Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Twentysomething
Ann Boe
Manchmal, wenn Ciara morgens aufwacht und feststellt, dass sie noch immer zwischen den kalten weißen Laken liegt, ist sie enttäuscht, dass sie noch lebendig ist und sich über Nacht nicht in Luft aufgelöst hat. Dann wünscht sie sich, sie wäre tot. Anfangs hat sie jeden Abend vor dem Einschlafen gebetet, sie möge doch bitte im Schlaf sterben, weil sie das Leben und seine harte Wirklichkeit nicht mehr ertragen kann. Das tut sie nun nicht mehr; inzwischen ist es egal geworden, sie hat sich daran gewöhnt, wie ein
Rheumapatient, der lernt, mit den ständigen Schmerzen zu leben, so dass er sie eigentlich kaum mehr spürt; nur manchmal kommt er zurück, wie heiße Nadeln, die sich durch die Haut bohren, mitten ins Herz.
Heute ist so ein Tag. Ciara weiß, dass es spät ist und sie aufstehen sollte, schließlich ist es ungesund, zu lange zu schlafen, sagt ihre Mutter immer, aber trotzdem lässt sie den Kopf wieder auf das Kopfkissen sinken.
"Wir sterben sowieso alle", sagt sie zu der halb vertrockneten Topfpflanze auf dem Fensterbrett, "und dann ist es scheißegal, ob wir jetzt gesund oder ungesund sterben." Schließlich steht sie aber doch auf, aus Gewohnheit und irgendwie aus einer Art Pflichtgefühl. Der Himmel draußen ist grau, als sie aus dem Fenster schaut, dabei ist es erst Anfang Oktober, aber die Temperaturen sind auf acht Grad Celsius gesunken und es regnet den ganzen Tag, wie im November. November ist die Zeit zum Sterben,
denkt Ciara und wundert sich gleichzeitig über sich selbst. Sie ist sonst nicht so depressiv; hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden, falls es tatsächlich so etwas wie Schicksal gibt. Ciara reckt sich, und ihre Glieder schmerzen wie die einer alten Frau. Es ist jetzt kurz nach zehn. Und während sie sich so dehnt und reckt, überlegt sie, wie sie die restlichen vierzehn Stunden des Tages rumkriegen soll. Ciara ist jung, irgendwas mit zwanzig, ihr genaues Alter hat sie vergessen - oder verdrängt - und kaputt. Und
an Tagen wie diesem ist ihr einziger Trost Kevin, der ihr Leid mit ihr teilt. Kevin war - ist - ihre erste große Liebe. Der coole Punker aus der Mittelstufe, den alle geachtet, gefürchtet und irgendwie bewundert haben. Und ausgerechnet mit ihr, dem pummeligen, schüchternen Mädchen aus der Nachbarklasse, das keine Freunde hatte, war er zusammen. Mit ihm zusammen hat sie den ersten Sex gehabt, das erste Mal Gras geraucht, die erste Ecstasy Pille geschluckt und gefeiert, bis sie gekotzt hat. Und er war da und hat
ihr das lange schwarze Haar aus dem Gesicht gehalten, während sie die schwarze Pampe in den glitzernden weißen Neujahrschnee gespuckt hat. Und dann haben sie auf einmal angefangen zu lachen, als sei das Ganze nur ein Witz gewesen, nur ein Scherz, dass sie bei der ersten Ecstasy Pille gleich schlechten Stoff erwischt hat, und sie haben sich hingelegt und Schneeengel gemacht. Obwohl es draußen minus vier Grad kalt war und Ciara nichts als ein dünnes Top trug. Danach war ihnen beiden saukalt, und Ciara hatte eine
Lungenentzündung. Die anderen haben sie für verrückt erklärt. Aber das war ihr egal gewesen. Sie hatte Kevin; er war alles, was sie brauchte.
Jeden Morgen stellt sich Ciara unter die heiße Dusche; es ist ihre Belohnung, die Belohnung dafür, dass sie schon wieder aufgestanden ist, dass sie sich wieder dazu bereitmacht, einen beschissenen Tag zu überstehen.
