-Jane hätte es ohnehin nicht mehr gehört, denn sie war bereits über die Veranda
geeilt und hatte sich der kleinen Gruppe junger Leute angeschlossen, die nach Johannesburg fahren wollten. Vielleicht hatten es ihre Seele und ihr Herz durch den Händedruck ihres Vaters noch verstanden, was John ihr mit auf den Weg geben wollte. Aber John war nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Antwort, die ihres Herzens, aufgrund der räumlichen Entfernung zwischen ihnen beiden zu verstehen, selbst, wenn es eine solche für ihn noch gegeben hätte. Es war halb sieben Uhr am frühen Abend, als Sarah-Jane von ihm
fortgegangen war. Eine Tochter ihren Vater verließ.
Als Sarah-Jane um halb elf Uhr abends noch nicht von der Diskothek zurück war, begann John sich allmählich große Sorgen zu machen, und als sie gegen elf Uhr noch immer nicht wieder da war, rief er bei ihren zwei Freundinnen an, deren Telefonnummern ihm seine Tochter für den Notfall dagelassen hatte. Die Freundinnen waren beide schon wieder zu Hause bei ihren Eltern und erzählten John, dass Sarah-Jane noch eine andere Freundin in Johannesburg getroffen hätte, die sie überredet zu haben schien, noch ein weiteres
Lokal in der Nähe zu besuchen. Sarah-Jane hatte ihren Freundinnen jedoch versprechen müssen, bis spätestens zwölf Uhr Mitternacht wieder zu Hause bei ihrem Vater zu sein. Die beiden Mädchen sollten John diese Nachricht überbringen, falls dieser sich bei ihnen telefonisch erkundigen würde. Auch die drei jungen Männer seien mit den zwei Mädchen nach Soweto zurückgefahren und schon wieder bei ihren Eltern zu Hause. Sarah-Jane würde sicher später versuchen, von einer Telefonzelle zu Hause anzurufen, wie die Freundinnen
meinten, was bisher aber noch nicht geschehen war. So wartete John weiter ungeduldig auf den Anruf seiner Tochter, bis es schließlich zwölf Uhr Mitternacht war. Es war die Nacht von Samstag auf Sonntag, und es folgte der Tag, an dem niemand von ihnen beiden arbeiten musste. Der Ruhetag oder der Tag des Herrn.
Um halb eins entschloss sich John kurzerhand, die Polizeistation von Soweto anzurufen und sie über das Fernbleiben seiner Tochter zu informieren. Er machte sich so große Sorgen, dass es ihm egal war, ob seine Tochter später darüber verärgert sein würde oder nicht. Wichtig war ihm nur, dass sein Kind endlich nach Hause kommen würde und er sicher sein konnte, dass ihr nichts zugestoßen war. Dafür würde John alles, was er besaß und sogar sein Leben opfern. Und ihr gemeinsamer Urlaub lag in nicht allzu weiter Ferne,
die Ferien, auf die sie sich beide schon seit so langer Zeit gefreut hatten. Was war nur in Sarah-Jane gefahren, dass sie ihrem Vater solchen Kummer bereiten konnte? Waren sie nicht gerade erst allmählich über die schrecklichen Ereignisse im letzten Jahr hinweggekommen, wobei ihnen die wunderbare gemeinsame Zeit in Durban am Meer so sehr geholfen hatte! Aber junge Menschen dachten manchmal irrational und anders als Erwachsene und ließen sich zu sehr von ihren Gefühlen leiten. Sarah-Jane war an sich nie ein großer
Gefühlsmensch gewesen, aber vielleicht hatte John seine Tochter bis heute noch nicht richtig gekannt! Ja, so musste es wohl sein, denn manchmal kannte man seine engsten Verwandten und Familienangehörigen nicht richtig, obwohl man wohl glaubte, sie zu kennen. Oder Sarah-Jane war durch eine Kurzschlussreaktion dazu getrieben worden, sich auf irgendein unsicheres Abenteuer einzulassen. Und manchmal war es auch das Schicksal, das einen Menschen hier- und dorthin trieb, ohne, dass dieser es vielleicht selber wollte
und dafür verantwortlich war. Ja, der Mensch wurde von seinem Schicksal getrieben und das Ende war...
Am anderen Ende der Leitung meldete sich nun die jugendlich klingende Stimme eines Polizisten von der Polizeistation in Soweto, die John soeben angerufen hatte. Der Polizist fragte ihn, was er zu so später Stunde noch wünschte und John berichtete dem police-officer, der sich ihm als Andrew Masterson vorgestellt hatte, dass seine Tochter, die im letzten Monat gerade erst siebzehn geworden sei, nicht wie versprochen, um zehn Uhr am gestrigen Abend mit ihren Freundinnen von der Diskothek von Johannesburg zurückgekommen
sei und sich auch noch nicht bei ihm telefonisch gemeldet habe, wie sie es ihren Freundinnen gegenüber hätte versprechen müssen. Nun mache er sich aber sehr große Sorgen, weil seine Tochter noch nie in ihrem Leben so unüberlegt gehandelt habe, nicht einmal nach dem Tod ihres Bruders und ihrer Mutter. Es passe auch gar nicht zu ihr, anderen Menschen Kummer und Sorgen zu bereiten, zumal sie sich beide schon so auf den bevorstehenden Urlaub in Durban gefreut hätten und Sarah-Jane bereits die Urlaubskleidung, für
ihre gemeinsamen Ferien am Meer, eingekauft hätte. Irgendetwas müsse in ihrem Kopf vorgefallen sein und sich verändert haben, denn so sei ihm seine Tochter vollkommen fremd.
Der Polizist, der John noch persönlich kannte, da dieser beim Tod seines Sohnes und seiner Frau auch jedes Mal auf die Polizeistation gekommen war, von wo man dann mit ihm zum Polizeipräsidium und Leichenschauhaus nach Johannesburg fuhr, bat John höflich, erst einmal die Ruhe zu bewahren, denn junge Leute im Teenageralter handelten ja bekanntlich oft kopflos und seien nicht nach den Maßstäben von erwachsenen Menschen zu beurteilen. Seine Tochter könnte noch ein paar weitere Freunde oder Arbeitskollegen getroffen
haben oder noch zu einer Party eingeladen worden sein, so dass sie den Anruf an den Vater in der Zwischenzeit vollständig vergessen hätte. Sicher würde ihr das Versprechen, ihren Vater zu benachrichtigen, irgendwann wieder einfallen, und dann würde sie auch gleich anrufen oder sofort nach Hause fahren. Die Worte des Polizeibeamten, der nicht viel jünger als John sein musste, klangen irgendwie sehr beruhigend und ermutigend, aber John konnte ihnen keinen Glauben mehr schenken. Jetzt nicht mehr, denn er hatte durch
den Tod seiner Frau und seines Sohnes schon so viel Leid erfahren und durchgemacht, dass nun auch noch der letzte Funken Hoffnung in ihm erloschen war. Nach Winnies und Steves Tod hatte er oftmals am Tag in Gedanken zu Gott gebetet und gehofft, dass dieser weiteren Schaden von seiner Familie und von ihm fernhalten möge. Auch hatte er wieder regelmäßiger am Sonntag die Gottesdienste in der Baptistengemeinde besucht, in die er mit Winnie früher immer gegangen war. Nun aber war jedes kleinste Interesse an Gott aus
seinem Kopf und Herzen gewichen. Er fühlte sich plötzlich alt, betäubt und innerlich leer. Und fürchterlich krank, wie nach dem Ausbruch einer unheilbaren Krankheit, für die es noch keinen Namen, geschweige denn ein Medikament der Linderung oder Heilung gab. Alles in ihm bebte und schrie: "Winnie, Winnie, hilf mir bitte, ich kann nicht mehr, ich muss sterben. Komm, meine liebe Frau und reich mir die Hand. Laß uns gemeinsam nach unserer kleinen Tochter suchen! Hilf mir meine Liebe, damit ich nicht noch wahnsinnig
werde! Winnie, meine Liebe, komm und verlass mich nicht!"
