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Die letzte Seite

Britta Dubber


Katja saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, das aufgeschlagene Tagebuch lag in ihrem Schoß.
Es hatte nur noch eine freie Seite. Seit fast einem Jahr schrieb sie tagtäglich ihre Gedanken auf. Manchmal nur wenige Sätze, manchmal ganze Seiten. Das Tagebuch, das ihr Verlobter ihr kurz vor seinem mysteriösen Verschwinden geschenkt hatte, war in der schwersten Zeit ihres Lebens ihr Begleiter und einziger Vertrauter geworden.
Liebevoll strich sie über das braune Leder und die kleinen bunten Strasssteine, die auf der Vorderseite die Wörter "In Liebe" bildeten.
Sie erinnerte sich noch ganz genau an den Abend, als Mark ihr das Tagebuch, eingewickelt in einer roten Samtschleife, übergeben hatte.
"Ich habe doch gar kein Geburtstag", hatte sie lächelnd gesagt.
"Einfach, weil ich dich liebe", hatte er geantwortet und im nächsten Moment erzählte er von seiner Geschäftsreise. Er wurde von seiner Firma nach Australien geschickt, voraussichtlich für die Dauer von drei Monaten.
"Ich werde immer an dich denken und versuchen so oft wie möglich dich anzurufen, aber wenn ich dir zu sehr fehle, schlägst du dieses Buch auf und schreibst all deine Gedanken hinein, dann wird der Schmerz nicht mehr so groß sein und spätestens wenn du an der letzten Seite angelangt bist, werde ich wieder hier sein, versprochen."
Drei Tage später war er in das Flugzeug gestiegen. Am Flughafen von Sydney war er das letzte Mal gesehen worden. In seinem Hotel kam er nie an.
Tränen rannen über Katjas Wangen, bei dem Gedanken, was ihm alles hat zugestoßen sein können.
Trotz sorgfältigem Einsatz der örtlichen Polizei waren weder eine Leiche noch irgendwelche Spuren gefunden worden, die Aufschluss über seinen Verbleib gaben. Es war alles sehr mysteriös.
Katja hatte nie die Hoffnung aufgegeben, Mark irgendwann wiederzusehen.
Mark war der zuverlässigste Mensch, den sie kannte. Er hatte bis jetzt all seine Versprechen gehalten.
Sie war nun an der letzten Seite angelangt und ihm bleib nicht mehr viel Zeit, sein Versprechen einzulösen.
"Er kommt nicht, er hat dich verlassen!", hörte sie ihre Mutter sagen, die plötzlich im Türrahmen stand.
"Er kommt. Ganz sicher", flüsterte Katja und umklammerte das Buch.
"Nein, er kommt nicht. Er konnte es gar nicht abwarten von dir wegzukommen und sich in der Fremde ein ganz neues Leben aufzubauen. Wie blöd bist du eigentlich?"
"Sei still!", schrie Katja und funkelte ihre Mutter wütend an, die langsam ins Zimmer trat und sich gegen den Kleiderschrank lehnte. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, wie sie es immer schon getan hatte, während sie mit ihrer Tochter sprach, dann blickte sie Katja genau in die Augen und lächelte süffisant.
"Du warst schon als Kind so naiv. Das hast du von deinem Vater, der war auch saublöd. Zum Glück hat deine Schwester den nötigen Realitätssinn."
"Halte dich einfach aus meinem Leben raus Mama." Katjas Stimme zitterte leicht und sie wusste genau, dass ihre Mutter erkannte, wie klein sie sich fühlte, immer in ihrer Nähe gefühlt hatte.
"Du bist ein Nichts. Ein kleines naives Nichts. Hättest du auf mich gehört ..."
"Hör auf!", schrie Katja, wesentlich lauter, als sie beabsichtigt hatte.
"Du kannst schreien so laut du willst, dadurch bist noch lange nicht im Recht. Du kennst doch den Spruch, wer die Wahrheit spricht braucht seine Stimme nicht zu erheben."
"Mark hat mich geliebt. Er hätte mich niemals verlassen", sagte Katja und weitere Tränen rollten über ihr Gesicht, über ihre Lippen und tropften vom Kinn.
Sie schmeckte das Salz, das auf ihrer Zunge wie Feuer zu brennen schien, aber sie genoss den Schmerz. Er gab ihr das Gefühl, lebendig zu sein.
"Du musst noch viel über Männer lernen, Katja. Männer sind gar nicht fähig zu lieben. Sie denken es, aber das resultiert daraus, dass sie Sex mit Liebe verwechseln. Und wenn du ihnen zu viel Sex gibst, erlöscht diese so genannte Liebe bald wieder."
"Das ist nicht wahr", sagte Katja in ruhigem Ton und wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht.
"Doch, das ist es. Nicht ohne Grund habe ich dir immer wieder versucht klarzumachen, wie wichtig es ist bis zur Hochzeit mit dem Sex zu warten. Aber du wolltest ja nicht hören. Wie ein Flittchen hast du es mit ihm getrieben und nicht einmal einen Gedanken an Verhütung hast du verschwendet."
"Das ist nicht fair, Mutter."
"Das ist die Wahrheit, mein Kind. Aber Sünder werden bestraft, das war auch der Grund weshalb du diesen Bastard verloren hast."
"Ich habe das Kind verloren, weil du mir Medikamente in den Tee getan hast!", schrie Katja und stand abrupt vom Bett auf, wobei das Tagebuch auf den Boden fiel.
"Ich hätte gleich misstrauisch werden sollen. Meine herrische Mutter verwandelt sich auf einmal in ein tröstendes und fürsorgliches Wesen. In einem Punkt hast du wirklich Recht gehabt. Ich bin naiv!"
Katja ging auf ihre Mutter zu, doch als es an der Tür klopfte, hielt sie inne und setzte sich wieder auf ihr Bett. Ihr Herz begann zu hämmern und ihre Hände waren feucht. Mark, schoss es ihr durch den Kopf.
"Frau Klein, mit wem reden Sie denn?"
Katjas Hoffnung zersplitterte und fiel in tausend Scherben zu Boden.
"Mit Niemandem, Schwester Silke."
Die kleine zierliche Person mit blondem Pagenkopf trat ans Bett und musterte Katja kurz.
"Sie haben wieder ihre Mutter gesehen, stimmt's?"
Katja blickte nach unten und nickte.
"Das Abendessen ist fertig, kommen Sie? Und anschließend müssen Sie Ihre Medikamente abholen kommen. Sie bekommen jetzt auch abends eine Halbe Tablette."
"Ich komme gleich", sagte Katja und blickte der Krankenschwester nach, wie sie aus dem Zimmer ging. Sie schwenkte den Kopf zu der Stelle, an der sie Sekunden zuvor noch ihre Mutter gesehen hatte. Jetzt sah sie niemanden mehr dort, aber sie fühlte wie ein Paar Augen sie beobachteten.
Katja hob das Tagebuch auf und griff nach ihrem Kugelschreiber, den sie immer in der Hosentasche bei sich trug. Dann begann sie zu schreiben:
Liebes Tagebuch. Ich werde vielleicht bald entlassen. Heute Morgen in der Visite wurde mir gesagt, dass ich schon große Fortschritte gemacht habe ...



Eingereicht am 15. November 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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