Ciara steht mit geschlossenen Augen da und spürt, wie das heiße Wasser ihren Rücken herunterrinnt. Aus dem Wohnzimmer heraus hört sie Kevin rufen, dass sie nicht so lange duschen soll, Wasser ist arschteuer, was denkt sie eigentlich, wer er ist, Millionär vielleicht? Sie kann ihn vor sich sehen, wie er vorm Fernseher sitzt, RTL Homeshopping sieht und dabei ein Bier trinkt, dabei ist es erst neun Uhr morgens. Seufzend nimmt Ciara den Duschkopf in die Hand und braust sich ab, heiß und kalt und dann wieder heiß,
bis ihr Körper ganz verbrannt ist. Zitternd tritt sie aus der Dusche in das kalte Badezimmer. Der Spiegel an der Wand ist beschlagen. Sie wischt mit einem Handtuch darüber und betrachtet ihren nackten Körper. Die blasse Haut und die hervortretenden Rippen und Hüftknochen, die damals noch nicht da gewesen sind. "Mein Gott", denkt Ciara, "wo bist du hingekommen?"
Normalerweise hätte sie sich verachtet, doch heute Morgen fehlt ihr ganz einfach die Kraft dazu. Ciara geht ins Schlafzimmer und zieht sich an, Unterwäsche, Strümpfe, Hose, Pullover, so, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hat. Kurz überlegt sie, ob sie Wimperntusche und Lippenstift benutzten soll, entscheidet sich dann aber dagegen. Kevin würde es eh nicht bemerken. Er würde es wahrscheinlich nicht einmal mehr bemerken, wenn sie auf einmal verschwunden wäre. Ihr erster Gang führt in die Küche. Ciara hat zwar
keinen Hunger, doch ihre Mutter hat ihr beigebracht, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist und man sie deshalb auf keinen Fall ausfallen lassen darf. Und daran hält sie sich, obwohl sie seit mindestens sechs Jahren nicht mehr zuhause wohnt. In der Küche ist es dreckig.
Schmutziges Geschirr stapelt sich in der Spüle. Auf der Anrichte stehen leere Bierdosen. Auf dem Boden sind Wasserflecken zu sehen. Ciara weiß, dass sie saubermachen sollte, kann sich aber einfach nicht dazu aufraffen. Wozu auch? Im Kühlschrank herrscht gähnende Leere. Zwei Tomaten, ein angebrochenes Paket Milch, mehr nicht. Ciara seufzt. Kevin hätte gestern eigentlich einkaufen gehen sollen. Hat er natürlich nicht getan. Wenn ihre Mutter sie jetzt sehen könnte, mit dem dreckigen Freund und der noch dreckigeren
Küche, hätte Frau Kovalk sich geweigert, mit ihrer Tochter auch nur ein Wort zu wechseln. Und wüsste sie von ihrer und Kevins Krankheit, hätte sie Ciara dafür noch mehr verachtet als für die unordentliche Küche.
Kevin sitzt tatsächlich auf der Couch mit einem Bier in der Hand. Als Ciara sich neben ihn setzt, sagt er nichts, starrt nur weiter auf die flimmernden Bildchen auf der Mattscheibe. Ciara betrachtet ihn und denkt an den Mann, den sie früher so sehr geliebt und bewundert hat. Er ist nicht rasiert, und sein Gesicht ist eingefallenen. Sie hasst es, wenn er sich so gehen lässt.
"Du", sagt sie leise und berührt seinen Arm. Er reagiert nicht.
"Warum warst du nicht einkaufen? Wir hatten es doch abgemacht, dass du dienstags immer einkaufen gehst. Und wir haben nichts mehr im Kühlschrank, Schatz." Endlich dreht er sich zu ihr um, und sein Blick ist gehetzt.
"Nein, ich war nicht einkaufen, wie denn? Ich bin kaputt, ich kann nicht mehr, verstehst du? Verstehst du das nicht?" Nach diesem Wortausbruch sackt er erschöpft zusammen und wendet seinen müden Blick wieder auf den Fernseher. Als sei sie gar nicht da. Nein, natürlich nicht.
Natürlich kann er nicht, denn er ist krank, sie ist krank; sie alle beide sind krank und manchmal, in absurden, seltsamen Momenten, streiten sie sich darüber, wer der Kränkere von ihnen ist.
Ciara hat sich tatsächlich aufgerafft und ist einkaufen gegangen. Der Supermarkt ist von ihrer und Kevins Wohnung nur eine gute Viertelstunde entfernt, aber als sie dort ankommt, fühlt Ciara sich erschöpft wie nach einem Hundertmeterlauf. Am Himmel haben sich dicke graue Wolken zusammengeballt, Menschen hasten über den Parkplatz, kleine Kinder quengeln, es riecht nach Hähnchenfleisch. Ciara zieht den Kragen ihres Regenmantels noch ein Stückchen höher und betritt den Supermarkt. Leuchtend rotgrüne Äpfel und quietschgelbe
Bananen lachen ihr entgegen, zusammen mit einem Meer aus Ananas, Apfelsinen, Mangos und Weintrauben. Ciara entscheidet, dass sie und Kevin ein paar Vitamine brauchen und legt ein Netz Nektarinen in den roten Plastikkorb. Dem Obst folgen die Milchprodukte, dann kommen die Hygiene- und Kosmetikartikel, anschließend die Wurst- und Käsetheke, die Backwaren und zu guter Letzt, die Süßigkeiten und die Getränke. Mit voll gepacktem Einkaufskorb stellt sich Ciara schließlich an der Kassenschlange an.