Aber es gab keinerlei Reaktion auf seine unausgesprochenen Hilferufe, die doch so laut gewesen waren, dass jedermann sie hätte hören müssen. Sogar Tote in ihren Gräbern sie hätten hören können, wenn sie noch offene Ohren dafür gehabt hätten. Aber wenigstens alle Engel in der unsichtbaren Welt sie hätten hören müssen, um ihm zur Hilfe zu eilen. "Hilfe, Hilfe," schrie Johns Herz noch einmal, aber es kam keine Antwort, weder eine aus der sichtbaren, noch eine aus der unsichtbaren Welt. Und ein in wenigen
Minuten alt und zum Greis gewordener Mann hörte noch einmal die freundliche und hilfsbereite Stimme des Polizisten: "Wenn ihre Tochter bis zum Morgen noch nicht angerufen hat, melden sie sich bitte noch einmal bei mir, und falls ich etwas erfahren sollte, werde ich Ihnen sofort Mitteilung davon machen. Alles Gute, machen sie sich keine unnötigen Sorgen, die Jugend ist nun mal heutzutage so. Da kann man nichts machen. Gute Nacht."
Sarah-Jane war nicht so, das wusste John, es sei denn, dass ein böser Dämon in sie gefahren war, dem sie hatte nachgeben müssen. Nicht hatte widerstehen können. "Oh Gott, mein Gott, verlass meine kleine Sarah-Jane nicht," flüsterte John, als er den Hörer zurück auf die Gabel gelegt hatte und sich langsam auf den Teppich gleiten ließ. Alles Leben schien für einen unendlich lange dauernden Moment aus seinem Körper und aus seiner Seele zu weichen und kehrte danach mit fürchterlichen, krampfartigen Schmerzen
in den alten, sich abgestorben anfühlenden Leib zurück. Seine seelischen Qualen waren auch gleichzeitig seine körperlichen Qualen, und es gab nichts und niemanden, der sie hätte abstellen oder lindern können. Niemanden, außer vielleicht Gott. Aber Gott musste John Moody in dieser Nacht verlassen haben, der die Einsamkeit und Kälte in seinem Herzen und in seiner Seele so sehr spürte, wie er sie selbst nach dem Tod von Winnie und Steve nicht empfunden hatte. Denn damals hatte ihm Gott noch einen Menschen zur Unterstützung
in seinem Leid gelassen. Sarah-Jane war da gewesen, um ihm zu helfen, sie hatte ihren Vater in seiner tiefsten Verzweiflung nicht allein gelassen. Aber jetzt war auch keine Sarah-Jane mehr da, die ihm hätte zur Seite stehen und begleiten können. Denn er wusste es nun ganz sicher. Sarah-Jane war für jetzt und immer fort.
n Als John sich nach einer Stunde etwas beruhigt hatte und die Schmerzen langsam nachlassen wollten, drehte er den Radiosender von Johannesburg an, der zwischen den Musikstücken immer die neuesten Nachrichten brachte. Vielleicht war ja in der Stadt wieder etwas Schreckliches vorgefallen? Irgendein größeres Verbrechen passiert! John hoffte es nicht, denn dann würden seine Sorgen um sein Kind sicher noch bis ins Unendliche steigen, und er würde sich gar nicht mehr beruhigen können. Plötzlich ertönte die wunderbare
Stimme einer Frau aus dem Radio, die er vorher noch niemals in seinem Leben gehört hatte. Sonderbar traurig war ihr Klang. Eine Stimme wie ein klagender Engel, dachte John, als Maria Callas auf Italienisch zu singen begann. Sie sang ihr Lied: "Ohne Mutter bist du, Kind, gestorben," und ihr Gesang war so herzzerreißend und auf eine seltsame Weise schön, dass John wieder anfangen musste zu weinen. Er weinte alle Traurigkeit aus seinem Herzen und aus seinen weit geöffneten Augen, und als er damit fertig
war, fühlte sich seine Seele beruhigt, und er sank mit seinem Kopf völlig erschöpft auf das Kopfkissen seines Bettes und schlief fest und friedlich ein. Maria Callas hatte aufgehört zu singen, aber ihr Lied "Senza mamma" hatte John für einen Augenblick lang auf eine weite Reise mitgenommen und von seinen Schmerzen befreit.
Ein vor Traurigkeit eingeschlafener Mann wachte am frühen Morgen aus einem tiefen und erholsamen Schlaf auf und versuchte sich zu vergewissern, dass alles nicht nur ein böser Traum gewesen und dass seine Tochter in Wirklichkeit doch wie immer pünktlich nach Hause gekommen war. Er erhob sich deshalb schnell von seinem Bett und ging in das Zimmer von Sarah-Jane, in dem sich jedoch niemand befand und das noch genauso aussah, wie es seine Tochter am gestrigen frühen Abend verlassen hatte. Das Bett war ordentlich
gemacht worden und unberührt, so als hätte es vergeblich auf einen späten Gast, der aber doch nicht mehr gekommen war, gewartet, und John wusste jetzt, dass er nichts von alledem, was in der Zwischenzeit passiert oder nicht passiert war, geträumt hatte. Seine Tochter war nach dem gestrigen Discothekbesuch nicht mehr zu ihm zurückgekommen, und ihn packte die unbestimmte, aber irgendwie untrügerische Vorahnung, dass sie niemals mehr zu ihm zurückkehren würde. Dass er sein Kind verloren hatte, so wie er Steve und
Winnie vor gar nicht allzu langer Zeit verloren hatte. Er versuchte in der Zwischenzeit immer wieder, zu Gott zu beten, dass er ihm doch wenigstens noch seine Tochter lassen möge, und er hoffte so sehr, dass Gott seine aufrichtigen Gebete, die aus einem demütigen Herzen kamen, nicht überhören würde.
Es war gegen sieben Uhr morgens, als John den Telefonhörer abnahm und sich selber, nach der zustande gekommenen Verbindung, leise die Worte sprechen hörte: "Hallo, hier John Moody. Ich hatte in der Nacht schon einmal bei ihnen angerufen, weil meine Tochter am gestrigen Abend nach der Diskothek nicht nach Hause gekommen war und sich bis jetzt noch immer nicht gemeldet hat. Ich wollte noch einmal anfragen, ob sie in der Zwischenzeit schon irgend etwas neues gehört haben?" Der Polizeibeamte, der immer
noch der war, den John in der Nacht gesprochen hatte, erzählte ihm sehr freundlich und entgegenkommend, dass er bis jetzt noch nichts gehört habe. Er hätte in der Nacht aber schon telefonisch bei den größeren Johannesburger Polizeistationen angefragt, ob dort irgendeine Meldung wegen eines weißen Mädchens vorläge, aber es gab bisher keinerlei Hinweise dafür, dass ein siebzehnjähriges Mädchen irgendwo aufgetaucht sei oder dass einem weiblichen Teenager ihres Alters etwas zugestoßen sei. Der Polizist bat John noch
um eine genaue Personenbeschreibung, was seine Tochter gestern abend zur Discothek getragen hätte, weil er diese Beschreibung gleich an alle Polizeistationen von Johannesburg und Umgebung durchgeben wollte und verabschiedete sich dann freundlich von ihm. Er oder sein Kollege vom Tagesdienst würden sich sofort bei ihm melden, wenn sie etwas Näheres wüssten. Er solle sich nur nicht zu große Sorgen machen. Es würde sich sicher noch alles aufklären. Seine Stimme klang nach Johns Meinung jetzt nicht mehr ganz so zuversichtlich
und vertrauensvoll wie in der Nacht, aber das konnte natürlich auch pure Einbildung sein, denn Johns Phantasie hatte sich in der Zwischenzeit in so vieles hineingesteigert, dass er kaum noch wusste, was oder wem er glauben konnte und er in allem nur negatives zu sehen meinte. Der Klang einer Stimme war vielleicht nach einer langen Nachtschicht ein anderer, und schon dachte er, daraus etwas Nachteiliges ableiten zu müssen. Ja, es gab noch keinen konkreten Grund, etwas schlimmes aus irgendwelchen, gar nicht vorliegenden
Tatsachen abzuleiten, denn es war ja auch in Wirklichkeit noch nichts derartiges passiert, wie der police-officer ein paar Male John gegenüber betont hatte. Ofiziell war noch nichts passiert. John spürte, dass dies nicht stimmen konnte, denn, wenn alles in Ordnung gewesen wäre, hätte sich Sarah-Jane oder jemand anderes in ihrem Auftrag in der Zwischenzeit bei ihm gemeldet. Irgendetwas musste inzwischen mit seiner Tochter geschehen sein, und dies würde bestimmt nichts gutes sein. Diese düstere Vorahnung und Vermutung
hatte sich in Johns Gehirn festgesetzt, und erst, wenn Sarah-Jane wieder heil und gesund vor ihm stehen würde, würde man ihn eines besseren belehren können.
