Nach Freiburg
Heiko Höflich
Es ist schon merkwürdig, diesen Weg als einen Abschied zu fahren. 30 Jahre lang habe ich hier gelebt, immerhin: 30 Jahre. Bis jetzt fuhr ich auf diesem Weg weg von hier, jetzt fahre ich hin. Hin? Wohin? Nach Freiburg.
Freiburg: Was ist das? Eine Stadt, ein Name, eine Erinnerung vielleicht? Eine Selbstkasteiung, glaube ich. Eine Chance dachte ich zuerst, ein neuer Anfang, aber dann doch: Eine Selbstkasteiung, mit denselben Problemen wie ehedem.
Im Wagen neben mir setzt gerade jemand eine Sauerstoffmaske auf. Der hat noch echte Probleme; dagegen bin ich lächerlich. "Man muss das in Relation sehen", sagt mein Gewissen. Nur mal in eine andere Stadt; als wenn das was Besonderes wäre! "Ist es", sage ich, denn es ist ich.
Der Vollmond schaut traurig vom Himmel. Vorbei, aber nicht vergessen. Es ist unnatürlich hell heute Nacht, bemerke ich nebenbei, aber heute Nacht ist alles unnatürlich, was mich umgibt. Wie gefühllos der Mensch doch sein kann, wenn er es nicht mehr erträgt! "Interessanter Mechanismus", meint mein Gewissen. "Große Scheiße!", sage ich dazu.
Dann ein Stau, ein Unfall wohl, und ein Gedanke sagt mir, ich fahre runter von der Autobahn - damit es schneller geht. Kein Gedanke erinnert mich an Einzelschicksale.
Ein Wohnwagen liegt in Trümmern wie ein Skelett in der Nacht; alle Lichter sind zerschlagen. Welche Träume dabei verloren gehen! Aber was, zum Henker, interessieren mich schon die Träume der anderen?!
Nur mal eben einen Freund besuchen, das war mein Vorwand und jetzt werden sie mich suchen; vielleicht noch nicht jetzt, aber spätestens morgen - wenn der Nebel sich gelegt hat. Ich habe schlechtes Gewissen. Sie haben für mich getan, was sie tun konnten, aber mir war eben nicht zu helfen. Deswegen bin ich weggefahren - oder eben hin - auch wenn ich weiß, dass der eine oder andere seine Tränen unterdrücken muss und: Nein, sie haben es durchaus nicht verdient; das will ich nicht sagen. Ich bin ja nicht gegangen,
weil sie es nicht gut mit mir meinten. Ich konnte nur einfach nicht mehr so weitermachen.
Vielleicht ist das selbstsüchtig von mir, vielleicht finden auch Sie das grausam, meine Damen und Herren, aber ich habe letztlich nichts anderes versucht, als mich selbst zu retten. Das wird sicher wieder keiner verstehen, auch wenn sie immer alle so getan haben, als verstünden sie mich.
Aber wenn ich ehrlich bin, war es schon die ganze Zeit so, dass keiner gemerkt hat, was wirklich mit mir los war. Es ist nämlich nicht so, dass ich unglücklich gewesen wäre, nein, die Dinge sind nur einfach an mir vorüber gezogen - und das ist manchmal noch schlimmer.
Der Morgen dämmert und die Röte steigt hinter den Wäldern auf als sei es ein ganz normaler Tag - wie einer von jenen Tagen, an denen ich noch weg fuhr und nicht hin. Die feuchten Tropfen der Nacht glänzen noch wie Perlen auf den Ästen, aber es ist mir, als komme der Glanz nicht von der Sonne, sondern löse sich direkt aus den Bäumen heraus, nein, sogar aus sich selbst, aus seinem eigenen Ursprung. Ursprung? Was ist denn das schon wieder? Irgendein Mutterleib vielleicht? Klingt so harmonisch, ist es aber gar nicht;
Ursprung ist für mich nichts anderes als der erste Schritt nach Golgatha; Harmonie ist da nirgends, nur Heuchelei. Und eben davor bin ich ja geflohen.
Mein Wagen hält vor einem alten Haus mit verstaubten Sechs-Feld-Fenstern (oder wie auch immer die Dinger heißen). Ich steige aus und staune. Hier ist es also: Hier soll ich nun wohnen. Was heißt wohnen? Leben sogar! Doch davon bin ich weit meilenweit entfernt. Und selbst mein Name steht schon an der Tür. Glücklicherweise hat das nichts mit mir zu tun. Es ist bloß ein Name, der so klingt wie meiner.
Ich trete in einen kühlen Flur. Altbau, zweiter Stock und die Treppe knarrt.