Vor ihr steht eine müde aussehende Frau mit zwei Kleinkindern an der Hand. "Mama, krieg' ich ein Eis?", quengelt das Mädchen, ein süßes kleines Ding mit blonden Zöpfen. "Au ja, ein Eis!", ruft auch der kleinere Junge begeistert. "Jetzt nicht", sagt die Mutter und schiebt die Kinder vorwärts. "Ich will aber!", beharrt das Mädchen und stampft zornig mit dem Fuß auf. Der Junge fängt an zu heulen. "Zuhause, Lisa. Niklas, hör' auf zu weinen", sagt die Frau und wirft
Ciara einen entschuldigend-verzweifelten Blick zu.
Kinder, sagt dieser Blick. Ciara lächelt höflich. Glücklicherweise öffnet in diesem Moment eine Kassiererin eine andere Kasse, und Ciara stellt sich schnell dort an, froh, der Mutter mit den zwei Kindern entkommen zu sein.
Sie hat nichts gegen Kinder, wirklich nicht. Sie weiß nur nicht, wie sie mit ihnen umgehen soll. Die Verkäuferin ist dick und alt und sieht sie so vorwurfsvoll an, dass Ciara sich schämt, überhaupt an diesem Morgen einkaufen gegangen zu sein. Sie bezahlt schnell ihre siebzehn Euro sechzehn und verlässt schnell die blitzblank geputzte Eingangshalle des Supermarktes.
Gerade als sie nach draußen tritt, beginnt es in Strömen zu regnen. Ciara seufzt, bleibt mit den Einkäufen in der Hand unter dem Vordach stehen und sieht zu, wie die Millionen winzigen Regentropfen auf das Pflaster des Parkplatzes fallen und kleine dunkle Flecken hinterlassen. Neben ihr haben sich schon mehr Leute versammelt, die alle Schutz unter dem rettenden Vordach suchen. Die meisten sind aufgebracht. "Ich muss doch nach Hause", jammert eine Frau, und ein Mann schimpft: "Und gerade erst heute
morgen habe ich mein Auto gewaschen. Und wofür? Alles umsonst!" Die Frau mit den zwei Kindern ist nicht unter den Leuten.
Ciara starrt blind hinaus in den Regen. Sie fühlt sich auf einmal seltsam leer und allein gelassen. "Soll ich Sie zu ihrem Auto bringen?" "Bitte?" Erst jetzt bemerkt Ciara, dass jemand mit ihr gesprochen hat. Sie dreht sich um und sieht sich einem Mann gegenüber.
Ungefähr so alt wie sie, keiner dieser Schönlinge, aber ganz okay.
"Ich habe einen Regenschirm", setzt er hinzu, als Ciara noch immer nichts erwidert.
"Was? ...oh, nein. Danke. Ich habe kein Auto. Ich meine, ich bin zu Fuß hier. Trotzdem, danke."
"Soll ich Sie fahren? Es regnet ja ganz schön."
Ciara starrt ihn an. Was will dieser Typ eigentlich von ihr? "Vielen Dank. Ich laufe lieber."
"Überlegen Sie's sich. Es regnet wahrscheinlich noch eine ganze Zeit.", warnt er sie.
"Warum stehen Sie dann noch hier und fahren nicht? Sie haben doch ein Auto und einen Regenschirm. Ihre Frau oder wer auf immer wartet sicher auf die Einkäufe", sagt sie genervt und deutet auf die Plastiktüte in seiner Hand.
"Meine Frau ist tot.", sagt er schlicht.
"Oh" Das hat sie nicht erwartet. Ganz und gar nicht erwartet. "Das tut mir Leid."
"Das braucht es nicht."
"Tut es aber", sagt Ciara fast ein bisschen trotzig und schämt sich gleich darauf. Seine Frau ist tot und sie reagiert so pampig!
"Okay, wie auch immer. Ich wollte ja nur nett sein."
"Seien Sie zu jemand anderem nett."
Tote Frau hin oder her, nun fängt er wieder an, ihr mit seiner Art auf die Nerven zu gehen. "Geht es Ihnen gut? Sie sehen so krank aus."
