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Koma
Von Christian Herrmann
663224 ... langsam verblassen die Ziffern vor meinem geistigen Auge, wie fast jeden Morgen kurz nach dem Aufwachen. Ein einzelner Sonnenstrahl fällt durch einen Schlitz der Jalousie genau auf meinen Brustkorb. Die Stelle, an der er auf die Haut trifft, wird wohlig warm. Wie spät mag es sein? Ich höre den Speisewagen auf dem Flur klappern. Demnach gibt es gerade Frühstück auf der Station.
Wie lange hatte ich kein ausgiebiges Frühstück mehr! Ein Brötchen mit Marmelade, ein Ei, Kaffee ... Das ist alles schon lange her. Wie lange bin ich schon hier? Ich weiß es nicht genau. Es kommt mir vor, als würde ich schon seit Ewigkeiten in diesem schlaffen Körper gefangen sein. Ein elendes dahin Vegetieren. Schritte auf dem Flur. Die Tür geht auf. Es ist Schwester Susanne. Jeden Morgen, seitdem ich in diesem verdammten Krankenzimmer liege, kommt die attraktive, junge Krankenschwester und kontrolliert den Tropf.
"Guten Morgen", flötet sie wie jeden Tag fröhlich. Ein Hauch von Parfüm weht durch den Raum. Schwester Susanne beugt sich über mich und stellt das Kopfteil etwas höher. Dabei gibt sie einen aufregenden Einblick in ihren Ausschnitt frei. Unter anderen Umständen wäre diese Situation wahrscheinlich anders ausgegangen, aber so klopft die junge Schwester nur pflichtbewusst mit dem Finger gegen den Infusionsschlauch, nickt zufrieden und verlässt das Zimmer.
Ich schließe wieder die Augen, scheinbar die einzigen Körperteile über die ich noch Kontrolle habe.
Gelb. Ich wache auf und habe die Farbe Gelb im Kopf. Keine Ahnung warum.
Ich versuche mich zum tausendsten Male daran zu erinnern, wie ich hierhin gekommen bin.
Es gelingt mir nicht. Das Einzige, an das ich mich erinnere, ist ein lauter Knall. Und diese Zahl. 663224 - was hat das nur zu bedeuten? Wer bin ich überhaupt? Was habe ich mal gemacht? Ich weiß es einfach nicht. Verdammt, mein Bein juckt! Ah, ich würde mich so gerne kratzen, aber es geht nicht. Ich kann mich einfach nicht bewegen.
Ich schließe wieder die Augen und träume mich an einen schönen Ort. Das lenkt mich von diesem elenden Juckreiz ab. Ein Strand taucht vor meinem geistigen Auge auf, Palmen und das Meer. Azurblaues Wasser bricht sich in sanften Wellen am Ufer. Plötzlich wird das Wasser gelb und dann erscheint sie wieder, die mysteriöse Zahlenfolge. Ziffer für Ziffer hebt sich vor dem gelben Wasser ab. Solange bis sie wieder komplett ist. 663224 ...
Es ist Abend geworden. Ich liege wach in meinem Bett. Schwester Susanne war gegen Mittag noch mal bei mir. Sie hat sich verabschiedet, wie sie es immer nach ihrem Dienst tut. "Ich habe jetzt endlich Feierabend, also dann bis morgen früh." Mit diesen Worten war sie auch schon wieder verschwunden und hinterließ den frischen Duft ihres Parfüms in meinem Zimmer. Die junge Schwester schien aufgeregt zu sein. Mit roten Wangen hatte sie eilig mein Zimmer verlassen. Sicher hat sie noch eine Verabredung heute
Abend. Ich bin traurig. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich meine letzte Verabredung hatte.
Ich wache auf und habe den Geruch von Alkohol in der Nase. Nur für ein paar Sekunden, dann ist die Illusion verschwunden. Was soll das nun wieder?
