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Die Reise
Von Margit Schmidt
Der Traum geschieht hinter seinen Lidern, in seinen Gehirnwindungen, im ganzen Körper. Es fällt ihm schwer zu atmen. Er schwitzt vor Anstrengung. Schwitzt vor Angst.
Menschen ziehen vorüber. An der Parkbank, auf der er sitzt. Eine Familie, Vater, Mutter,... Wo ist das Kind? Er weiß, dass da noch das Kind ist.
Ein Radfahrer. Mehr Menschen. Gebeugt zwar, doch in den Schultern, im Gesicht Härte. Wo ist das Kind? Da. Es hüpft daher. Das Mädchen. Gänseblümchen in der Hand. Einen großen Bund. Selbst gepflückt wohl. Es verschenkt die kleinen weißen Blümchen. An alle, die daherkommen. Nein. Es wählt aus. Lächelt kindlich generös. Ein Mann, ein einziger, lehnt ab. Ignoriert die Zuwendung. Da legt sich für einen endlosen Augenblick eine fassungslose Traurigkeit über das Gesicht des Mädchens. Es wendet sich ab und entschwindet.
An einer Weggabelung. Er aber bleibt zurück auf seiner Bank. Inmitten der Menschen. Einsam. Er schließt die Augen. Da zupft ihn jemand am Ärmel. Welch große Kraftanstrengung die Augen zu öffnen! Vor ihm nun ein weißer Blütenkranz. Kleine weiße Gänseblümchen auf dunklem Haar.
Das kleine Mädchen hält ihm das letzte Blümchen hin. "Es hat Wurzeln. Du kannst es noch eine gute Weile am Leben erhalten. - Wenn du willst." Mit zitternden Händen nimmt er das Geschenk entgegen. "Jetzt musst du nicht mehr traurig sein, weißt du?" Er fühlt das kleine Klümpchen kühle, frische Erde und - fasst Vertrauen. Fühlt sich ruhig und sicher. Lächelt dankbar wie so viele vor ihm.
Stiche. Schläge. Explosion. Es zerfetzt ihn. Inwendig. Hat er geschrien? Unter der zerwühlten Decke hält er beide Hände schützend über seinen Bauch. Er kann sich nicht erinnern. Weiß auch nicht, woher bei all dem Schmerz diese Leere in seinem Kopf kommt. Eine nächste Attacke reißt ihn in Stücke, so sehr er auch versucht, sich festzuhalten. Nahezu ohnmächtig liegt er da in seinem Bett. Klamm klebt seine Wäsche an ihm. Die Augen halb geschlossen. Der Mund ausgetrocknet. In ihm nichts als Ruhe. Fühllose Ruhe.
So findet ihn Laura eine halbe Stunde später. Vorsichtig öffnet sie die Vorhänge. Dreht sich um, ihn zu betrachten, um ihn dort abholen zu können, wo ihn die Nacht mit all ihren Schrecken, ihren Heimsuchungen hat stranden lassen. Sie kennt das schon. Kranke, Todkranke gehen schwere Wege in ihrem Bett. Und Gustav war ein schwieriger, ein sturer Mensch gewesen, bevor ihn die Krankheit so niedergezwungen hat. Sie hat ihn erlebt, als er noch mit Härte und Unbeugsamkeit gegen alles anging, was sich ihm in den Weg
stellte. Als er so manchen Menschen damit erschreckte. Auch sie. Natürlich am meisten die, die ihm am nächsten standen. Die, die nicht weit genug zurückweichen konnten. Die, denen er am wenigsten wehtun wollte. Denen er aber auch am wenigsten seine Furcht vor dem, was er nicht selbst beherrschte, eingestehen konnte. Es war eine Frage der Würde. Er war ein Mann.
Schlaff liegt sein Körper unter dem Laken. Wie entspannt. Wären da nicht die fahle Blässe, die erschöpften Züge in seinem Gesicht. Sie ahnt mehr als sie sieht. Auf leisen Sohlen schleicht sie in die Küche. Eine Hühnerbrühe sollte
ihn stärken. Als sie wieder ins Zimmer tritt, liegt er noch immer schief in den Kissen. Es muss schlimm gewesen sein.