"Mir geht es prima, danke der Nachfrage."
In diesem Moment hört der Regen auf und Ciara nimmt ihre Einkäufe und stiefelt los. Sie braucht niemanden, der sich als ihr Retter im Regen auftut und behauptet, sie sei sterbenskrank. Der Schlimmste ist, dass er damit Recht hat. Auf eine Weise, die er wahrscheinlich nie vermuten würde.
Kevin sitzt immer noch so da, wie sie ihn verlassen hat. Nur, dass die Bierflasche jetzt leer ist. "Ich bin zurück", sagt sie zu ihm und drückt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
"Wo warst du?", fragt er, während er zusieht, wie Michael Schumacher in Monaco seine Runden dreht.
Ciara ist sich noch nicht einmal sicher, ob überhaupt sieht, was er sich da anschaut, oder ob er einfach blind auf die Mattscheibe starrt. "Einkaufen, Schatz. Hab' ich dir doch gesagt."
"Hast du Bier mitgebracht?"
"Hab' ich vergessen. Tut mir Leid."
"Nicht so wichtig."
Ciara geht in die Küche und räumt die Einkäufe weg. Ihr Blick bleibt an der Liste am Kühlschrank heften. Bücher, die Kevin und sie noch lesen wollten. Früher haben sie sich immer gegenseitig vorgelesen. Schön war das. Am besten haben ihnen die Harry Potter-Bände gefallen, und Märchenbücher. Sie weiß noch immer, wie es sich angefühlt hat, sie auf seinem Schoß, wie auch einer einsamen Insel, und seine wunderschöne, klare Stimme, die die Wörter in seinem Mund herumrollen ließ wie glatt geschliffene Murmeln und ihnen
Leben einhauchte. Wann immer Kevin ein Buch aufschlug und die ersten Sätze daraus vorlas, fühlte Ciara sich wie in eine fremde Welt entführt. Aber das haben sie schon lange nicht mehr gemacht. Ciara seufzt und räumt die restlichen Einkäufe dahin, wo sie hingehören. Butter und Aufschnitt in den Kühlschrank, Brot in den Brotkorb, Schokolade und Konservendosen in den Schrank. Die Teller und Messer und Gläser sind immer noch genauso schmutzig wie heute Morgen und grinsen sie hämisch an. Ciara geht zurück zu Kevin
ins Wohnzimmer und setzt sich neben ihn auf das dunkelblaue Sofa.
"Wäschst du nachher das Geschirr ab?", fragt sie und krault seinen Nacken.
"Mach' ich", verspricht er.
Sie weiß, dass er es eh nicht tun wird. Ciara schaut stumm zu, wie Michael Schumacher seinen zweiten Boxenstop in Rekordzeit hinter sich bringt. Sie hat Formel Eins noch nie leiden können.
"Ich bin auch krank, weißt du", sagt sie aus heiterem Himmel.
Zum ersten Mal an diesem Tag sieht Kevin sie richtig an. "Ich weiß, mein Engel.", sagt er. Und dann beugt er sich ohne Warnung vor und schließt sie fest in die Arme, dass sie kaum noch Luft bekommt. So, wie sie es sich gewünscht hat. So, wie er es früher immer getan hat. Er küsst sie auf die Wange und flüstert in ihr rechtes Ohr: "Ey, aber wir schaffen das. Weil wir Fighter sind, wir beide. Und wir haben immer noch uns."
Das hat er auch schon früher immer gesagt, und damals hat sie ihm jedes Wort geglaubt. Aber damals, und das ist der Unterschied, hat er sie geliebt.
Heute braucht er sie nur noch, wie er irgendjemanden braucht, weil er nicht allein sein kann, und es ist egal, ob sie es ist oder irgendjemand anderes.
Zweiter Teil
Ciara hat an diesem Morgen eine Beratungsstelle aufgesucht. Sie hat Kevin nicht gesagt, wohin sie geht, er hätte sich nur aufgeregt; er hält das für Zeitverschwendung. Glaubst du im Ernst, die interessieren sich für das, was du zu sagen hast?, sagt er immer mit diesem verbitterten Grinsen auf den Lippen. Aber Ciara hilft es, sich mit einem Fremden darüber zu unterhalten, einfach mal das loszuwerden, was ihr auf der Seele brennt. Wie auch immer, heute Morgen hat es ihr nicht geholfen. Ciara blickt den grauen Betonklotz
an, in dem sie sich eben noch befunden hat, und denkt an den jungen Mann mit der Brille, der ihr gegenüber saß, und für den sie kein Mensch sondern einfach eine weitere Nummer gewesen ist. Er hat zwar genickt zu allem, was sie ihm gesagt hat, aber in seinen Augen hat sie gelesen, was er wirklich
dachte: Selber Schuld. Und das schmerzt mehr als alles andere. Der Wind ist eiskalt, und Ciara klappt den Kragen ihres Mantels hoch. Der Himmel ist bewölkt, es wird bald Regen geben. Als sie über den Parkplatz geht, fragt sich Ciara zum hunderttausendsten Mal, was für einen Sinn das Ganze eigentlich noch hat. Aus den Augenwinkeln sieht sie einen Mann aus dem Betongebäude treten, und aus irgendeinem Grund kommt er ihr seltsam vertraut vor. Ciara bleibt stehen und kneift die Augen zusammen. Doch, er ist es tatsächlich.