Gegen zehn Uhr morgens, nach einer zweiten Tasse Kaffee und ein paar im Backofen aufgewärmten Brötchen, entschloß sich John, seine Schwägerin, Sarah-Janes Tante Brenda, die auch mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Soweto wohnte und zu der seine Tochter immer ein sehr vertrauensvolles Verhältnis unterhalten hatte, anzurufen. Sie sahen sich zwar nicht sehr oft, da das Haus von Brenda ziemlich weit entfernt von dem ihren lag und diese während der Woche oft bei ihrer farbigen Familie in einem Villenviertel von
Johannesburg, wo sie bis spät abends arbeitete, auch übernachtete, aber es konnte vielleicht sein, dass Brenda etwas gehört oder dass Sarah-Jane sich bei ihr inzwischen telefonisch gemeldet hatte. Vielleicht ... John konnte den Gedanken nicht mehr zu Ende denken, weil das Telefon soeben läutete und ein Kollege des Polizeibeamten Masterson sich am anderen Ende der Leitung meldete, um ihm zu erklären, dass er gerade den Dienst übernommen habe und dass bisher keine neuen Meldungen über seine Tochter auf der Polizeistation
vorlägen. Er wollte noch wissen, ob John in der Zwischenzeit etwas von seiner Tochter gehört habe, was dieser jedoch verneinte. Außerdem versuchte er, John noch einmal zu beruhigen, indem er meinte, dass es schon vorgekommen sei, dass junge Leute, in demselben Alter wie sein Kind, tagelang von zu Hause fort geblieben wären und dann trotzdem wieder gesund und wohlbehalten bei ihren Eltern aufgetaucht seien. Er wollte auch noch einmal eine zusätzliche, genaue Beschreibung der Kleidungsstücke, die Sarah-Jane am
gestrigen Abend bei ihrem Weggang von zu Hause getragen hätte, von John haben und verabschiedete sich dann mit ein paar Mut machenden Worten und dem Versprechen, sich sofort bei John zu melden, wenn es irgend etwas neues geben sollte. Als John den Telefonhörer wieder zurück auf die Gabel legte, war das Leben, das ihn schon verlassen hatte, langsam in seine Seele zurückgekehrt, und er unternahm alle Anstrengungen, es wenigstens für einen kurzen Augenblick lang festzuhalten, bevor er wieder in den Zustand der Niedergeschlagenheit
und Depression zurück verfiel.
Ja, Sarah-Jane konnte sich wirklich so unüberlegt und unvernünftig verhalten haben, wie Teenager in ihrem Alter sich manchmal verhielten. Vielleicht hatte sie zu viel Alkohol getrunken und befand sich jetzt bei irgendeiner Freundin, um ihren Rausch auszuschlafen. Alkohol hatte seine Tochter ja noch nie gut vertragen können, weshalb sie sich nun vielleicht schämen würde und sich aus diesem Grund noch nicht zu Hause gemeldet hätte. Oder sie und eine Freundin hatten einen jungen Mann kennengelernt und waren mit
in seine Wohnung gegangen, so dass auch dies ein Grund sein könnte, sich vor dem Vater und vor allem vor ihren eigenen moralischen Grundsätzen zu schämen. Was auch immer vorgefallen war, John würde seiner Tochter immer und in jedem Fall verzeihen, denn er wollte sie nur lebendig wieder haben. Mutwillig etwas böses würde das Mädchen sicher nicht getan haben. Wenn, dann vielleicht vorschnell etwas unüberlegtes, etwas, das sie sicher später bereuen würde. Aber Sarah-Jane war christlich erzogen worden und hatte sich
immer in allem so korrekt wie Winnie, ihre tote Mutter, verhalten. Es kam deshalb nur eine Kurzschlußreaktion in Frage, ein kurzer und unüberlegter Ausbruch in ein Leben, das sie bisher noch nicht gekannt hatte und das sie deshalb besonders interessiert und gereizt zu haben schien. Ein Ausbruch aus der Traurigkeit ihres Alltags heraus, in ein vermutetes, besseres Leben hinein. In ein Leben ohne Kummer und Sorgen und dafür mit mehr Liebe. Einer Art von Liebe, die ihr John nicht geben konnte und für die sich Sarah-Jane
wohl allmählich zu interessieren begann. Wofür sich alle normalen Mädchen ihres Alters allmählich zu interessieren begannen, nämlich für Jungen. Ja, so konnte es sein. Seine Kleine hatte einen Jungen ihres Alters kennengelernt und sich in ihn verliebt. Jetzt wusste sie nicht, wie sie es ihrem Daddy beibringen sollte, damit dieser nicht gleich die Wand hochgehen würde. Sie suchte vielleicht noch nach passenden Worten und Erklärungen, die ihr aber nicht so schnell einfallen wollten. Schließlich musste sie ja auf
ihren alten Vater Rücksicht nehmen, da dieser nur noch sie, seine kleine Tochter, hatte. Und, und, und. Wie viele Möglichkeiten konnte es noch alle geben? Möglichkeiten für ein junges, weißes Mädchen, das über Nacht nicht nach Hause gekommen war. John konnte unmöglich alle davon durchdenken und in Erwägung ziehen, denn dann konnte er auch ebenso alle Fische im Meer zählen oder nach einer Nadel im Heuhaufen suchen. Aber sein Verstand sehnte sich nach Erklärungen, so wie seine Seele sich nach Trost und Frieden
sehnte, weshalb er kurz darauf zum Telefon griff und die Nummer seiner Schwägerin wählte, die auch sofort am Apparat war.
Er entschuldigte sich zuerst für die Störung am Sonntagmorgen und fragte Brenda, wie es ihrem Mann Eric und ihren drei Kindern ginge, die er lange nicht mehr gesehen hatte, da sie auf der Beerdigung von Winnie nicht dabei gewesen waren. Brenda hatte ihre Kinder an diesem Tag zu einer Tante gebracht, da sie glaubte, dass sie noch zu klein wären, die ganze Beerdigung, besonders die Zeremonie auf dem Friedhof, durchzuhalten. Ja, es ginge allen sehr gut, nur der kleine Albert habe etwas Keuchhusten, war ihre Antwort.
Aber man wisse ja, wie das mit Kindern so sei. Sie bekämen schnell mal was und würden ebenso schnell auch wieder gesund. Dann ging John zum eigentlichen Grund seines Anrufs über und erkundigte sich danach, ob sich Sarah-Jane bei Brenda oder ihrer Familie telefonisch gemeldet hätte, da seine Tochter am gestrigen Abend von einer Diskothek in Johannesburg nicht nach Hause gekommen sei. Nein, war die Antwort seiner Schwägerin, aber sie wollte rasch noch mal ihren Mann fragen, ob er nicht etwas von Sarah-Jane gehört
habe. Aber auch Eric hatte Sarah-Jane seit der Beerdigung vor über einem Jahr nur noch ein- oder zweimal gesehen, und das letzte Wiedersehen musste jetzt auch schon einige Wochen her sein. Nein, hier hatte sich Sarah-Jane in den vergangenen Tagen nicht gemeldet. Er hoffe jedoch, dass seiner Nichte nichts zugestoßen sei und sie sich bald wieder bei ihrem Vater melden würde, so dass John sich keine weiteren Sorgen mehr zu machen brauchte. Dann wollte seine Schwägerin noch wissen, ob sie und ihr Mann zu ihm kommen
sollten, damit er nicht so allein wäre. John bedankte sich für das Angebot und meinte, dass er am besten allein mit allem fertig werden würde. Sie hätten ja auch nur die wenigen Stunden des Sonntags zu ihrer Erholung und müssten am Montagmorgen schon wieder sehr früh zur Arbeit, so dass sie die kurze Zeit der Ruhe für sich und ihre Familie benötigten. Aber es sei sehr nett, dass sie sich so um ihn kümmern würden. Er könnte ja später am Abend noch einmal anrufen, wenn er vielleicht schon etwas Genaueres erfahren
oder sich Sarah-Jane gemeldet hätte. Dann wünschte man sich noch gegenseitig einen schönen Sonntag, und das Gespräch war beendet.
