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Die nackte Bescherung einer Rothaarigen

Yue-Ying


Ich spüre das Flattern in meinem Herz. Mein Bauch ist ein kalter, gefrorener Stein. Alle Sinne konzentrieren sich auf den momentanen Augenblick: Der Augenblick vor der Französischprüfung. Wenn ich nach rechts schaue, sehe ich Florentine, die ihren Spickzettel hektisch hinter ihren Mäppchen platziert.
Links üben noch 3 aus meiner Klasse voller Panik im Gesicht Vokabeln. Noch hat es nicht gedongt und Frau Jöckel ist nirgends zu sehen. Eilig krame ich mein Arbeitsheft heraus, das in einer Ecke meines Schulranzens zerknittert zum Vorschein kommt. Oh nein, es bringt kein Glück, auf so knittriges Papier zu schrieben. "So, hallo, hallo", ertönt die komische Stimme von Frau Jöckel. Heute ist sie sicherlich wieder wie ein weiblicher Clown bekleidet.
Mein Blick richtet sich nach vorne: Tatsächlich. Einen roten Schal mitten im Sommer, mit einem Kleid, das ebenfalls von roter Farbe ist und dazu noch ihre roten Haare. In ihrer Hand befinden sich jetzt die Arbeiten. Ich habe doch genug geübt, oder nicht? 3 Uhr war es gestern, bis ich noch die letzten Sätze vom Französischbuch lernte. Frau Jöckel strahlt über das ganze Gesicht. Ich hasse sie und die Arbeit. Ohne beides wäre mein Leben viel leichter. Unter meinen Nägeln kitzelt es, während Frau Jöckel laut wichtige Informationen zur letzten Arbeit dieses verfluchten Jahres gibt. "Ihr seid alle gut vorbereitet, ihr könnt das alle. Die Arbeit ist leicht …" Kann sie nicht die Arbeit wenigstens austeilen? Mein Kopf glüht vor Spannung, vor Aufgeregtheit. die untere Hälfte meines Körpers ist eisig kalt und zittrig.
Die Blätter werden ausgeteilt. Hilfe. Unzählige Leute wünschen mir "viel Glück". Mechanisch gebe ich meine Glückwünsche zurück. Tief im Innern weiß ich, dass dieses Mal etwas nicht stimmt. Es wird etwas schief gehen. Aber trotz allen Befürchtungen wünsche ich, denke ich, will ich eine 1 schreiben. Mein Bauch ist verkrampft, als die Hand von Frau Jöckel ein Blatt auf meinen Tisch fallen lässt - umgedreht, wie immer. Ich will fliehen, nur weg von diesem entsetzlichen Klassenraum, weg von den Sorgen, nach Hause - schlafen. Aber ich bin gefesselt. Die Anderen sind aufgeregt, ihre Gesichter glühen. Doch ich bin wichtiger. Hoffentlich bin ich die Beste. Wie lange habe ich mich nicht schon danach gesehnt, noch einmal das Gefühl spüren zu können, zu den Einsern zu gehören? Ich hasse es, wenn die Klasse die angeblichen Genies anhimmeln. Solche Alleskönner in der Schule, Streber, die irgendwie doch nichts können. Ich bin immer diejenige gewesen, die zwar zu den Guten gehört, aber nie in die Kategorie der Genies kommt. Die Arbeit dürfen wir umdrehen. Oh nein, jetzt werde ich sterben.
Aufgabe: Resumée des Textes aus dem Buch. Habe ich das gestern nicht noch geübt? Zweimal habe ich diese französische Zusammenfassung geschrieben. Habe ich noch alles in meinem Kopf? Ja. Aufgabe 2, 3, 4 sind leicht. Nummer 5 ist sogar eine Zusatzaufgabe mit Pluspunkten. Bua, zum Glück ist Frau Jöckel nicht so streng. Aber dieses Nicht-Strenge macht mich fertig. Vielleicht mag ich diese rothaarige Lehrerin mit dem warmen Lächeln ja doch. Während meine Hände zum Schreiben ansetzen, spüre ich die geladene Stimmung im ganzen Klassenraum, begleitet vom Vogelgezwitscher und Sonnenschwein. Wie unwirklich diese Welt doch ist! 1, 2, 3, und los! Ich schreibe. Auch wenn meine Hand wie ein Erdbeben zittert, quäle ich mich durch die Zusammenfassung hindurch. Ich denke nichts. Denken kostet Zeit. Ich schreibe. Ich weiß alles. Die Zeit rast vorbei, doch mit all meiner Konzentration, meinen Gedanken, Gefühlen, widme ich mich dieser Arbeit. Es macht sogar Spaß. Die 1. Aufgabe mit eineinhalb Seiten Text ist zu Ende; in 3 Minuten; mein Rekord. Ich schmeiße mich auf die 2. Aufgabe. Mein Kopf brennt, aber ich beiße die Zähne zusammen und kämpfe weiter. Aus der einen Ecke erklingen die Stimmen von Frau Jöckel und Adrian. "Du hast doch wohl nicht mitten in der Arbeit eine SMS, oder?", spricht Frau Jöckel im fragenden Ton. "Nein, ich musste nur einmal mein Handy ausschalten", entgegnet Adrian. "Tschuldigung", fügt er hinzu. Im Gesicht der Schüler bildet sich ein Grinsen. Jeder weiß, dass Adrian der Ober-Meisterspicker ist. Meistens gelingt ihm das nicht. 6 Minuten sind vorbei. Die Blätter werden allmählich blau von meiner Tinte, als von der hinteren Seite Frau Jöckel mit Nadine leise spricht. "Aber du hast hier doch kein Spickzettel, oder?" Ich richte mich auf, genauso wie ein paar andere Interessierte.