Ich verstehe das alles nicht. "Guten Morgen" Schwester Susanne ist da. Sie sieht übernächtigt aus. Sie wirft nur einen flüchtigen Blick auf den Tropf und verlässt eilig wieder den Raum.
Kaum ist sie weg, geht erneut die Türe auf.
Ein Mann betritt das Zimmer. Es ist mein Physiotherapeut. Grußlos beginnt er mit seiner Arbeit.
Regelmäßig kommt der scheinbar immer schlecht gelaunte Mann zu mir und bewegt Arme und Beine.
Er riecht unangenehm nach Schweiß. Wenn ich nicht in diesem verdammten, gelähmten Körper gefangen wäre würde ich mich angewidert abwenden.
Also bleibt mir nichts anderes übrig, als während der gesamten Behandlung den Geruch von altem Schweiß einzuatmen. Der Krankengymnast bohrt sich in der Nase und schmiert anschließend den Dreck an mein Bettzeug. Dieses Schwein! Wenn ich nur sprechen könnte! Aber kein Laut geht über meine Lippen. Der Therapeut trainiert erst meine Arme, dann die Beinmuskulatur. Ich schließe die Augen und stelle mir wieder zur Ablenkung den Strand vor.
Nach einem mir unendlich erscheinenden Zeitraum ist die Prozedur beendet. Erleichtert atme ich innerlich auf, als der widerliche Mann den Raum verlasst. Erst nach einiger Zeit hat sich der Schweißgeruch schließlich endgültig verzogen.
Ich liege da und starre die Decke an. Auf dem Flur klappert der Speisewagen vorbei. Es ist Mittagszeit. Was mag es heute geben? Saftigen Schweinebraten ? Steak? Weinbergschnecken? Nein, das wäre natürlich zu exklusiv für ein Krankenhaus. Wie komme ich auf Weinbergschnecken? Habe ich so etwas gerne gegessen? Bin ich ein Gourmet? Ich weiß es nicht. Für einen Moment habe ich plötzlich einen holzig-herben Geschmack auf meiner Zunge. Rotwein. Ja, ich habe gerne Rotwein getrunken. Trockenen Rotwein. Ich kann mich an
etwas erinnern! Ich könnte vor Freude in die Hände klatschen, aber meine Arme reagieren ja nicht. Ich werde wieder traurig. Wie lange soll dieser Zustand noch andauern? Eine zeitlang liege ich einfach so da, dann schließe ich deprimiert die Augen.
Ein neuer Tag.
Diesmal bin ich mit einer Melodie im Kopf aufgewacht. Ich komme nicht auf den Titel, aber ich kenne das Lied. Ich habe es schon oft gehört. In Gedanken summe ich es noch eine Weile vor mich hin.
Schwester Susanne kommt rein. "Guten Morgen!", trällert sie. "Oh, schöne Blumen haben Sie wieder bekommen." Blumen? Ich hatte es noch gar nicht bemerkt. Jemand muss hier gewesen sein, während ich geschlafen habe. Merkwürdig. Wer ist nur dieser heimliche Besucher?
Schwester Susanne hat ein neues Parfüm aufgelegt. Sicher hat sie es von ihrer Verabredung.
Der Geruch kommt mir sehr bekannt vor. Schwester Susanne zieht mich aus und wäscht mich. Obwohl sie nicht gerade sanft ist, erregt mich dieser Vorgang. Als die Schwester meinen Busen wäscht, geht ein wohliges Kribbeln durch meinen Körper. Ich schließe die Augen und genieße diesen erotischen Moment. Die junge Frau hat natürlich keinen Schimmer von meinen Gefühlen und verrichtet zu meinem Bedauern nur eilig ihre Arbeit.
Schnell kämmt sie mir noch die Haare, prüft den Tropf und verschwindet dann wieder.