Es war jetzt die Uhrzeit, wann seine Tochter immer mit den Vorbereitungen zu ihrem gemeinsamen Mittagessen begann. Fleisch und Gemüse, das Sarah-Jane eingekauft hatte, mussten im Kühlschrank liegen, und einen Beutel Reis konnte sich John auch dazu kochen, aber es fehlte ihm an Kraft und Willensstärke, irgendetwas in Angriff zu nehmen, außer zu warten. Aber nur herumsitzen und grübeln würde auch nichts bringen, und schließlich musste der Mensch ja essen, um zu überleben, weshalb sich John kurz vor zwölf Uhr mittags
entschied, eine Dose mit Eintopf heiß zu machen und diesen zu verzehren. Frischen Kuchen hatte sein Kind auch gestern vom Supermarkt mitgebracht, und er würde sich später noch einmal Kaffee kochen und den Kuchen dazu essen. Ja, sein liebes Mädchen hatte bis zuletzt für das leibliche Wohl ihres Vaters gesorgt, denn sie hatte es sich zur Pflicht und Aufgabe gemacht, John so gut zu versorgen, wie es Winnie zu ihren Lebzeiten immer getan hatte. Jetzt erst merkte John, wie schwer es ihm fiel, ganz allein, ohne einen
Menschen zurechtzukommen, denn er hatte seine bessere Hälfte für immer verloren und jetzt wohl auch noch...
Nein, nicht schon wieder diese trübseligen Gedanken! Er stellte die Dose auf den Küchentisch. Sie ließ sich leicht mit dem alten und angerosteten Dosenöffner auf bekommen, und er schüttete den Inhalt in einen Topf, den er dann auf den Gasherd stellte. Nachdem er den Erbseneintopf am Küchentisch gegessen hatte, legte er das schmutzige Geschirr auf die Spüle, denn er war zu müde, um es auch noch abzuspülen. Langsam und mit schweren Schritten, und erschöpft und zerschlagen von der vergangenen Nacht, begab sich ein
einsamer und unglücklicher Mann zu seinem Zimmer und Bett. Er ließ die Tür zur kleinen Diele, in der das Telefon, das mit einem langen Kabel ausgestattet war und jetzt wieder auf seinem Platz auf einer Kommode stand, etwas auf und fiel sofort, nachdem er sich aufs Bett gelegt hatte, in einen tiefen und erholsamen Schlaf. Sarah-Jane war jetzt fast einen Tag lang fort.
Erst um vier Uhr am Nachmittag wachte John Moody von allein auf und begab sich in die Küche, um mit der Kaffeemaschine Kaffee zu kochen und den Kuchen, den seine Tochter gekauft hatte, zu essen. Nach der dritten Tasse Kaffee spürte er, wie seine Lebenskräfte allmählich zu ihm zurückkehrten und er ausgeruht und erholt genug war, dem weiteren Verlauf des Tages ins Gesicht zu sehen, dem er bis jetzt hatte lieber aus dem Weg gehen wollen und vor dem er sich auch immer noch fürchtete. Was mochte wohl hinter der nächsten
Ecke auf ihn warten? Welches Schicksal konnte in der Helligkeit eines von Sonnenlicht durchfluteten Tages und in der unerforschten Dunkelheit der Nacht für ihn liegen? Er hätte die Antwort lieber nicht gewusst, aber es würde ihm nichts nutzen, denn man konnte seiner eigenen Zukunft nicht aus dem Wege gehen. Und ein Mystiker war John noch nie in seinem Leben gewesen, sondern eher ein Verstandesmensch und Realist, wenn auch mit einigen Gefühlen, aber niemals mit solchen, die geheimnisvoll und im Dunkeln blieben.
Er würde noch etwas Fernsehen und dann bei der Polizeidienststelle von Soweto anfragen, ob man dort zwischenzeitlich schon etwas neues erfahren hatte. Im Fernsehprogramm wurde gerade ein alter englischer Spielfilm gezeigt, der aber fast schon zu Ende war und den John schon mehrere Male gesehen hatte. Danach, um fünf Uhr, würden dann die nächsten Nachrichten kommen. Es war noch eine viertel Stunde Zeit bis dahin, und John nutzte sie aus, um das schmutzige Geschirr in die Küche zu tragen und die Zeitung von Samstag
noch einmal zu überfliegen. Der Inhalt war fast immer der gleiche. Terror, Gewalt und Verbrechen auf überregionaler und auf regionaler Ebene. Johannesburg hatte mit eine der höchsten Verbrechensraten in der Welt, woran der weiße Teil der Bevölkerung nicht unerheblich beteiligt war. Die neuesten Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palestinensern..., nein heute war John wirklich nicht interessiert am aktuellen Weltgeschehen und nicht einmal daran, was gleich um die Ecke in Soweto passiert war. Jetzt mussten
sie aber gleich kommen, die Fünf-Uhr-Nachrichten. John rückte sich den Sessel vor dem Fernseher, in dem als Wohn- und Eßzimmer genutzten Raum, zurecht, um alles besser verfolgen zu können. Zuerst kamen wie immer die Nachrichten aus aller Welt, dann Regionales und dann der Sport, der ihn heute aber nicht besonders interessierte. Als der Nachrichtensprecher über die neuesten Ereignisse in Südafrika zu sprechen begann, wurde John Moody so unruhig, dass er aus seinem Sessel hochsprang und nervös im Zimmer auf und
ab lief. Er konnte es sich selber nicht erklären warum, aber er hatte so ein ungutes Gefühl, dass noch etwas Schreckliches in der Luft lag, das ihn selber und seine Tochter betreffen musste. Oder vielleicht besser nur seine Tochter betraf. Als er dann das Wort Johannesburg hörte und gleichzeitig einige Filmausschnitte aus seiner Heimatstadt eingeblendet wurden, geriet John ganz und gar aus der Verfassung. Zuerst wurde nur über eine umweltpolitische Konferenz und andere Probleme der kommunalen Wirtschaft berichtet,
wobei ein paar hohe Politiker zu Wort kamen. Danach berichtete man über die neuesten Tagesvorkommnisse und blendete einige Bilder ein, bei denen John beinahe der Atem stehen blieb. Am Rande von Johannesburg seien gegen Mittag in einem Straßengraben zwei unbekleidete Leichen aufgefunden worden. Es handele sich hierbei um zwei junge Frauen, ungefähr im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren. Die eine von beiden hätte langes, dunkelbraunes Haar und die andere kurzes, blond gefärbtes Haar. Die Frau mit dem dunkelbraunen
Haar sei ca. 1,75 Meter groß und schlank, die andere, blonde etwas kleiner und von eher rundlicher Statur. Die schlanke, junge Frau trüge um den Hals ein Kettchen mit einem Kreuz, in das die Initialen "S.J." eingraviert seien. Es war John Moody, als sei er in dem Augenblick gestorben, in dem er diese Botschaft im Fernsehen gehört hatte. Es gab für ihn jetzt keinen Zweifel mehr, dass es sich bei dem einen der Mädchen nur um seine Tochter handeln konnte. Sarah-Jane würde niemals mehr zu ihm zurückkommen.
Sein liebes Kind hatte ihn für immer verlassen, so wie Winnie und Steve. Denn er wusste es jetzt ganz genau, seine Kleine war tot.