Der Mann aus dem Supermarkt, der mit der toten Frau. Auch er hat sie anscheinend erkannt, denn er kommt lächelnd zu ihr herüber und sagt:
"Na, so eine Überraschung. Wenn das nicht die Frau mit den zickigen Antworten ist." "Und der Mann mit dem Auto und dem Regenschirm." "Wer hätte gedacht, dass wir uns noch mal treffen?
Da sieht man mal wieder, immer wieder sonntags ..." "Heute ist Mittwoch", erinnert sie ihn. "Ich weiß. Ich hab' bloß versucht, witzig zu sein. Kennen Sie nicht diesen Spruch?" "Nein." "Oh. Na, wie auch immer." Er wechselt schnell das Thema. "Was machen Sie hier?" Ciara zögert.
"Ich habe mich beraten lassen.", sagt sie schließlich.
"Ja, das tun wir wohl alle. Ich bin übrigens jeden Mittwoch hier.", fügt er hinzu. "Seit Jana tot ist... es hilft, sich einfach mal alles von der Seele zu reden, finden Sie nicht?" "Ja... das tut es.", entgegnet sie abwesend, noch immer erstaunt darüber, wie offen er darüber spricht. Er fragt nicht nach dem Grund, warum sie hier ist, und sie ist dankbar dafür. "Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.", sagt er stattdessen. "Daniel van Bremen." "Ciara Kovalk.",
erwidert sie und nimmt zögernd die Hand, die er ihr hinhält. Sein Händedruck ist angenehm, warm und fest.
"Und, was machen Sie jetzt so?" Ciara zuckt die Schultern.
"Nach Hause, schätze ich." "Zu Ihrem Mann?" "Meinem Freund. Wir sind nicht verheiratet." "Haben Sie vor, ihn zu heiraten?" "Wohl kaum. Er hält nicht viel von solchen Dingen." "Das habe ich auch nicht. Und ich habe trotzdem geheiratet." "Wie kommt's?" "Jana sagte, entweder heiratest du mich, oder ich verschwinde. Ich habe mich für die erste Möglichkeit entschieden." "Sehr rigoros, die Frau." "Ja, so war sie." Er
lacht auf, für einen kurzen Augenblick ganz in seinen Erinnerungen versunken. "Hörn Sie, wenn Sie noch nicht sofort nach Hause müssen, trinken Sie dann noch einen Kaffee mit mir?" Ciaras erster Impuls ist es, nein zu sagen. Aber etwas - irgendetwas - hält sie davon ab. "Okay", hört sie sich sagen und fragt sich gleichzeitig, was sie da tut.
Sie fahren nicht in ein Café. Sie trinken auch keinen Kaffee, noch sonst irgendetwas. "Ich muss Ihnen etwas zeigen.", sagt er, kaum haben sie sich in den silbergrauen Golf gesetzt und die Türen geschlossen. Auf der Fahrt reden sie nur wenig; er fragt sie bloß, ob es okay ist, wenn er sie mit Ciara und du anspricht, und sie erwidert, das sei okay, solange sie auch du und Daniel sagen darf. "Sicher", antwortet er und schenkt ihr ein flüchtiges lächeln. Wenn er lächelt, sieht er nicht aus wie
ein Mann, dessen Frau gestorben ist, eher wie ein frecher Achtjähriger, einer von der Sorte, der die Lehrer ärgert und den Mädchen Kröten in die Schultaschen steckt. Ciara blickt während der Fahrt aus dem Fenster, und während die Felder vorbeiziehen, merkt sie, dass sie die Stadt verlassen haben. "Wo fahren wir hin?" "Wir sind gleich da.", sagt er statt einer Antwort. Fünf Minuten später halten sie vor einem großen, schmiedeeisernen Tor. Ein leichter Nieselregen hat eingesetzt, und es sieht
aus, als würde der Himmel von feinen Spinnweben durchzogen. Sie steigen aus, Daniel schließt das Auto ab, und gemeinsam laufen sie über die schlammigen Wege zu dem großen Tor. Ciara bleibt stehen. "Daniel, das ist ein Friedhof.", sagt sie zögernd und späht durch die eisernen Gitterstäbe. "Ich weiß. Komm." Er zieht sie mit sich. Das Tor ist nur angelehnt, und sie betreten den Friedhof. Daniel scheint zu wissen, wohin er will, denn er führt sie zielstrebig durch die Gräberreihen ohne auch nur
einmal anzuhalten. Ciara folgt ihm unsicher. Sie hat Friedhöfe noch nie gemocht, denn Friedhöfe erinnern sie an den Tod, und der Tod ist das Letzte, worüber sie sich Gedanken machen möchte. Schließlich hält Daniel an, und Ciara betrachtet das Grab, vor dem sie stehen. Mittelgroß, bepflanzt mit einem kleinen Buchsbaum und unzähligen Stiefmütterchen. Die Erde ist frisch gejätet. "Daniel...", sagt Ciara, betrachtet dann den Grabstein.
