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Der fahrende Handelsvertreter
Rainer Wüst
Ich bin Frank, ein Mittvierziger und schon einige Stunden mit meinem alten, aber bisher sehr treuen Auto unterwegs. Kein Weg ist zu weit, das ist ein Werbespruch der Firma für die ich arbeite und zwar als Handelsvertreter für Badeartikel. Mein Sortiment reicht von der Seife bis zum edlen Ölbad. Da ich schon einige Zeit hinterm Steuer sitze und noch mindestens sechs Stunden brauchen werde, beschließe ich eine Pause zu machen, um etwas zu essen. Es ist mittlerweile 19.30 Uhr und mein Magen rebelliert vor Hunger.
"Der nächste Rastplatz gehört mir", denke ich mir. Ein paar Minuten später fahre ich einen unscheinbaren Rastplatz an, einen so genannten Truckerraststop. Beim Hineingehen beobachte ich die Personen, die an der Theke sitzen. Zwei Männer und eine Frau sitzen gelangweilt vor einem Kaffee und unterhalten sich. Ich setze mich an einen Vierertisch an dem keiner sitzt, da ich meine Ruhe haben will. Die Kellnerin kommt zu mir hinüber. Sie hält einen Block und einen Stift in der Hand und kaut Kaugummi. "Was
darfs sein?" fragt sie mich kauend, aber freundlich. "Einen Kaffee und das Tagesgericht", gebe ich ihr zur Antwort. Sie lächelt mir zu, notiert alles und ist schon wieder in der Küche verschwunden. Kurze Zeit später reicht sie mir einen großen Pott Kaffee. Ich genieße ihn, da er heiß ist und einfach wundervoll duftet. Wieder vergehen ein paar Minuten, dann serviert mir die Kellnerin das Tagesgericht, Kartoffeln mit Rosenkohl und einer Rinderroulade. "Das ist zu dieser Tageszeit genau richtig",
denke ich mir und beginne sofort mein Essen zu genießen. Das Essen ist wirklich gut, aber das hatte ich mir schon gedacht, da hier die Trucker immer gerne essen gehen.
Nachdem ich auch den letzten Schluck Kaffee getrunken habe, breite ich eine Karte vor mir aus, um den Weg noch einmal zu studieren. Der Weg den ich jetzt fahren muss, wird sehr gerade und langweilig, zumindest für die nächsten drei Stunden. Danach muss ich mich zwischen der Durchfahrt eines langen Tunnels und der etwas längeren Fahrt über den Berg entscheiden. Eigentlich hasse ich Tunnel, da ich Platzangst habe, aber es ist halt kürzer. Deshalb habe ich mich für den Tunnel entschieden. Die Kellnerin kommt noch
einmal zu mir hinüber, nachdem ich ihr zugewunken habe um zu bezahlen. Kaum habe ich das erledigt, bin ich schon unterwegs zum Auto.
Auf dem Parkplatz sitzt etwas zusammengekauert, eine junge und sehr hübsche Frau mit dunklen Haaren, blauen Augen, einer Jeans, Turnschuhen und einem weißen Shirt. Sie schaut mich direkt an und fragt: "Wohin fahren Sie?" Ich bleibe stehen, sehe sie etwas musternd und abschätzend an und antworte: "Ich bin unterwegs in südlicher Richtung!" "Könnten Sie mich mitnehmen, da mein Auto den Geist aufgegeben hat und ich hier nicht allein bleiben will?" fragt sie mich daraufhin. Da ich eigentlich
sehr froh bin nicht alleine zu fahren und sie eine ausgenommen hübsche Erscheinung ist, nehme ich sie mit. Sie hat nur eine Handtasche dabei, die sie sich auf ihrem Schoß stellt.
Wir fahren los und sie beginnt mir ihre ganze Geschichte mit dem kaputten Auto zu erzählen. Die Stunden vergehen dabei wie im Flug und kommen mir auch nicht lang vor. Aber eines ist doch seltsam, wir haben uns noch nicht einmal gegenseitig vorgestellt. Dies will ich sofort nachholen, denke ich mir. "Frank, mein Name ist Frank", sage ich ihr etwas zögernd und füge hinzu: "Ich hatte vergessen mich vorzustellen, entschuldigen sie bitte." Ich schaue sie erwartungsvoll an.
Sie sieht mich an, öffnet leicht den Mund, so als wolle sie mir etwas sagen, aber nichts passiert. Im gleichen Moment sehe ich auf einem Schild, dass es noch zwei Kilometer bis zur Kreuzung für den Tunnel oder dem Berg sind. Da sie nichts sagt rede ich weiter: "Gleich gehts durch einen langen Tunnel. Ich hoffe Sie haben keine Platzangst, so wie ich!" höre ich mich noch selber reden, um im selben Augenblick in die Mündung einer Pistole zu schauen.
Sie bedroht mich mit einer Waffe. Mit scharfem Ton sagt sie: "Du fährst die nächste Kreuzung ab, nicht durch den Tunnel, sondern den Berg hinauf, ist das klar?" Ich nicke nur kurz und dabei rollen Schweißtropfen über meine Stirn.
An der nächsten Kreuzung fahre ich ab, wie sie es mir gesagt hat. Mittlerweile zittern meine Hände und schwitzen zugleich. Langgezogene Serpentinen erstrecken sich vor und hinter uns. Wir kommen dem Gipfel entgegen.
"Halt sofort an!" schreit sie mich an. Ich zucke zusammen, bremse hart und bleibe stehen. "Aussteigen!" schreit sie abermals. Ich öffne die Tür und gehe ein paar Schritte vom Auto weg. Dabei höre ich die andere Autotür auf- und wieder zuklappen. Ich habe meine Hände oben, eigentlich nur aus Angst und ganz automatisch.
"Bleib dort stehen, schließe deine Augen und rühr dich nicht von der Stelle", höre ich sie in lautem Ton reden aber nicht mehr schreien. Ich stehe zitternd eine Minute, dann zwei, drei, vier Minuten, nichts passiert mehr. Meine Angst ist zwar riesig aber nach fast zehn Minuten öffne ich die Augen und drehe mich vorsichtig um.
Niemand ist mehr da, aber das Auto und der Autoschlüssel schon. Ängstlich begebe ich mich in mein Auto, drehe den Zündschlüssel, gebe Gas und fahre die Straße weiter über den Berg und auf der anderen Seite wieder hinunter.
Unten angekommen sehe ich von weitem eine Polizeistation. Kaum angekommen springe ich in die Polizeistation, laufe auf einen Polizisten zu und will ihm gerade meine Geschichte erzählen, in diesem Moment geht das Funkgerät, dass direkt vor dem Polizisten steht und ein Notruf kommt herein:
"Alle verfügbaren Polizeikräfte, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter sollen unverzüglich zum Tunnel kommen. Ein LKW hat einen Unfall gehabt und einen Großbrand verursacht. Es gibt viele Verletzte und Tote." Mich trifft diese Nachricht wie ein Schlag. Vor kurzem wollte ich noch durch diesen Tunnel fahren. Ich muss mich setzen. Mir ist plötzlich schlecht geworden.
War die schöne Unbekannte mein Schicksal?
Eingereicht am 31. Oktober 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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