Etwa eine halbe Stunde später klingelte das Telefon in der Diele. John Moody hatte sich inzwischen auf das ausziehbare Schlafsofa im Wohnzimmer gesetzt. Er fühlte sich wie zu einer steinernen Säule erstarrt, so, als wenn alles Blut aus seinem Körper geflossen sei und sich auch seine Seele von ihm beurlaubt hätte, um ihn vergessen zu machen, dass sein seelenloser Körper einmal so etwas wie eine Seele gehabt hatte. Vielleicht waren dies gar nicht mehr sein Körper und seine Seele? Sein Leben, das er lebte? Es konnte
ja auch jemand anderes sein, als John Moody, den sie alle immer Johnny den großen Träumer nannten, weil er sich seine Träume von einem schöneren Leben in einer besseren Zukunft bewahrt hatte! Wo konnte diese Zukunft denn nun noch liegen, wenn schon die Gegenwart so grauenvoll und leer war, dass man kaum noch wagte, einen Atemzug zu machen? Oder ein Wort zu sagen oder einen neuen Gedanken zu fassen...! Es gab nun nichts mehr, wofür es sich zu atmen, zu denken, zu reden und zu leben lohnte. Das Leben hatte jeglichen
Geschmack verloren, wie ein Salz, das fade geworden war und das man nur noch wegwerfen konnte. Aber ließ sich ein Leben, das fade geworden war, auch so einfach loswerden, wie ein unbrauchbar gewordenes Gewürz? John war zwar zu einem christlichen Menschen erzogen worden, und er hatte stets versucht, nach den Prinzipien seines Glaubens zu leben, aber dies war vorher gewesen, als er sich noch im Leben befunden hatte. Nun handelte es sich um einen anderen Zustand, der mit leben nichts mehr zu tun hatte. Er fühlte
sich wie ein Mann, der bis vor kurzem noch kerngesund gewesen war und der gerade vom Arzt seine Diagnose erfahren hatte: Krebs im Endstadium. Es blieben ihm noch wenige Wochen, vielleicht auch nur noch Tage. Nein, in diesem Fall musste sich der schlaue Arzt geirrt haben, denn es waren in Wirklichkeit nur noch Minuten oder Sekunden. John wollte aber auch diese ihm kurz bemessene Zeit nicht mehr haben. Gott oder jemand anderes mussten nicht aufgepasst haben, als man ihm seine ihm noch verbliebene Lebenszeit ausgerechnet
hatte. Nein, es gab jetzt keinen Weg mehr zurück ins Leben, denn alles Leben in und um ihn war vollständig ausgelöscht worden. Jemand hatte ihm die Seele aus dem Leib gerissen und ihn dann mit den toten Leibern anderer Menschen begraben. Lebendig begraben, vielleicht, aber was machte das schon für einen Unterschied! Er wollte lieber tot und begraben sein, denn dann wären auch die Schmerzen auch nicht mehr so stark, die der fremde Tumor in seinem Körper verursachte. Ja, der Tod musste für einen Sterbenskranken
eine Erlösung sein, etwas wonach er sich immer gesehnt und das er bisher nicht gefunden hatte. Vielleicht war er ihm schon einmal begegnet, dem Tod, aber dieser hatte dann im entscheidenden Moment immer wieder einen Rückzieher gemacht. Jetzt sollte er nur kommen, und John würde sich ihm nicht widersetzen. Er würde ihm getrost folgen bis vor die Tore der Ewigkeit und auch noch weiter, wenn es sein musste. Wenn es einen gerechten Gott gibt, wird er mich jetzt sterben lassen, dachte ein qualvoll leidender Mann,
wenn...
Das Telefon hatte schon mehrere Male in der Diele geläutet, und John hatte vergessen die Male zu zählen. Aber es half nichts, er musste aufstehen und hören, um wen es sich bei dem Anrufer handelte und was man ihm mitteilen wollte. Obwohl es ihm eigentlich vollständig klar war, um wen es sich nur handeln konnte, ging er langsam zur kleinen Diele hinüber, nahm den Hörer von der Telefongabel und sprach fast wie aus seinem Unterbewussten heraus (denn sein Bewusstsein schien ihm schon seit langem tot oder abgestorben)
die Worte: "Hallo, hier John Moody." Am anderen Ende der Leitung meldete sich, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, der Polizeibeamte von der Polizeistation in Soweto und fragte John, ob er auch die Fünf-Uhr-Nachrichten im Fernsehen gesehen habe, was dieser bejahte. Police-officer Fred Billing wollte noch wissen, ob John zu den Fernsehkommentaren noch etwas sagen könne, wonach ein langes Schweigen im Gesprächsverlauf zwischen den beiden Männern eintrat und dann ein paar schluchzend herausgepresste
Worte, die von Tränen fast erstickt wurden, folgten: "Yes, I am sure, that one of these girls is my daughter."
Ja, John war sich ganz sicher, dass es sich bei der großen, schlanken und jungen Frau mit den dunkelbraunen, langen Haaren nur um seine Tochter Sarah-Jane handeln konnte. Den letzten Beweis für ihre Identität hatte ihm das Kettchen mit dem Kreuz, in das ihre Initialen "S.J." eingraviert worden waren, gegeben. John hatte ihr die Kette mit dem Kreuz an ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt, und die ganze Familie war damals nach Johannesburg zu einem Juwelier gefahren, um ihre Initialen in das kleine
Goldkreuz eingravieren zu lassen. Ja, es gab sogar noch ein Foto, das sie an diesem Tag in der City von Johannesburg vor dem Juwelierladen aufgenommen hatten oder das genauer gesagt jemand anders von der ganzen Familie aufgenommen hatte. Sarah-Jane hatte sich das kleine Kreuz aus Gold mit der Gravur darauf so sehr gewünscht, weil sie sich in der Baptistengemeinde in Soweto taufen lassen wollte und viele der anderen Mädchen in ihrem Alter dort auch so ein Kreuz um den Hals trugen. Sie wurde ein Jahr später auch
in einem Taufbecken in ihrem weißen, langen Taufkleid getauft, und das kleine Kettchen mit dem Kreuz daran hatte sie selbst bei der Taufe nicht ablegen wollen. Nun hing das weiße Taufkleid noch in ihrem Kleiderschrank, und sein liebes Kind befand sich in irgendeinem Leichenschauhaus in der Stadt. John wollte nicht mehr weiter reden und denken, denn sein Kopf hatte sich entschlossen, nicht mehr weiterzumachen. Er hörte nur noch die beruhigende Stimme des Polizeibeamten, der ihm mitteilte, dass man ihn mit dem
Auto in ungefähr einer halben Stunde von zu Hause abholen würde und er sich bitte bereithalten möchte. Dann war das kurze Gespräch, das John wie eine Ewigkeit erschienen war, beendet und John blieb wieder der Einsamkeit seines Heims, das ihm jetzt kein zu Hause mehr sein würde, überlassen. Er wünschte sich nur eines, nämlich wie Winnie, Steve und Sarah-Jane auch tot zu sein. Vielleicht war er es schon, aber, als er die Schmerzen in seinem Kopf und in seinen Gliedern spürte, wusste er, dass er sich geirrt hatte.