Ganz schlicht ist er, aus grauem Stein, und darauf steht: Jana van Bremen, geb. Wilms, keine Jahreszahlen, nichts. Nur der Name.
"Daniel..." "Ja", sagt er, "das ist Janas Grabstein. Etwas schwingt in seiner Stimme mit, ein Gefühl, das Ciara nicht benennen kann. "Warum keine Jahreszahlen?", fragt sie leise.
"Ich wollte nicht, dass die Leute sehen, wie jung sie gestorben ist.", sagt er, als sei das die logischste Sache der Welt. Ciara nickt, obwohl sie ihn nicht ganz verstehen kann. Was ist schlimm daran, wenn alle sehen, wie jung sie gestorben ist? Egal, ob sie jetzt über siebzig oder erst Mitte zwanzig war, sie ist tot, was macht das Alter schon für einen Unterschied? "Warum wolltest du ihn mir zeigen?" "Ich weiß nicht." Er zuckt die Schultern. "Ich hatte einfach das Gefühl...
als müsste ich dir ihr Grab zeigen. Als müsste ich dir davon erzählen, frag mich nicht wieso. Kennst du das? Du triffst Menschen und weißt, dass du ihnen nichts von dir verheimlichen kannst?" Er sieht sie an, seine Augen treffen ihre. "Ja...", sagt Ciara langsam. "Das kenne ich." "Und so ging es mir bei dir.", sagt er schlicht. Sie schweigen einen Augenblick. Und noch immer sieht er sie an. "Und... da ich jetzt fertig bin, irgendetwas, was du mir erzählen willst?",
fragt er um das Schweigen zu überbrücken und lacht kurz auf. Ciara will den Kopf schütteln, überlegt es sich dann aber anders. Er ist ehrlich mit ihr gewesen. Er hat das Recht darauf, dass sie es auch mit ihm ist. "Ja, da gibt es etwas.", sagt sie langsam. Er blickt sie erwartungsvoll an. "Ich habe AIDS.", sagt sie ruhig und schaut ihm in die Augen.
Er reagiert nicht überrascht, nicht panisch, wie es die meisten der wenigen Leute getan haben, denen sie es erzählt hat. Er sagt bloß: "Ich habe mir schon so was gedacht. Seit wann weißt du es?" "Seit fast zwei Jahren." Es ist, als hätte ihr jemand eine schwere Last von den Schultern genommen. Jetzt, wo er es weiß, wo sie keine Geheimnisse mehr vor ihm haben muss - Ciara fühlt sich so unendlich leicht, so frei, als könne sie die Flügel spreizen und den grauen Grabsteinen hier unten davonfliegen,
wie ein Vogel. "Wie ist es passiert? Mit den falschen Typen ins Bett gestiegen?" Sie starrt ihn an. "Entschuldige meine Wortwahl." Ciara betrachtet die Stiefmütterchen zu ihren Füßen.
"Nein... das ist es nicht. Wenn du's genau wissen willst, in meinem ganzen Leben habe ich nur mit einem einzigen Mann geschlafen." Sie lacht auf, ein bisschen verlegen. "Oh Gott, wie sich das anhört!
Ich bin Mitte zwanzig und hatte Sex mit nur einem Typen!" "Ich finde das irgendwie romantisch.", sagt Daniel. "Und ich nehme an, besagter Mann ist dein derzeitiger Freund?" "Na ja, romantisch?" So hat sie es noch nie betrachtet. "Ich weiß nicht.