Das Gefühl hier jeden Tag ein und aus zu gehen, mir alles hier vertraut zu machen, gefällt mir sogar ein bisschen. Es müsste nur noch einen Pförtner geben, dann wäre die Dekadenz perfekt. Doch schon als ich an der Wohnungstür stehe, befällt mich wieder diese Fremde, der Schutzwall zwischen dem, was in mir und was außen ist.
Aus lauter Stolz habe ich mir eine eigene Wahrheit zurecht gelogen. Ich wollte es ihnen diesmal zeigen, wollte ihnen beweisen, dass es auch ohne sie geht - und nicht wieder warten bis sie mit den Fingern auf mich zeigen und sagen: "Das habe ich doch gleich gesagt, dass du das nicht machst". Jetzt heißt es Verzicht üben. "Vielleicht wird es ja eines Tages doch noch gut sein", sagt mein Über-Ich. "Schnauze!", sage ich, und Sie merken, meine Damen und Herren, ich werde meinen inneren
Widersachern gegenüber langsam aggressiver. "Bloß raus hier!" füge ich noch an, und nicht wieder warten bis die Erinnerung kommt, diese ewige Angst davor, neuen Menschen gegenüberzustehen und immer wieder erklären zu müssen, warum ich eigentlich hierher gekommen bin. Man kennt ja diese Fragen.
Ich bin auf dem Weg zu Thomas, also tatsächlich einen der so genannten Freunde besuchen, die ich hier unten schon kenne. Er wohnt weit draußen, fast schon an der Autobahn, aber gerade noch so, dass ich zu Fuß gehen kann.
Jetzt noch mal fahren zu müssen würde mich erdrücken, zu-Fuß-gehen macht nur Angst. Damit kann ich umgehen.
Die Hitze ist schon erdrückend genug und die Menschen auf dem Gehweg starren mich mit leeren Blicken an. "Das bildest du dir nur ein", sagt das Gewissen schon wieder. "Aber es ist so", sage ich und lasse mich auf keine Diskussion mehr ein. Normalität ist nur dann, wenn niemand lästig ist und ich bin lästig, weil überflüssig. Die Leute hier unten wären auch ohne mich zurecht gekommen.
Es kommt so viel von früher hoch, wenn man so durch fremde Straßen geht. Die zertretenen Krischen erinnern mich an den Urlaub in Italien, der Geruch ist derselbe wie damals auf dem Fußballplatz. Aber dann kommen auch wieder die Kaffeekränzchen und die anderen toten Tage, an denen sie mich oft so weit brachten, ihre armseligen Existenzen demütigen zu wollen. Am Ende bin ich dann aber doch immer brav sitzen geblieben, habe meinen Kuchen gegessen und ihr Geschwätz ertragen.
Um dem zu entkommen, bin ich heute Nacht gefahren. Ich kenne ja meine Schwächen. Ich weiß, ich hätte ihren Argumenten nicht widerstanden, obwohl sie eigentlich gar keine hatten außer "Überleg doch mal, was du alles erreicht hast. Das setzt man doch nicht so einfach aufs Spiel!". Klar, ich werde ein paar Dinge vermissen, würde sie vielleicht schon jetzt vermissen, wenn ich in der Lage wäre, irgendetwas zu fühlen. Aber das wird sich schon geben, rede ich mir ein - obwohl ich natürlich weiß, dass es nicht
so ist, dass ich leiden werde wie ein Hund. Aber kein Erfolg ohne Selbstbetrug.
Selbst die Häuser starren mich an. Trotzdem sehen sie nicht anders aus als Zuhause und ich weiß nicht, ob ich darüber traurig sein soll oder nicht. Ich halte es für unmöglich hier zu leben - weder hier noch anderswo. Und dabei kann ich nicht mal jemandem die Schuld dafür geben. Selbst meine so genannten Freunde sind nur ein Abbild meiner eigenen Armseligkeit. Trotzdem renne ich immer wieder hin und diskutiere mit ihnen, ob man Sexualstraftäter ein Leben lang wegschließen sollte oder nicht. Keine Chance den Menschen,
jede Macht dem System! Wie banal das Leben doch sein kann. Ich bin sicher, sie hätten mich eines Tages noch zu Tode geschwätzt.
Die Sonne brennt mir im Genick. "Du bist jetzt ein Heimatloser", behauptet die Vernunft, mein neuer Feind. "Absurdität wie im Mittelalter", fällt mir dazu ein. Ein Alltag wie eine Hölle und selbst in der Flucht keine Hoffnung, so ist es wirklich. Materieller Leistungsdruck, sexuelle Ohnmacht und ich mittendrin: Ein Versager auf allen Ebenen. Revolution? Sprach da gerade jemand von Revolution, meine Damen und Herren? Ich würde gerne daran glauben, aber nicht mit mir, Leute. Alles führt weiter
- bis zur Vergasung.