"Nein", sagt Nadine, "ich habe mich nur ein wenig vorbereitet." Eine dunkle Röte im Gesicht begleitet von Verlegenheit, verraten, dass Nadine sich beim Spicken auch nicht geschickt angestellt hat. Mit einem leichten Ruck, zieht ihr Frau Jöckel den großen DIN A 4 Spicker weg. Wie ein scharfer Blitz durchzuckt es mich. Arme Nadine ... Weiterschreiben darf sie aber trotzdem.
Andere Lehrer hätten das nie erlaubt. Die Klasse gibt unruhiges Murmeln von sich, doch bald kehrt wieder Stille ein, als auf einmal die Hand von Frau Jöckel vor meinem Gesicht auftaucht und mir mein unterstes Blatt meiner Arbeit wegzieht. Ein Schreck setzt sich in meinem Körper fest und alle meine Muskeln verkrampfen. Mein Gehirn pocht in voller Stärke, und mein Herz beginnt, von diesem unerwarteten Eingriff, heftig zu rasen. "Na, du hast wohl auch die Arbeit zu Hause geschrieben, was?" Bei den Worten wird mir übel. Die Szene vor meinen Augen dreht sich. Blicke und schelmisches Lächeln von den Anderen, lassen meine Nervosität auf die Größe eines Mount Everest anwachsen. "Hilfe!", schreit mein Kopf. Frau Jöckel blickt mich enttäuscht an. "Nein, das ist meine Nummer 1, das Reumée", spreche ich im viel zu leisen und unglaubwürdigen Ton. Ich kann nicht mehr. Meine Hände sind zwei Wasserfälle und der Schweiß möchte nicht aufhören zu fließen. Aber Frau Jöckel entfernt sich und ich sehe nur ihren roten Hintern, der in meine Richtung zeigt. Sie entfernt sich und lässt mich als kleines Häufchen Elend auf meinem Platz sitzen. Die Klasse lacht. Sie lachen über mich.
Schadenfreude. Klar freut sich jeder, wenn der andere Niederlagen hat! Die Welt ist so gemein! "Hat überhaupt jemand selber die Arbeit hier geschrieben?", fragt Charlotte lachend. Wut macht sich in mir breit.
"Verdammte Scheiße, ihr sollt euch doch alle verpissen!", schreie ich in mich hinein, "vor allem du, Charlotte!". Was soll ich jetzt machen? Noch einmal schreiben? "Also jetzt muss ich aber mal bei jedem gucken!" Frau Jöckel geht von Platz zu Platz. Ich keuche vor Empörtheit, Hitze, Hilflosigkeit. Unter Svens Blättern findet Frau Jöckel noch einen Spicker.
Überall werden noch Zettelchen oder Blättchen gefunden. Ich, ich bin nur wütend wie ein Stier, wie ein böser Teufel, der die ganzen Leute hier mit einem Baseballschläger blutig hauen kann! Ich hasse all diese dummen, gemeinen Schweine! Wie von einer gewaltigen Kraft getragen, schreibe ich mit meiner Wut voll geladen noch mehr. Die Frau soll sich doch an meinen Text tot lesen. Sie soll wissen, dass ich im Recht bin und SIE überhaupt nicht - mistverdammtes Universum!!! Meine Hand schreibt und schreibt. In 10 Minuten habe ich 2 Seiten fertig. Zwei schöne, volle, anstrengend zu lesende Seiten!
Bravo. Jetzt will ich mehr. Ich mache noch Aufgabe 4 und werde es der Lehrerin in Aufgabe 5 dann zeigen. Einsetzübungen, wie fantasielos! Immer nach demselben dämlichen Schema diese ulkigen Endungen der Konjugation hinter die Verben hängen! Da haben sich die Franzosen bei ihrer Sprache aber etwas gedacht. Bescheuert nur, dass hierbei so viel übergelegt werden muss und das raubt Zeit. 10 Minuten schmelzen dahin und ich kann die 5. Exercice, die Zusatzaufgabe, bearbeiten. Meine Hand schmerzt, mein Herz blutet, ich bin am Ende, zerstört, nicht mehr zu retten. Jetzt schreibe ich halt irgendetwas. Mir ist es egal. Mein Schicksal will mich ärgern und ich kann es nicht bekämpfen, so schließe ich mich ihn an.
Entkräftet und mit flauem Gefühl im Magen, gebe ich ab, nachdem ich noch die letzten Worte in der 5. Aufgabe geschrieben und lustlos einen Kontrolldurchgang gemacht habe.



Eingereicht am 17. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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