Aber du hast schon Recht, es ist Kevin." "Kevin" Daniel nickt. "Na, egal, jedenfalls..." Ihre Füße scharren unruhig in der Erde herum. "Kevin und ich, wir... wir haben früher Zeug genommen.
Drogen. Nicht sehr lange", fügt sie hastig hinzu, "aber Speed, Heroin, alles. Na ja... irgendwann hat Kevin eine gebrauchte Spritze benutzt, und ich hab dann irgendwann seine benutzt, und... irgendwann bin ich mal zum Arzt, bloß wegen einer Grippe oder so. Da haben sie einen Bluttest gemacht, und dann..." Sie spricht nicht weiter. Daniel schweigt, betrachtet gedankenverloren den Grabstein seiner toten Frau.
"Hab' ich dir erzählt, woran sie gestorben ist?", fragt er aus heiterem Himmel. Ciara schüttelt den Kopf. "Sie hat Drogen genommen, wie du." "Sie hatte AIDS?", fragt Ciara, und ihr Atem geht plötzlich schneller. "Nein. Jana war so pingelig. Sie hätte immer darauf geachtet, dass sie keine gebrauchten Spritzen benutzt. Sie hat immer gesagt, sie hätte Angst, sich mit... so was zu infizieren. Mich zu infizieren." Seine Stimme klingt plötzlich gepresst. "Sie hat sich eine
Überdosis gesetzt. Und dann war sie tot." Er sagt das beinahe erstaunt, als könnte er das selbst nicht glauben. "Du wusstest davon?", fragt Ciara leise. "Nicht lange. Sie... sie hat versprochen, dass sie aufhört. Wirklich versprochen. Und dann..." Er macht eine Pause, sagt dann abrupt: "Lass uns fahren." "Okay" Ciara folgt ihm durch die schmalen Reihen zwischen den Gräbern. Er geht schnell. Als sie das Friedhofstor passieren, nimmt er ihre Hand. Der Regen ist stärker
geworden, und sie laufen zurück zu Daniels Golf.
Ciaras Schuhe versinken in dem schlammigen Untergrund, als sie rennen. Und Daniel hält noch immer ihre Hand. Sie ist auf einmal richtig ausgelassen.
"Und nun?", fragt sie, als sie wieder im Auto sitzen und Daniel den Motor startet. "Ich weiß nicht. Wie wär's mit ein bisschen Tempo?" Daniel wendet den Wagen und jagt mit hohem Tempo die regennasse Straße hinauf. "So besser?" "Daniel!", quietscht Ciara. Vor den Fenstern verschwimmt alles. "Fahr gefälligst langsamer! Wegen dir bauen wir noch einen Unfall!" Aber sie meint es nicht so. Nicht wirklich. Sie hat sich schon lange nicht mehr so leicht gefühlt. Der LKW
taucht aus dem Nichts vor ihnen auf, die hellen Scheinwerfer wie große, gelbe Augen. "Daniel!" "Oh, scheiße!" Daniel reißt das Lenkrad nach rechts herum. Der LKW hupt und donnert vorbei. Der kleine Golf kommt von der Straße ab, holpert über das Feld und kommt schließlich mit einem Ruck zum Stehen. Ciara fühlt, wie sie leicht nach vorne geschleudert wird. Der Sicherheitsgurt drückt sich in ihre Schulter. Sie atmet ein paar Mal tief durch und blickt dann hinüber zu Daniel. Der grinst sie an,
mit diesem lausbubenhaften Grinsen.
"Du...!" Sie holt aus, um ihn gegen die Schulter zu schlagen, hält dann aber inne und lacht mit ihm. "Mann, wir hätten draufgehen können!", bringt sie mühsam heraus und prustet dann schon wieder los.
Er sieht sie lachend an und seine Augen sind zu zusammengekniffen und funkeln sie an wie kleine Sterne. "Jetzt fahr uns aus diesem beschissenen Feld raus!", verlangt sie. Er nickt und startet den Motor - umsonst. Er probiert es noch einmal - wieder ohne Erfolg.
Wütend hebt er die Arme. "Verdammt! Wir stecken fest!" Noch ein Mal probiert er es. Der Golf rührt sich nicht einen Zentimeter.
"Scheißauto!" Ciara lacht, bis ihr Tränen über die Wangen laufen. Das ist alles so... sie kann es nicht beschreiben, will es gar nicht. Daniel verwünscht noch immer sein Auto und bedenkt es mit allen Schimpfwörtern, die ihm einfallen. Ciara schließt die Augen und lehnt sich zurück. Frei.