Das ist meine Meinung. Ob ich denn jubeln könnte, wenn sie doch käme - die Revolution meine ich? Nein, ich fürchte, ich hätte auch dann noch Angst.
Wozu also?
Thomas wohnt jetzt in einem Getränkemarkt. An seiner Zimmertür steht "SEKRETARIAT". Ja, ja, ist schon irgendwie originell, aber bringt uns das weiter? "Das Bier gibt´s um die Ecke, wenn man abends mal Durst bekommt", ist sein Argument. "Aber leider ab 18 Uhr geschlossen!", denke ich, aber spreche es nicht aus.
Wir sitzen um einen Küchentisch. Der Aschenbecher ist zum Überfließen voll.
Ich wette, wenn ich noch eine Kippe hineindrücke, verteilt sich die ganze Chose auf dem Tisch. Thomas erzählt von seinem neuen Job: "Ja, es ist prima, man kommt viel rum." Er spricht, als säße er in einem Ofenrohr - "oder in einem Gully, hehe", denke ich und schmunzle. "Ja, heute Nachmittag muss ich noch nach München. Die kommen da nicht mit ihrer Software zurecht", höre ich die Stimme aus dem Ofenrohr noch sagen und schlagartig vergeht mir das Lachen. Bei aller Armseligkeit: Ich
brauche diesen Kerl heute Nachmittag, ich brauche ihn - selbst wenn er nur dasitzt und die Fresse hält. "Bloß nicht allein sein mit meiner Erinnerung, bloß nicht zurückmüssen in dieses verdammte neue Haus!", schreit mein Gewissen. "Halt's Maul!", sagt der Stolz. Ich selbst halte mich raus und gehe pinkeln. Das Klo ist der einzige Ort, an dem ich frei bin von meinen Stimmen. Klingt lächerlich, ist aber so.
"Wir können zusammen an den Teich gehen", sagt Stefanie, seine Mitbewohnerin, als ich zurückkehre. Und ich mag sie sofort. Nicht als Frau, nein, dafür ist sie ein wenig zu rund um die Hüften, aber als Mensch. Sie hat so etwas Liebenswürdiges, so etwas kindlich-naives - und sie kümmert sich um mich. Das ist wahrhaft eine Heldentat.
Also lasse ich den Trottel mit seiner Software allein und gehe mit Stefanie vor die Tür. Draußen ist es still geworden. Aber es ist eher so etwas wie eine bürgerliche Stille - falls es so was gibt -, also eine Stille, die irgendwie keinen Zweck erfüllt. Trotzdem tut sie mir gut. Bürgerlichkeit ist ja manchmal auch ein Schutz, erkenne ich verzweifelt an und sehe meine Felle schwimmen.
Die Hitze wird unerträglich. Wir kommen an einer Tankstelle vorbei und Stefanie will ein Eis. "Ist gut, ich warte", sage ich und bin froh einen Moment lang allein zu sein. Eine Zigarette, einen Hauch von Einsamkeit und verstehen lernen, was hier gespielt wird. Die Dinge geschehen jetzt so rasend schnell, dass ich sie nicht mehr richtig begreifen kann. War das eigentlich schon immer so? Nein, ich glaube, das ist erst so seit ich hier bin. Ein weiterer Meilenstein an meinem Elendspfad.
"Man muss heutzutage flexibel sein", höre ich von irgendwo eine Stimme sagen und denke nur: "Ach Gott, das ist ja schlimmer als früher". Natürlich ist es das auch. Es ist immer alles schlimmer als früher. Aber wie, zum Teufel, komme ich jetzt auf die Idee, von Gott zu sprechen? Mich beschleicht das unbestimmte Gefühl, dass der auch nur versucht, seinen Profit aus meiner Lage zu schlagen. Zumindest jedoch weiß er sich im Gespräch zu halten.
Materieller Leistungsdruck und Gott und ich mittendrin: Mir fehlt nur noch eine Narrenkappe.
Stefanie ist wieder da, lutscht genussvoll an einer Plastiktüte. Zwei alte Frauen schlendern an uns vorbei. Ob man so was Schlendern nennen kann? Eine von beiden sitzt im Rollstuhl, hat keine Beine mehr - aber ein freundliches Gesicht immerhin. Ihr frisch frisiertes Haar - mit Haarspray in Form gestanzt wie eine Mauer aus frischem Beton - bewegt sich keinen Millimeter mehr im Wind. Und es ist windig! Die andere ist offenbar psychisch gestört.
