Tiger und Ratte
Torsten Houben
Eine Ratte huschte auf der Suche nach Nahrung durch den Wald, als ihr ein wunderbarer Duft von frischem Fleisch in die Nase stieg. Doch es war auch der Geruch von Gefahr zu wittern. Vorsichtig trippelte der Nager weiter und erblickte einen Tiger, der gerade begonnen hatte, den Büffel, welchen er soeben erlegt hatte, zu zerlegen. Die Katze hatte die Ratte längst schon aus den Augenwinkeln erblickt. Er hob den Kopf, wandte sich ihr zu und sagte: "Komm näher kleiner Freund. Bist du hungrig?"
"In der Tat war ich auf Suche nach Essbarem.", bestätigte die Ratte.
"Ich will dir helfen. Komm und habe Teil an der Mahlzeit."
"Hab Dank, Meister Tiger. Doch ich muss dir sagen, dass Ratten niemals allein sind. Ich habe viele Freunde und Verwandte, die alle ebenso Hunger leiden wie ich."
Der Tiger hatte sich stets allein durch das Leben gekämpft, er beneidete die Ratte um die Gesellschaft anderer und wollte daran teilhaben. Außerdem hatte er ein großes Herz und konnte es nicht ertragen so viele Tierchen hungern zu wissen.
"Rufe deine Familie. Der Büffel sollte für euch alle reichen. Ich überlasse ihn euch."
Das ließ sich die Ratte nicht zweimal sagen, stieß einen schrillen Pfiff aus und Dutzende von Nagern liefen herbei und stürzten sich auf das Fleisch. Der Tiger war einige Schritte zurückgewichen, setzte sich hin und beobachtete die Ratten, stolz auf sich, geholfen zu haben. Als der Büffel bis auf die Knochen abgenagt war verschwanden die Nager ohne der Raubkatze auch nur Beachtung geschenkt zu haben.
Bis bald meine Freunde, dachte der Tiger.
Einige Tage später hatte der Tiger erneut Erfolg bei der Jagd. Als er soeben den ersten Bissen nehmen wollte, erschien die Ratte, sah ihn mit großen Augen an und seufzte.
"Willkommen Freund. Was bedrückt dich?", fragte der Tiger.
"Ach Meister Tiger. Seit Tagen suche ich Nahrung für meine Familie und mich. Ich bin so klein und schwach. Ich schaffe es nicht allein."
"Ich habe hier Nahrung für euch alle", sprach der Tiger, zog sich an den Rand der Lichtung zurück und schaute erfreut auf die Rattenmeute, die sich über den Kadaver hermachte.
"Wie schön es ist, Freunde zu haben", dachte der Tiger.
Obwohl er bereits wochenlang nichts gefressen hatte, war der geschwächte Tiger immer noch stark und schnell genug, Beute zu machen. Gerade wollte er sich den Wams vollschlagen, als die Ratte erschien. Gewohnt freundlich hieß der Tiger sie willkommen, lud sie zum Essen ein und beobachtete wieder vom Rande der Lichtung aus, wie die Rattenfamilie sein Mahl auffraß und ohne ein Wort des Dankes verschwand.
"Nein, wie viele Freunde ich habe", dachte der Tiger. "Wie schön ihnen helfen zu können."
So ging das über viele Wochen. Bald war der Tiger so ausgemergelt und schwach, dass er nicht mehr jagen konnte. Er lag ausgestreckt auf der Lichtung, denn seine Beine trugen ihn nicht mehr.
"Meister Tiger. Ist euch nicht gut?", fragte die Ratte, die respektlos auf seinen Rücken geklettert war. Während sie sprach trippelt sie zum Kopf der Katze.
"Ach mein Freund. Selbst in meiner letzten Stunde bleibst du mir treu. Wie schön es ist Freunde zu haben", sprach der Tiger.
"Nicht wahr?", sagte die Ratte. "Habe ich dir nicht oft Gesellschaft geleistet? Habe ich dich nicht oft besucht?"
"Das ist wahr. Hab Dank dafür."
"Ach, Meister Tiger. Wie groß mein Kummer ist. Ich habe eine Familie zu ernähren und du nur dich selbst. Hast du nicht Zeit für mich, um mir aus der Not zu helfen?"
"Mein Freund, wie kann ich dir noch helfen? Ich fühle mein Ende. Doch wenn es euch hilft, so will ich dir auch das Letzte noch geben, das ich besitze."
"Das würdest du tun? Was ist das? Das kann ich nicht annehmen", pfiff die Ratte.
"Mich selbst. Nimm mein Fleisch und nähre dich und deine Lieben damit. Mehr kann ich nicht für euch tun", sagte der Tiger traurig und schloss die Augen für immer.
Schon bald darauf nagte sein "Freund" die Ratte dem Tiger den letzten Fetzen Fleisch von den Knochen und lief durch den Wald davon, um einen neuen Helfer zu suchen, der sich ausnutzen lassen würde.
Eingereicht am 05. Dezember 2004.
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