Sie sehen zu, wie die Männer vom ADAC den kleinen Golf aus dem Schlamm retten. Ein Mann mit Helm und leuchtender Weste kommt auf sie zu. "Wem von Ihnen gehört das Auto?" "Mir", sagt Daniel. "Wir werden Ihr Auto jetzt in die Werkstatt bringen. Aber Sie müssen leider auf einem anderen Weg nach Hause fahren, denn wir können Sie nicht mitnehmen." "Was?", protestiert Daniel. "Aber wieso nicht?" Der Mann erklärt Daniel irgendetwas, doch Ciara hört nicht länger zu.
Sie betrachtet den sinnflutartig fallenden Regen, wie er auf ihre Schuhe, Hose, das Auto prasselt. Schließlich sehen sie zu, wie der Golf von dem anderen Auto abgeschleppt und vom Regen verschluckt wird. "Und nun?", fragt Daniel. "Wir sind mitten in der Pampa, und bis zur Stadt sind es noch gut zehn Kilometer! Fuck!" Er tritt gegen einen herumliegenden Stein. Ciara streicht sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht. Sicher ist ihr Make-up im Eimer. Klasse. "Bin ich verschmiert?",
fragt sie Daniel. "Was?" "Meine Wimperntusche." "Ach so. Ja, ein wenig." "Mach mal bitte weg. Einfach wegwischen." Er tritt dichter zu ihr, so dicht, dass ihre nassen Körper sich berühren. Mit der einen Hand umfasst er ihr Gesicht, mit einem Finger der anderen streicht er unterhalb ihres rechten Auges entlang. Ciara blinzelt. Er ist so nah, dass sie die feinen Sommersprossen auf seiner rechten Wange erkennen kann. Vorsichtig lässt sie ihre Finger darüber wandern. "Du
zitterst ja.", flüstert er, und umfasst ihre Finger mit seiner Hand. Sein Atem schlägt ihr ins Gesicht, und seine Nasenspitze berührt ihre. So nah. Frei. Ein Geräusch von Reifen auf nasser Straße lässt sie beide aufhorchen, und Daniel lässt sofort ihre Finger los. "Ciara, ein Bus!", ruft er aufgeregt. "Los, komm!" Seine schon so vertraute Hand packt wieder ihre, und sie rennen über die nasse, glitschige Straße, dem Bus hinterher. Ciara kann nicht mehr, aber Daniel zieht sie einfach mit
sich. "Halt!", brüllen sie dem Bus hinterher, "Warten Sie!" Er hält tatsächlich an, und Ciara und Daniel, beide klatschnass, stolpern hinein. "Mein Auto hat den Geist aufgegeben.", keucht Daniel als Erklärung. "Soso", meint der Busfahrer und winkt sie durch. Erschöpft lassen sie sich auf zwei der Sitze fallen. "Wow, wir sind so verrückt!", sagt Daniel noch immer keuchend. Ciara lächelt ihn an, bevor sie sich leicht gegen ihn lehnt und die Augen schließt und nicht
mehr öffnet, bis sie die Stadt erreicht haben.
Daniel bringt Ciara noch nach Hause. "Hier wohnst du also.", sagt er, als sie vor dem Häuserblock stehen bleiben. "Ja, hier wohne ich.", sagt Ciara und nimmt seine Hand, auf die sie dick und fett ihre Telefonnummer gekrakelt hat. "Ruf mich an und erzähl mir, was aus dem Golf geworden ist." "Dieses Scheißauto.", brummt Daniel.
"Ich mag ihn.", erwidert Ciara. "Also, ruf mich an. Bis dann." Damit lässt sie seine Hand los und flüchtet ins Innere des Hauses. Sie lehnt sich gegen die geschlossene Tür und schließt die Augen. So verrückt. Ihre eine Hand umfasst fest die andere, die, die Daniel festgehalten hat, die, auf der seine Nummer und Adresse stehen. Dann steigt sie die vierunddreißig Treppenstufen zu der Wohnung hoch, die ihr und Kevin gehört.
Sie sitzen gemeinsam am Küchentisch, das erste Mal seit Wochen. Ciara hat gekocht, Putenfilet, dazu Kartoffeln und Erbsen und Wurzeln. Das ist früher Kevins Lieblingsgericht gewesen. Ciara hat zwei Stunden in der Küche gestanden und sie hat sich wirklich Mühe gegeben, aber es schmeckt trotzdem nicht so, wie es eigentlich schmecken sollte. Und die Stimmung ist auch nicht so, wie sie sein sollte. Ciara hat zuvor den Tisch gedeckt, mit Kerzen und allem drum und
Eingereicht am 10. November 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.