Eine halbe Stunde später hielt ein Polizeidienstwagen vor seinem Haus und brachte John nach Johannesburg in das Polizeipräsidium, wo er sofort zur Abteilung der Mordkommission weitergeleitet wurde. Der Oberinspektor begrüßte ihn förmlich, aber in freundlichem Ton und bat John höflich, Platz zu nehmen. Es war ein Farbiger, wie die meisten seiner Kollegen in den höheren Positionen. Erst als er merkte, dass John sich etwas beruhigt zu haben schien, kam er allmählich zur Sache und sprach zunächst davon, dass man
ihn von Soweto aus schon verständigt habe, dass John Moodies Tochter seit dem gestrigen Abend verschwunden sei und dass auch schon ein Protokoll mit einer genauen Personenbeschreibung vorläge, das er bitte, nach vorherigem Durchlesen, später noch unterschreiben möge. John habe in den Nachrichten wohl auch von den zwei Frauenleichen erfahren, die am heutigen Nachmittag unbekleidet in einem Straßengraben am südwestlichen Stadtrand von Johannesburg in der Nähe eines Autorastplatzes gefunden worden seien, wie ihm
der diensthabende Polizeibeamte von Soweto mitgeteilt habe. Wie der Oberinspektor von seinem Kollegen erfahren zu haben meinte, sei John sich ziemlich sicher, dass es sich bei der einer der beiden Toten um seine vermisste Tochter handeln würde. Der Oberinspektor berichtete John nun weiter davon, wie eine Familie mit Kindern an der Stelle eine Rast gemacht und die beiden Toten dabei entdeckt habe. Außerdem seien die Kinder beim Spielen noch auf ein paar zerrissene und mit Blut beschmierte Kleidungsstücke, die
etwas weiter entfernt auf einem Feld gelegen hätten und die man eventuell in Verbindung mit den toten Mädchen bringen könne, gestoßen. Die blutigen Kleidungsstücke seien jedoch in den Nachrichten bisher verschwiegen worden. Die Familie hätte sofort nach dem Entdecken der Leichen mit ihrem Mobiltelefon die Polizei benachrichtigt, und es wäre am Fundort der zwei toten Frauen von ihnen ein gemeinsames Protokoll aufgenommen worden. Die beiden Leichen seien noch an Ort und Stelle fotografiert worden und dann ins Leichenschauhaus
des Präsidiums überführt worden. Der Polizeibeamte holte nun eine Mappe aus einem nahe gelegenen Schrank, in der das Aufnahmeprotokoll und die Fotos abgeheftet worden waren und reichte sie geöffnet seinem Besucher, der ihm gegenüber, völlig in sich zusammengesunken und mit tief gesenktem Kopf, der Dinge harrte, die unmittelbar auf ihn zukommen würden. John hielt die dünne Mappe fast geistesabwesend in seinen Händen und wagte nicht, einen Blick auf die Fotos zu werfen. Vielleicht handelte es sich ja doch um jemanden
anderen, als um seine Tochter, bei einer der beiden Frauen! Es war zwar unwahrscheinlich, aber, was musste man nicht alles für andere Möglichkeiten in einer solchen Situation wie dieser in Erwägung ziehen? Vielleicht hatte ein anderes junges, braunhaariges und schlankes Mädchen sich die gleichen Initialen in ihr Kreuz eingravieren lassen? "Sybil Johnson" konnte ihr Name sein oder auch "Sue Jones". Ja, es gab noch so viele andere Namenkombinationen, die ihm gar nicht so schnell einfallen wollten.
Auch große und braunhaarige, schlanke, weiße Mädchen gab es wohl eine ganze Reihe in dieser riesigen Stadt, weshalb man keine dieser Möglichkeiten außer acht lassen durfte. Als John jedoch einen Blick auf die geöffnete Mappe warf, waren im selben Moment alle seine weiteren Hoffnungen für immer und ewig ausgelöscht. Denn er erkannte sofort, dass es sich bei der einen der beiden Toten nur um sein Kind, seine kleine Sarah-Jane handeln konnte. Er nickte dem Oberinspektor zu, bevor ihm die Tränen in die unteren Augenlider
und dann langsam das Gesicht hinunter liefen. "Ja, es gibt keinen Zweifel mehr," sagte er dann leise. "Die eine der beiden Mädchen ist meine Tochter Sarah-Jane."
John wurde nun von zwei Beamten zu einem Raum im Kellergeschoß des Gebäudes geführt, an dem ein Schild mit der Aufschrift "morgue" angebracht war und außerdem noch ein zweites: Zutritt für Unbefugte verboten! John war jedoch ein Befugter, obwohl er sich in dieser Situation gerne etwas anderes gewünscht hätte. Das Leben und sein Schicksal hatten ihn wieder einmal zu einem Befugten gemacht, denn es war nun schon das dritte Mal während der letzten vier Jahre, dass man ihn hierher geführt hatte. Wie viel
lieber würde er selber auf einem der zahlreichen Tische liegen, auf denen die Leichen mit weißen Laken zugedeckt lagen. Die Toten, die man vielleicht auch irgendwo, so wie sein Kind, aufgelesen hatte. Die auf unheilvolle Weise gestorbenen der letzten Tage oder der letzten Nacht, die hier ein vorläufiges zu Hause gefunden hatten, bevor man sie ihren Angehörigen, wenn diese sich melden sollten, zur Bestattung freigeben würde. Die vielen Leichen mit den beschrifteten Zetteln an ihren Füßen, die angaben, um wen es
sich bei dem oder der Toten handelte oder handeln konnte. Oder ob die Identität der Person nicht geklärt werden konnte, wie bei seiner Tochter, an deren Tisch John nun von einem jungen Polizeibeamten geführt wurde. Der Arzt, der am Kopfende der verdeckten Leiche stand, wartete auf ein Zeichen des Oberinspektors, bevor er den Kopf der jungen Frau aufdeckte, damit John einen Blick auf ihr Gesicht werfen konnte. Als das weiße Laken langsam, auf ein Kopfnicken des Inspektors, ein Stück weit entfernt wurde, erkannte
John seine kleine Sarah-Jane sofort wieder. Sie sah ihn so friedlich, trotz ihrer geschlossenen Augen an, als wollte sie sagen : "Verzeih mir Daddy, dass ich gestern Abend nicht nach Hause gekommen bin, es soll nie wieder vorkommen."
Nach einer Woche waren die polizeilichen Ermittlungen so weit fortgeschritten, dass die Leiche von Sarah-Jane kurze Zeit darauf freigegeben werden und nach Soweto, in die dortige Leichenhalle, überführt werden konnte. John hatte sich eine Woche Urlaub von seiner Arbeit in der Fabrik nehmen müssen, da man ihn noch zweimal zur Identifizierung der Kleidung seines Kindes und zur Unterzeichnung einiger Schriftstücke aufs Polizeipräsidium gebeten hatte. Man hatte John auch noch genaueres darüber mitteilen wollen, was
dem Tod von Sarah-Jane vorausgegangen war. Aber John wollte, aufgrund seiner momentanen seelischen Verfassung, nichts von alledem wissen, denn es konnte an Sarah-Janes Tod doch nichts mehr ändern. Vielleicht würde er sich später einmal damit beschäftigen können. Jetzt wollte er nur versuchen , die notwendigen Formalitäten, trotz seiner großen inneren Anspannung und fürchterlichen Seelenqualen, in die ihn der Tod seiner Tochter versetzt hatte, einigermaßen zu überstehen, wobei ihm seine Schwägerin und ihr Mann,
die ein Auto besaßen, sehr behilflich waren. Die beiden brachten ihn nachmittags nach Johannesburg und warteten bis er bei der Polizei mit allem fertig war, um ihn wieder nach Hause zu fahren. Zu Hause angekommen, kochte Brenda dann gleich Kaffee oder Tee, und man aß schweigsam den Kuchen, den seine Schwägerin in Johannesburg eingekauft hatte. Sarah-Jane war jetzt über eine Woche tot.