Ich starre an die Decke. Eine große, schwarze Spinne krabbelt von der hinteren Ecke des Zimmers bis zu der Neonlampe in der Mitte. Ich beobachte das Insekt in aller Ruhe. Ich stelle mir vor, ich würde dort oben krabbeln und auf das Bett hinabsehen. Was und vor allem wen würde ich da sehen? Ich schließe die Augen und stelle mir vor mit den Augen der Spinne zu sehen. Das Zimmer hat einen sterilen, grauen Kunststoffboden. Ich sehe einen Nachttisch mit einem großen Strauß Lilien. Dann sehe ich das Bett. Darin eine
Person. Aber ich kann keine Details erkennen. So sehr ich mich auch anstrenge, es funktioniert nicht. Frustriert gebe ich auf.
Ich wache auf und spüre etwas an meinem Fuß. Was ist das? Jemand kitzelt mich! Ich reiße die Augen auf. Vor meinem Bett steht ein kleiner Junge. Er schaut mir ins Gesicht und kichert frech. Auf dem Flur ertönt eine unangenehme Frauenstimme. "Kevin! Wo bist du?"
Der Junge winkt mir zu und rennt hinaus. Ich muss innerlich schmunzeln. Ich wäre immer gerne ein Junge gewesen. Plötzlich bricht ein Schwall Erinnerungen über mich herein. Ich kann mich daran erinnern wie ich als Jugendliche meine sexuelle Neigung lange Zeit unterdrückt habe. Schließlich gestehe ich es meine Eltern.
Ich höre meinen Vater schreien "Eine Lesbe?! Nicht unter meinem Dach!" Ich sehe mich Koffer packen, dann das verzweifelte Gesicht meiner Mutter. "Kind, bitte geh´ nicht. Papa beruhigt sich sicher bald wieder!" Ich knalle die Haustüre zu. Dann kommt eine harte Zeit. Obdachlosigkeit, Drogen, Diebstahl. Doch dann treffe ich sie. Eine junge Frau. Ich kann mich nur schemenhaft an sie erinnern. Aber es sind große Gefühle im Spiel. Ich muss sie sehr geliebt haben und ich habe ihr viel zu verdanken.
Sie hat mich rausgeholt aus dem Milieu. Ihr Name, mir fällt einfach ihr Name nicht mehr ein…
Neue Bilder ziehen vor meinem geistigen Auge vorbei. Es riecht nach Lavendel. Die junge Frau küsst mich. Wir sitzen an einem Tisch auf einer Veranda und essen Schnecken. Dazu trinken wir trockenen Rotwein. Wir sind in Frankreich. Irgendwo in der Provence. Lavendelfelder soweit das Auge reicht. Wir haben einen alten Bauernhof gemietet. Oder gehört er uns? Ich weiß es nicht. Dann verblassen die Erinnerungen.
Es dämmert und ich bin erschöpft.
"Das ist ein besonders schöner Strauß!", höre ich Susanne trällern. Ich hatte eine unruhige Nacht. Starke Kopfschmerzen quälen mich. Wenn ich doch nur um eine Tablette bitten könnte! Schwester Susanne streicht mir die Haare aus dem Gesicht und geht. Ach ja, die Blumen. Ich schiele nach links zum Nachttisch. Der unbekannte Besucher hat mir diesmal einen besonders schönen Strauß gebracht. Ich kann die Sorte nicht erkennen, aber die Blumen duften einfach herrlich.
Nachmittag.