Er öffnet die Augen. "Ich bin dabei mich zu erholen", behauptet er und klingt
tatsächlich zuversichtlich. "Guten Morgen, Gustav", sagt sie. Erinnert sich,
Todkranke wollen denen, die ihnen beistehen, Mut machen. Wollen sie aufmuntern.
Absurd. Jedes Mal wird sie wütend. Möchte denjenigen schütteln und sagen:
"Das brauchst du nicht, hörst du? Lass es sein!" Doch dazu hat sie kein Recht.
"Ich kämpfte heute Nacht wieder. Und es war ein harter Kampf, das kannst du mir glauben", sagt
er mehr zu sich selbst als zu ihr. "Aber du weißt, ich bin stark. So leicht gebe ich nicht
auf. Ich nicht. Du wirst schon sehen." Es klingt wie ein Versprechen.
Zur Bestärkung richtet er sich nun auf. Greift neben das Krankenbett, holt den Klapptisch hoch und stellt ihn sich selbst über die Beine. Schiebt ihn zurecht bis er gut steht. Und lächelt sie an. Verschmitzt wie sie ungläubig wahrnimmt, als sie ihm wortlos den Teller mit Suppe darauf stellt. Sie kann es nicht fassen. Er greift nach dem Löffel. "Schließlich werde ich bald meine große Reise antreten, nicht wahr?" Ihr wird heiß. Erst das Beschwichtigungs-Getue, jetzt diese poetische Tachelesrede. Das
ist doch verrückt. Aber er ist krank. Er bestimmt, so lange er bestimmen kann. "Schau nicht so, Laura. Mach mir lieber einen Kaffee." Sie ist froh, für eine kleine Weile in die Küche flüchten zu können. Als sie ihm einen leicht Gebrühten bringt, sitzt er, noch immer sehr aufrecht, doch bleichgesichtig in seinen Kissen. Sie denkt, eine geringe Morphiummenge sollte heute genügen, die Schmerzanfälle für eine Weile auszusperren.
Vor ihm, auf dem Betttisch, liegt ein geöffnetes Fotoalbum, ihr Album. Gustav bittet sie auf dem Stuhl zu seiner Rechten Platz zu nehmen. Sie stellt die Tasse kurzerhand auf der alten Kommode ab. In erreichbarer Nähe. Setzt sich. Er blättert. Sehr langsam. Ohne Worte. Nur Bilder. Bilder, wie Ausschnitte aus einem Ganzen. Dazwischen, im Nichts, erreichen sie schließlich Szenen. Dunkle Gefühlswelten aus der Vergangenheit. Wie wilde braune Augen sie anfunkelten. Wie hässliche Worte ihr entgegen brachen und dann
auch aus ihr heraus. Gegenseitige Verletzungen. Sie alarmierten ihr Ego. Erleichterten es ihr, den längst gefassten Entschluss ohne Zaudern zu realisieren. Sich abzuwenden. Zu packen. Zu gehen. Weit weg.
Nach Mexiko. Beklommenen Herzens, aber auch Staunen und aufgeregte Freude über die Buntheit. Diese Farben! Eine neue Welt. Erdige Düfte. Fremdartige Gesichter voll Intensität. Intensiv in ihrer Leere. Intensiv in ihrer Lebendigkeit. Die kleine Wohnung in Puebla. Puebla. Das Leben dieser Stadt gegen die Einsamkeit und Furcht in ihren vier Wänden. Ihr Lauschen auf die unentwirrbaren Stimmen und Klänge. Ihre Bemühungen um Arbeit, ohne die Sprache auch nur annähernd zu beherrschen. Spanisch. Nun ein Lebensgefühl
für sie. Nicht so damals.