Jedenfalls hat sie keine Ahnung, in welche Richtung sie den Rollstuhl schieben soll. Beide freuen sich: Sie leben. Ich wundere mich nur, warum Menschen, die behindert sind, auch immer so aussehen müssen.
Ob diese beiden Frauen schon mal verliebt waren? Das Gefühl, dass jede Liebe aussichtslos ist, wenn man irgendeinen körperlichen Makel hat, erscheint mir ekelhaft. Und wieder danke ich Gott für die Schönheit - obwohl sie mich rasend macht. Sexuelle Ohnmacht und ich mittendrin. Gebt mir endlich meine Narrenkappe - damit man mich besser erkennen kann! Aber bitteschön mit Glocken dran!
Der Teich ist schön, aber langsam bin ich genug unter Menschen gewesen. Das monotone Geschwätz meiner Begleiterin fängt an mich zu nerven. Ich brauche einfach noch Zeit, um solche Eskapaden wieder ertragen zu können. Auch sie hat es wahrscheinlich nur gut gemeint, aber das ist ja gerade das Problem.
Es wirkt alles so verdammt bekannt und das ist demütigend, wenn man die Hoffnung hatte, sein Leben zu verändern.
"Ich will wieder nach Hause", sage ich und erst als ich es ausspreche fällt mir auf, dass man wohl kaum etwas Zuhause nennen kann, was man sich nicht vorher vertraut gemacht hat. Aber ich habe keine Lust mehr, mit Gewissen und Vernunft zu streiten und stelle mich stur. Manchmal muss man einfach ein Mann sein. Jawohl, ein Mann - auch wenn Sie mich jetzt so merkwürdig dabei ansehen, meine Damen und Herren.
Es beginnt schon zu dämmern. Ich stehe wieder vor dem Haus, in dem ich jetzt leben soll. Seine Fassaden starren mich im Halbdunkel mit großen Augen an.
"Doch ja, ich bin zurückgekehrt!", sage ich halblaut, aber bemerke nicht, dass mein Schild von der Haustür verschwunden ist, dass nur noch ein leeres Papier dort prangt, wo heute Morgen noch mein Name stand. Ich will nur noch schlafen, schlafen den Schlaf der Gerächten (mit "ä" wohlbemerkt).
Mein leeres Bett starrt mich an. Unwillkürlich muss ich an all die Jahre meines Lebens denken, in denen es mich schon begleitet hat. Und wie ich so dastehe und nachdenke, wird mir plötzlich bewusst, dass es noch Monate dauern wird, bis ich all das vergessen habe - oder nein: Nicht Monate, ein ganzes Leben. Vor allem die schönen Tage wird mein Gedächtnis immer wieder hervorholen, das ist klar, und glauben Sie mir, meine Damen und Herren: Ich verfluche es dafür. Und zum ersten Mal bereue ich für den Bruchteil eines
Momentes, dass ich nicht dort geblieben bin, wo ich herkam - so scheußlich es auch war.
Ich ziehe mich aus und starre an die Decke. Das Zimmer ist noch kahl, aber an diesen Anblick werde ich mich wohl gewöhnen. "Man soll sich mit seinen Problemen auseinander setzen!", haucht mein Gewissen in einem letzten Atemzug, doch ich weiß, es hat seinen Kampf verloren. Trotzdem glaube ich ihm und zwinge mich, all die schönen Bilder solange festzuhalten, bis ich es nicht mehr ertrage. Es hilft: Ich schlafe ein. Ein Hoch auf mein Gewissen!
Tote soll man ehren.
Mein Wecker klingelt und ich höre irgendwo in der Ferne ein Lachen. Aber es ist ein Lachen in Moll, so wie jemand ohne Lungen lacht (wie Kafka sagen würde). Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und wie lange ich geschlafen habe.
Doch als ich die Augen aufschlage, sehe ich nur dieselbe weiße Decke wie am Abend. Kein einziger Millimeter hat sich verändert. Habe ich das Lachen nur geträumt? Ich falle ins Kissen zurück und drehe mich noch einmal um.
Doch einen Moment später erwache ich erneut. Ich bin sicher, dass dort irgendwo ein Lachen war. Plötzlich bin ich hellwach. Ich richte mich auf, reibe mir die Augen und sehe mich um. Mein Blick erstarrt. Im Türrahmen stehen die beiden Frauen, die ich gestern an der Tankstelle sah: Die ohne Beine und die Blöde. Sie wohnen hier, hier bei mir im Haus, in meiner Wohnung, behaupten sie, und sie lachen mich aus, weil ich nicht behindert bin.
Eingereicht am 16. November 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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