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Wie ein böser Witz

Jennifer Nausch


Als der kleine ungebetene Gast, der in meinem Teebecher gelandet war, nach unzähligen Versuchen sich zu retten endlich leblos an der Oberfläche umher treibt, denke ich: "Du hast es gut, kleine Obstfliege, du bist erlöst und wirst von nun an kein Leid mehr spüren können. Leid, das sich wie eine zugeschnürte Kehle anfühlt, ohne dass man jedoch dabei stirbt. - Du bist ja schon tot." Ich kann nicht klar denken, als ich den leblosen, verklebten Körper mit meinem kleinen Finger aus der dampfenden Flüssigkeit tunke und ihn mit aufgesetzter Coolness in eine Ecke meines Zimmers schnipse. Ich weiß nur, ich mache mir selbst etwas vor.
Eine Tasse Tee ist gut zur Beruhigung. Meine Nerven sind im Moment nicht wesentlich dicker als ein zarter Spinnfaden, weshalb ich mir eine Tasse der "Harmoniemischung" aufgebrüht habe. Denn die Harmonie lässt zurzeit zu wünschen übrig. Als ich die Tasse mit der noch dampfenden Flüssigkeit in die Hand nehme, umklammern meine Finger das Gefäß von selbst so fest, als könnte ich die durchdringende Wärme somit ganz und gar in mich aufnehmen und auf diesem Wege die tief sitzende Kälte in mir verjagen und vertreiben. Ich bin überaus konzentriert, als ich das Gefäß näher an meine Lippen heranbringe , so als wäre es das Kostbarste, was ich oder überhaupt ein Mensch jemals in seinem Leben besitzen könnte und dem es aus diesem Grunde mit äußerster Vorsicht und Zärtlichkeit zu begegnen gilt, möchte man es nicht verlieren. So wie etwas, das sozusagen das letzte von Bedeutung Verbliebene für Jemanden darstellen könnte, ohne welches man ganz alleine wäre. Endgültig und auf alle Ewigkeit. Doch der Schluck, den ich nehmen mag, wird mir mit einem Mal unmöglich. Dieses Mal ist es allerdings eine dicke salzige Träne, die von meiner Wange kullert, in den Tee stürzt und mich vom Trinken abhält.
Warum habe ich das winzige, hilflose Wesen nicht gerettet? Was zum Teufel hielt mich davon ab? Hatte ich nicht etwa genügend Zeit, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, solange das kleine Würmchen noch am Zappeln und am Kämpfen war? Waren eine Prise Nervenkitzel und befriedigendes Überlegenheitsgefühl der Grund, ihm beim so kläglichen und einsamen Todeskampfe zuzusehen?
Von ganz tief unten spüre ich in mir, wie sich in der Magengegend ein Gefühl anbahnt, das sich in der Regel am Ende in einem Heulkrampf oder etwas in der Art auswirkt. Ich verabscheue dieses Gefühl abgrundtief. Es ist ein Gefühl von Ohnmacht, ein Gefühl, dem man unterlegen ist. Machtlos. Langsam aber sicher bahnt es sich seinen Weg zuerst durch meinen Brustkorb, wo es von einem pochenden Schmerz begleitet und weiter gen Kehle geführt wird. Dort schiebt es gnadenlos den wie eingewurzelt feststeckenden Kloß aus Kummer hoch, raus aus meinem Hals. Mein Stolz und das Kampfesstreben gegen mich selbst sind wie verflüssigt und verdunstet. Zunehmend spüre ich, wie sich die lange, doch vergeblich unterdrückte Trauer in einem saftig brennenden Schwall von Emotionen entlädt und ich mich, den Kopf auf den Armen liegend, laut schluchzend und das Gesicht übersät mit Tränen wieder finde. Alleine. Ohne Freund. Ohne Menschen, die mich verstehen. Ich selbst verstehe mich noch nicht einmal.
War denn eine solch jämmerliche Lage in meinem Plan vorgesehen?
Gab es überhaupt einen Plan? Ich erinnere mich nicht, wie es so weit gekommen ist. Nur die sichere Ahnung, dass ich einiges dazu beigetragen habe, klopft an mein Gewissen und lässt weitere Tränen der Verzweiflung folgen, deren nahezu zärtliches Kullern mich an Streicheleineinheiten und sanfte Liebkosungen erinnert.
Ich schwelge in Gedanken an die Vergangenheit. Wo ich nun bin, dahin habe ich mich selbst katapultiert und das mit aller Macht und Schwungkraft. Es kommt mir vor wie ein böser Witz, als mir dämmert, dass ich mit Bravour sogar die Gesellschaft einer unterlegenen, unschuldigen Obstfliege verwehrt habe, was in diesem Moment so schlimm für mich ist, wie der Tod eines lieben Menschen.



Eingereicht am 25. November 2004.
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