Die Beerdigung von Sarah-Jane auf dem Friedhof von Soweto war auf Montag den 20. November 2000 um vierzehn Uhr nachmittags festgelegt worden. Eine Woche später wären die beiden, Vater und Tochter, dann wieder gemeinsam mit der Bahn nach Durban aufgebrochen. Sein Kind war so glücklich über den Urlaub gewesen, den John ihr versprochen hatte, und John würde schon aus diesem Grunde, um sein Versprechen gegenüber Sarah-Jane einzuhalten und im Gedenken an sein totes Kind, die Reise antreten. Es würde auch eine Fahrt
zur Erinnerung an die wunderbare gemeinsame Zeit im letzten Jahr werden, die beide miteinander verlebt hatten. Sarah-Janes Lachen würde noch einmal für einen kurzen Moment lang zu ihm zurückkehren, bevor es für immer von dieser Erde verschwinden würde. In einem Sarg aus Fichtenholz, auf dem auch ein Strauß mit dunkelroten Rosen, ihren Lieblingsblumen läge, würde man sein Kind in die rote Erde von Südafrika hinunterlassen. Die Baptistengemeinde sollte noch "Jesus, meine Zuversicht" dazu singen, und dann
würden alle noch einmal einzeln vortreten, um sich mit einem Spatenstich voller Erde von seinem lieben Kind zu verabschieden. Ihr ein letztes "Lebe-Wohl" sagen. Ein letztes "Ade" vor ihrer Reise in die Ewigkeit. Vielleicht würden auf der anderen Seite schon Winnie und Steve auf sie warten und ihr zuwinken, und sie brauchte nicht mehr so traurig zu sein, weil sie nun, auch ohne ihren lieben Daddy, ein neues zu Hause gefunden haben würde! Manches Auge würde nicht trocken bleiben bei Sarah-Janes
Beerdigung, aber sein Kind wäre sicher nicht sehr glücklich darüber gewesen, denn sie wollte doch immer nur, dass alle Menschen fröhlich sein sollten und lachten. Ja, so würde es sicher auch einmal kommen, aber im Moment saß ein im Herzen trauriger und zerbrochener Vater vor dem geöffneten Sarg, in dem seine Tochter, mit ihrem Kettchen mit dem Kreuz um ihren Hals lag und weinte. Die Friedhofsverwaltung war so freundlich gewesen, John zu gestatten, am Sarg eine Kerze anzünden zu dürfen, weil Sarah-Jane Kerzenlicht,
seit ihrer gemeinsamen Reise nach Durban, immer so geliebt hatte. John hielt die weiße Kerze, die seine Tochter selber in einem Supermarkt in Johannesburg eingekauft hatte und die nun langsam herunter brannte, vor sich auf einem Teller. Wenn sie fast herunter gebrannt sein würde, würde auch sein Leben fast vorbei sein. Er wünschte es sich zumindest, denn dann konnte er wieder mit seinen Lieben zusammen und glücklich sein. Anstatt nur noch traurig zu sein, wieder lachen.
Sarah-Jane würde wieder, zusammen mit ihrer Mutter, wie jeden Abend, wenn alle zu Hause wären, ein warmes Essen in der Küche zubereiten und die Männer sähen in der Zwischenzeit Fernsehen, würden Karten spielen oder den Tisch decken. Danach würde die ganze Familie sich am Abwasch beteiligen und damit der Mutter die Arbeit erleichtern, und ein schöner, gemeinsamer Familienabend stünde auf dem Programm. Ja, ein Abend zusammen mit der Familie, was konnte es wertvolleres und schöneres geben, dachte ein von Kummer
und Sorgen geplagter Mann. Früher war ihm dies gar nicht so bewusst gewesen, als alle noch gelebt hatten und die Familie vollzählig gewesen war. Aber heute schien dieses früher schon so lange vorbei, dass er meinte, sich kaum noch daran erinnern zu können. Das Alltägliche war so alltäglich gewesen, dass es wohl niemandem, wie auch John, besonders aufgefallen war. Er hatte auch niemals wirklich darüber nachgedacht, weil ihn die Arbeit in der Fabrik und die vielen anderen Verpflichtungen in Familie und Alltag immer
so sehr beanspruchten. Jetzt hatte John viel Zeit. Zeit genug, aber es war zu spät. Zu spät für einen neuen Anfang, den er ganz allein auch nicht mehr hätte machen wollen. Nein, John war nicht dazu geschaffen worden, allein durchs Leben und durch die Welt zu gehen, wie dies bei manchen anderen Menschen wohl der Fall sein mochte. Er war ein Familienmensch und würde es wohl auch immer bleiben. Die Zeit und die Umstände konnten nichts daran ändern. Auch der Tod seiner ganzen Familie nicht. Man konnte einen Menschen
nicht einfach aus seiner gewohnten Umwelt herausreißen und ihn dann auffordern, noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Eine Pflanze aus ihrer Erde, an die sie gewöhnt war, in einen anderen Boden verpflanzen, war wie jemanden aus seiner Heimat vertreiben. Die Seele blieb dabei immer auf der Strecke, irgendwo weit entfernt zurück, wo sie nicht glücklich werden konnte, weil sie das Licht der Heimat nicht mehr sehen konnte. Selbst Sonne, Mond und Sterne ihr unvertraut und fremd wurden. Es konnte nicht gut gehen,
und es sollte wohl auch nicht. Und vor und über allem, John wollte es auch nicht. Den neuen Anfang, den neuen Weg und das neue Leben. Aber als ein Toter würde man in der vertrauten Heimat bleiben können...
Brenda hatte gleich nach der Beerdigung zu John gesagt, dass sie und ihr Mann sich entschlossen hätten, John das Angebot zu machen, doch zu ihnen zu ziehen. Das Haus wäre groß genug, und die beiden kleinsten ihrer drei Kinder könnten sehr gut in einem Zimmer zusammen schlafen. John war sehr dankbar und froh darüber gewesen, dass man sich so in der nahen Verwandtschaft um ihn sorgte, aber er meinte, dass er erst einmal selber mit seiner Trauer zurechtkommen und dann allmählich zu sich zurückfinden müsse. Dabei
könne ihm niemand, außer Gott allein, helfen. Vielleicht würde er später, nach seinem Urlaub, den er an sich zusammen mit Sarah-Jane am Meer von Durban hatte verbringen wollen, ihrem Angebot nachkommen oder dies zumindest überdenken und für eine Zeit lang zu seiner Schwägerin ziehen. Die ersten Monate der Einsamkeit würden wohl für ihn am schlimmsten werden, bis er sich an den neuen Zustand gewöhnt hätte und allein zurechtkommen könne. Aber John wusste, dass dies niemals der Fall sein würde und er nie allein
glücklich sein konnte. Es musste irgendwo im Dunkeln vielleicht noch einen anderen Weg für ihn geben, der sich jetzt noch nicht erkennen ließ. Er würde danach suchen, wenn es an der Zeit war, aber jetzt war sein Herz noch so gebrochen, dass er alle Kraft brauchte, um die gröbsten Wunden zu verbinden, bis sie dann allmählich von allein verheilen würden... Im Moment gab es keine andere Hoffnung mehr und auch keinen anderen Weg. Er war noch wie ein Blinder, der langsam, auch ohne Augenlicht, seinen Weg Schritt für
Schritt suchen und finden musste. Sein Sehvermögen war zwar gleich null, aber sein Herz wusste, in welche Richtung es wollte, und er würde sich an dessen Weisungen halten und nicht verloren gehen. Eines Tages würde ein Blinder dann auch wieder alles sehen können. Erst langsam, einige Schattenumrisse, dann noch unscharfe Figuren, die immer mehr Gestalt annähmen. Man musste noch etwas warten, bis auch die Farbe wiederkommen würde. Dann kämen auch wieder Bewegungen und Leben in den neuen Körper, der sein volles
Seh- und Orientierungsvermögen zurückgewonnen hätte, wenn sich die Seele erst genügend erholen würde. Ja, es wäre so wie beim Salz, das fade geworden war und zu nichts mehr getaugt hatte, aber dann trotzdem wieder Geschmack annahm. Es gab immer einen Weg zum Licht. Einen neuen Frühlingsmorgen in einer grünen Landschaft mit Vogelgesang, an dem er mit Winnie, Steve und seiner Tochter einen langen Spaziergang durch die Natur unternehmen würde, auch, wenn er dabei ganz allein wäre. Es gab immer... Der Friedhofswärter
war gekommen, weil er das Tor vor dem Friedhof verschließen musste und bat John freundlich, sich von den mit Blumen geschmückten Gräbern seiner Angehörigen zu verabschieden und zu gehen. Winnie, Steve und Sarah-Jane lagen jetzt ganz dicht nebeneinander. Vielleicht würden sie auch in der Ewigkeit so nah beieinander sein. John wünschte es sich, denn dann wären sie jetzt nicht so allein. So wie er. John Moody.
