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Wer ist schon perfekt?

Isabelle Kaden


An einem warmen Frühlingstag sah ich ein Mädchen alleine auf der Bank am Wegesrand sitzen. Sie las in einem Buch, bis sie aufblickte. Ich entdeckte in ihrem Blick, dass sie eine sehr interessante Persönlichkeit sein musste. Sie hatte blaue Augen, so tiefblau, dass man in ihre Seele schauen konnte. Ich ging langsamer, hielt an ihrem Blick, der mich so faszinierte, fest, bis sie sich von mir abwandte. Ich folgte ihrem Blick und sah eine Gruppe Jugendlicher, aufgemotzt, aufgestylt, die Sachen nur vom Feinsten, die Weiber ihre abgemagerten Beine in kurzen Miniröcken präsentierend, so kamen sie dahergelaufen und redeten mit Bierflaschen in der Hand nur wirres Zeug. Nun erblickten sie das Mädchen auf der Bank, die schnell aufstand und an mir vorbei mit schnellen Schritten ging und schon kamen die dummen Sprüche von den Jugendlichen: "Schaut euch mal unsere Jessica an, ach ist die heut' wieder hübsch." Eines der Mädchen in kurzem Rock antwortete: "So grau und unauffällig wie sie ist wird sie noch mit 80 alleine auf der Bank sitzen!" Sie lachten höhnisch und ein Junge in engen Jeans meinte: "Wäre doch auch grauenvoll, wenn sie auf ihr Aussehen betonen würde, da fällt es ja erst recht auf, wie dick sie ist." Sie zogen saufend und grölend an mir vorbei. Als es wieder ruhiger im Park wurde, bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit wie angewurzelt an einen Laternenmast stand. Ich setzte mich auf die Bank, wo zuvor das Mädchen mit den strahlend blauen Augen, wo sie - Jessica - saß. Ich dachte nach, dachte über die Situation mit der Gruppe nach. Und ich verstand nicht, warum die Jugendlichen sich über sie lustig machten, verstand nicht warum sie fluchtartig verschwand. Ich lehnte mich zurück und schaute in den wunderschönen wolkenlosen blauen Himmel, der mich sofort wieder an ihre Augen, die so vielsagend mich anschauten, erinnerte. Plötzlich bemerkte ich ein Buch unter meiner Hand, ein Buch mit vielen roten Rosen. Ich schaute hinein und begann darin irgendwo in der Mitte zu lesen:

Donnerstag, der 22.5.'01
Ich sitze gerade auf meiner Bank in unserem Park, ein Platz, den ich langsam lieb gewonnen habe. Ich kann von hier aus die Schwäne am Teich sehen. Wie ich finde, die hübschesten Tiere, wie sie immer so elegant ihre Köpfe drehen. Aber gerade das lässt mich an meinen Schultag zurückerinnern. Ich hasse sie, warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen, die Gruppe, die wir immer nur Alkis nennen, da sie schon vor der schule stockbesoffen sind. Ich traf sie heut' früh auf einem leeren Gang und sie redeten und schrien mich an, es hörte keiner, es war noch recht zeitig. Sie schrieen, ich solle endlich abnehmen, da wird einem ja schlecht, nur wenn man hinsieht; sie rotzten mir vor die Schuhe und zogen an meinen Sachen, mein Spitzname bei ihnen ist "graue Ente". Ich hasse sie, ja und ich hasse auch mich, ich hasse mein Aussehen. Meine Freundin Anja meint ich sehe völlig normal aus und ich wäre auch nicht dick, nur ein wenig kräftig gebaut, so drückt sie es immer aus. Doch ich glaube sie will mich damit nur trösten. Ich hatte mit meinem 16 Jahren noch keinen Freund und das ist in der heutigen Zeit schon ein wenig unnormal, aber ich weiß nicht , was ich tun kann, die einen lästern über mich, lachen sich kaputt und beschimpfen mich und die anderen tun als sei ich super schön, doch ich glaube ihnen nicht, warum hab ich sonst meinen Spitznamen.

Ich las diese Zeilen und war erschrocken, erschrocken über das, was ich gelesen hatte. Ging es wirklich um das Mädchen, was ich vorhin gesehen hatte, was mich so fasziniert hatte? Ich konnte es kaum glauben. Ich wollte ihr das Buch irgendwie wiedergeben, wusste aber nicht wie. Ab dem Tag an saß ich immer um dieselbe Zeit mit dem Buch in der Hand auf der Bank, doch sie kam nie wieder hierher. Doch eines Tages kamen zwei Polizisten auf mich zu und zeigten mir ein Photo, ein Photo von ihr und fragten ob ich sie kenne würde, sie wäre oft hier gewesen. Ich sagte ihnen, dass ich sie nur einmal gesehen habe, aber auch das ich ihr Tagebuch gefunden hatte, ich gab es ihnen und fragte, was los sei. Und sie erklärten mir, dass sie letzte Nacht Selbstmord begangen hatte.



Eingereicht am 20. November 2004.
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