Der widerliche Therapeut hat mein Zimmer gerade verlassen, als mir die Spinne an der Decke wieder einfällt. Ich sehe nach oben, doch das Insekt ist weg. Ich schließe die Augen stelle mir vor, wo die Spinne nun sein könnte. Plötzlich überrollt mich eine weitere Flut von Erinnerungen. Die junge Frau und ich sitzen in einem sportlichen Cabrio. Es ist Sommer. Wir fahren sehr schnell und der Wind spielt mit unseren Haaren. Im Radio läuft ein Rocksong. "Smoke on the water….", es ist das Lied das mir seit
Tagen im Kopf herumspukte! Ausgelassen singen wir mit …"and fire in the sky…" Wir lachen und albern. Jaqueline….. Mein Gott, sie heißt Jaqueline! Jetzt fällt es mir wieder ein! Jaqueline nimmt beide Hände vom Steuer und tut so, als würde sie Gitarre spielen. Ich lache albern. Sehr lange war ich nicht mehr so unbeschwert und glücklich. Verliebt sehe ich Jaqueline bei ihren Scherzen zu. Plötzlich, von einem Moment zum nächsten, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Augen weiten sich vor Entsetzen.
Ich sehe nach vorne. Ein großer, gelber LKW fährt einfach von einem Parkplatz auf die Straße. Offensichtlich hat der Fahrer überhaupt nicht auf den fließenden Verkehr geachtet. Jaqueline tritt mit voller Wucht auf die Bremse. Aber es ist zu spät. Wie in Zeitlupe rutscht der Wagen auf den LKW zu. Auf der Rückseite steht eine Telefonnummer. 663224 ! Die Nummer, die ich fast jeden Tag vor meinem geistigen Auge sehe ! Je mehr wir auf den Wagen zuschlittern, umso größer und bedrohlicher werden die Ziffern! Ich höre
Jaqueline schreien, es folgt ein dumpfer Knall, dann wird es dunkel. Scheinbar hatte ich noch mal kurz das Bewusstsein wiedererlangt. Durch einen roten Schleier sehe ich einen Mann in einem gelben Anzug. Er beugt sich über mich. Er riecht stark nach Alkohol.
Dann passiert lange Zeit nichts. Schließlich höre ich Stimmen. Ich liege auf einer Trage und zwei Männer unterhalten sich.
Ich bekomme jedoch nur Fetzen des Gesprächs mit. "Sie hatte unheimliches Glück…" ".. das Schwein hat Fahrerflucht begonnen…." …die andere Frau…" "Schrecklich…zu viel Blut verloren…." "…hat nicht mehr viel gemerkt…"
Ich mache die Augen wieder auf. Tränen laufen mir über die Wangen.
Die schreckliche Wahrheit hat mich wie ein Schlag ins Gesicht getroffen.
Ich hatte also einen Autounfall. Meine Geliebte ist tot. Der Unfallverursacher war angetrunken und hat Fahrerflucht begonnen! Alles ist so schrecklich. Ich habe die Telefonnummer des Täters, aber ich kann sie niemandem mitteilen!
Am nächsten Morgen ist Chefvisite. Eine Gruppe Ärzte steht vor dem Bett der jungen Komapatientin. Die Mediziner beraten sich. Schließlich erhebt der Oberarzt das Wort. "Meine Herren, ich verstehe Ihre Zweifel. Auch über den Einwand, dass es sich Ihrer Ansicht nach um Sterbehilfe handelt, habe ich gründlich nachgedacht. Dennoch, in so einem schwerwiegenden Fall sollten wir die Lebenserhaltungssysteme der Wachkoma-Patientin abschalten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich ihr Zustand nach so langer Zeit
noch bessern wird. Da uns definitiv keine Verwandten bzw. Angehörigen bekannt sind, werde ich die volle Verantwortung für diesen Schritt übernehmen."
Traurig bezieht Schwester Susanne das frei gewordene Bett. "Entschuldigen Sie bitte.." Eine männliche Stimme lässt die Schwester aufschrecken. Ein junger Mann mit einem Blumenstrauß in der Hand sieht sie fragend an. "Ist sie…." Die Schwester nickt nur stumm und wendet sich wieder dem Bett zu. Der Mann legt die Blumen auf den Nachttisch und verlässt das Zimmer. Auf dem Flur zieht er sich seine Jacke über. Sie ist gelb und auf dem Rücken steht die Nummer 663224…………