Genau eine Woche nach der Beerdigung von Sarah-Jane, am Montag den 27. November 2000, saß John wie geplant in dem Zug nach Durban. Brenda und ihr Mann hatten darauf bestanden, ihn noch zum Bahnhof nach Johannesburg zu fahren und hatten ihm vom Bahnsteig noch eine ganze Weile zugewinkt, bis der Zug den Bahnhof verließ und nur noch seine Silhouette aus der Ferne schwach zu erkennen war. John würde anderthalb Wochen in der gleichen preiswerten Pension in der Nähe der Strandpromenade verbringen, in der er mit seiner
Tochter im letzten Jahr die Ferien verbracht hatte. Das Zimmer war auch schon seit Monaten gebucht gewesen, aber John hatte noch einmal in Durban angerufen und dem Besitzer der Pension erklärt, dass er nun allein kommen würde, da seine Tochter vor kurzem gestorben sei und er deshalb kein Doppelzimmer mehr benötigen würde, sondern nur ein kleines Einzelzimmer. Der Besitzer hatte John zunächst sein Beileid bekundet und danach die Umbuchung problemlos durchgeführt, obwohl die Nachfrage nach Einzelzimmern zu dieser
Zeit sehr groß gewesen war. So würde John vielleicht etwas Abstand von allem gewinnen und seine Trauer irgendwie mit der Zeit besser bewältigen können. Ja, die Zeit konnte alle Wunden heilen, sagte ein altes Sprichwort. Die Zeit, die Sonne und das Meer, das auch sein kleines Mädchen immer so geliebt hatte. Er würde einfach der ungewissen Zukunft entgegen gehen, dann würde man schon sehen, wie sich die Dinge entwickelten. Es gingen John momentan zu viele Dinge im Kopf herum, als dass er sie jetzt schon genau ordnen
und deuten konnte. Innerlich aufräumen konnte man aber auch später noch. Jetzt war sein Körper von den Zehenspitzen bis zum Kopf noch so von Leid gequält, dass er Angst bekam, er könnte in jedem Moment zusammenbrechen. Ich muss erst einmal wieder richtig laufen lernen, sagte ein Todkranker im Stillen zu sich. Morgen sieht vielleicht schon alles etwas besser aus, wenn die Sonne scheint und ich auf dem Strand und am Meer sitzen werde... Aber es konnte so schnell noch nicht wieder besser werden, das wusste John,
als er die Pension und danach das kleine, freundlich eingerichtete Zimmer betrat. Der Besitzer hatte ihm sogar eine Blume auf seinen Nachttisch gestellt. Eine rote Rose. Er konnte es nicht gewusst haben, dass Sarah-Jane rote Rosen so sehr geliebt hatte. Aber einer hatte es sicher gewusst, einer der gute Verbindungen haben musste.
Am nächsten Morgen unternahm John einen langen Spaziergang. Die ganze Uferpromenade entlang und wieder zurück, bis er einen so großen Hunger verspürte, dass er in das kleine Lieblingsrestaurant seiner Tochter einkehrte, in das sie fast jeden Abend gegangen waren. Aber bis zum Abend konnte sein Hunger nicht mehr warten, und er würde an diesem Tag wohl zweimal eine warme Mahlzeit einnehmen müssen. Als er das Restaurant betrat, wurde er von einem netten Kellner höflich begrüßt und zu einem der kleinen Tische geführt,
die um diese Zeit noch auf ausgehungerte Gäste warteten, die sicher auch bald eintreffen würden. Im Moment war er jedoch der einzige Gast in dem lang gezogenen Raum mit den großen Fensterscheiben davor, durch die man einen wunderschönen Ausblick auf das Meer hatte. Der Indische Ozean, von dem Sarah-Jane immer geträumt und geschwärmt hatte, die See unter blauen Wolken, in denen sich einige Möwen wiegten. Sich hinunter in die Wellen stürzten, wieder hinauf flogen, dann verschwanden am Firmament, um einen Moment
später wieder aufzutauchen und das gleiche Spiel von vorne zu beginnen. Sarah-Jane hatte ihnen stundenlang dabei zusehen können und sich immer wieder an ihrem Flug erfreut. "Kamikaze-Flieger" hatte sie einmal zu ihrem Vater gesagt und damit die weißen Vögel mit ihrer Fähigkeit zum Sturzflug gemeint.
Der Kellner hatte John an den gleichen Tisch geführt, an dem er mit seiner Tochter vor ungefähr einem Jahr gesessen hatte. So schien es John zumindest, obwohl er meinte, den jungen Mann vorher noch nie gesehen zu haben. Es musste also wieder Zufall gewesen sein, das mit dem Tisch und der roten Rose. Denn auch auf diesem Tisch stand vor ihm eine kleine Vase mit einer einzelnen roten Rose darin. Gott musste es gut mit seinem kleinen Mädchen meinen, das sich jetzt sicher über die wunderschöne Blume auf dem Tisch
mit der Aussicht auf das Meer und den Möwen darüber gefreut hätte. Aber es gab leider keine Sarah-Jane mehr, die sich hätte freuen können, es sei denn, dass sie aus dem Jenseits hinab schauen konnte, um zu sehen, wie schön ihr Leben auf dieser Erde einmal für kurze Zeit gewesen war. Wenn ihre Seele nach dem Tode noch weiter lebte, dann war sie vielleicht noch hier. Aber John wollte sich nicht wieder in irgendwelche Grübeleien hineinsteigern, die doch zu nichts führten, außer zu neuen Kopfschmerzen. Was er jetzt
brauchte, war wirkliche Nahrung. Essen und trinken, um weiterleben zu können. Die Spaghetti mit Tomatensauce schmeckten ihm gut und auch der Nachtisch, ein Vanilleeis mit Früchten, war ganz nach Johns Geschmack. Zum Hauptgericht ein Glas kaltes Bier. Der Kellner hatte nach der Suppe eine Kerze auf seinem Tisch angezündet, und John fühlte sich in die Zeit vor einem Jahr zurückversetzt, als er hier mit Sarah-Jane gegessen hatte. Nur die Tageszeit stimmte nicht, denn sie beide waren ja immer erst abends essen gegangen,
weil der Tag ganz dem Strand und Meer gehört hatte.
Plötzlich glaubte John, eine schöne und doch gleichzeitig traurige Musik aus einem Lautsprecher zu vernehmen, die er vor einiger Zeit schon einmal im Radio gehört hatte. Es war in der Zeit gewesen, als er auf eine Nachricht von seiner Tochter gewartet und im Stillen immer noch auf ihre Rückkehr gehofft hatte. Wieder sang ein wunderbarer Engel auf Italienisch das Lied vom Kind, das ohne Mutter gestorben war: "Senza mamma". John liefen die Tränen über das Gesicht, und er fing an zu schluchzen, denn der
singende Engel wollte mit seinem Lied gar nicht mehr aufhören. Als der Kellner kam und ihn fragte, ob er ihm irgendwie helfen könne, erklärte ihm John, dass seine Tochter, mit der er vor einem Jahr hier am selben Tisch gegessen hätte, vor kurzem auf gewaltsame Weise ums Leben gekommen sei, und als er jetzt die Musik aus dem Lautsprecher gehört habe, sei der Schmerz durch die Erinnerung wieder in ihm ausgebrochen, und er habe angefangen zu weinen. Aber der Kellner meinte jetzt, dass er keine Musik angestellt habe,
da das Radio und der Plattenspieler seit einer Woche defekt seien. John Moody würde es sich deshalb sicher nur eingebildet haben. Als der Kellner gegangen war und John erneut aufs Meer hinaus blickte, hörte er die Stimme des Engels wieder ganz leise an seinem Ohr, und John wusste jetzt, dass Sarah-Jane noch einmal für kurze Zeit zu ihm zurückgekommen war, um ihn zu trösten, bevor ihre Seele für immer von ihm fortgehen würde, um im Licht über dem Ozean und dem Himmel zu verschwinden...
Epilog
Ein über Nacht alt und traurig gewordener Mann
blickte lange Zeit auf das Meer hinaus
und bat es inständig,
dass es doch kommen möge,
um die Erde zu überfluten.
Als das Meer endlich kam,
war auch der alte Mann nicht mehr da,
und man zählte
bereits den dritten Tag
des Weltuntergangs.
Anhang: Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und ungewollt.
Eingereicht am 03. Januar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.