Banges Warten auf die Arbeitserlaubnis. Scheinbar zielloses Wandern durch die Stadt. Farbenfrohe Märkte. Der Kauf der Kamera. Der Versuch, aus der Unwissenheit, der Naivität, aus ihrer eigenen Sprachlosigkeit Kapital zu schlagen. Themenreihen zusammenstellen. Verschicken. An deutsche Verlage, an mexikanische. Dann neue Bilderreihen. Irgendwann: "Die Kinder Pueblas". Eine zweischneidige Sache, der Kinderarbeit wegen. Viele Filme waren nötig. Doch die Fotoauswahl zeigte dann, ohne anzuklagen. So der Kommentar
eines Verlagshändlers, der daran interessiert war. Gutes Geld bekam sie dafür. Fast gleichzeitig mit der Arbeitserlaubnis. Das Schauen durch die Linse, ihre bedeutungsvollste Beschäftigung, auch heute noch. Neben ihrer Berufsausübung in den unterschiedlichsten sozialen Umfeldern.
Viel später dann Manuel. Nachdem sie lange gezögert hatte. Manuel. Der Mann, bei dem sie ein Zuhause fühlte. Mit ihm. Bei sich. Angekommen. Und doch mit losen Wurzeln.
Deshalb immer wieder Briefe nach Europa. Erst böse Antworten. Dann keine mehr. Sie hatte ihn im Stich gelassen. So sah er es. Welch ein Frevel, ihren eigenen Weg gehen zu wollen! Doch ihr Leben spielte in Mexiko. Hier fühlte sie eine Lebendigkeit, eine Kraft in sich, die ihr so sehr wohl tat.
Da spürt sie seinen Blick auf sich gerichtet. Sie schaut auf. Erschrickt. Röte steigt ihr ins Gesicht. So viel Wärme! So viel Nähe. Da ist sie wieder, die uralte Geborgenheit. Trotz allem. Würde er reden? Endlich reden? Er greift nach der Tasse. "Hol' ein Blatt Papier. Bitte, Laura." Dann diktiert er ihr Namen. Eine ganze Liste. Namen von Nachbarn, Famile im weitesten Sinne und ein paar ihr unbekannte Namen. "Rufst du sie für mich an? Sie sollen im Laufe der nächsten Tage kommen." "Aber..."
"Sag' ihnen, dass ich sie bitte, mich kurz zu besuchen. Sie werden es mir wohl nicht abschlagen."
Mehr gibt es für ihn nicht zu sagen. Sie bereitet alles für den Rest des Tages, den Abend und die Nacht vor. Das Essen. Die Medizin. Das Sanitäre. Dann fährt sie, aufgewühlt wie sie ist, zu dem nächsten Patienten, den Olga, ihre Freundin aus Kindertagen, ihr aufgetragen hat.
Viele "Gäste" kommen in den nächsten Tagen. Oft ist Laura anwesend, wenn sie steifen
Schrittes ins Krankenzimmer staken. Sie wird nie erfahren, was er mit ihnen bespricht.
Dennoch zweifelt sie keine Sekunde daran, dass er sich von ihnen verabschiedet.
Wenn diese Menschen, die ihm in seinem Leben wohl auf irgendeine Weise wichtig geworden waren, aus dem Zimmer treten, ist an ihnen etwas zutiefst Aufgewühltes, aber auch Verklärtes. Tränenverhangen manchmal, das ja.
Einmal, am Ende eines langen besuchsreichen Tages, bittet Gustav sie zu sich. Wird er jetzt endlich mit ihr reden? Ihr wird heiß. Er versinkt nun fast zwischen seinen Kissen. Seine blassen, alten Hände liegen links und rechts neben seinem Körper, wie hindrapiert. Wie bei einem Toten. Sie erschrickt bei diesem Gedanken. Wie ausgezehrt sein Gesicht wirkt. Das noch immer volle Haar klebt in Strähnen an seinem Kopf.
"Laura, ich muss mich nun auf meine Reise vorbereiten." Ein dicker, dicker Kloß sitzt ihr augenblicklich im Hals. Ihr Rücken versteift sich. Ihre Hände sind mit einem Mal eiskalt. "Du fliegst doch in zwei Wochen zurück nach Mexiko, nicht wahr?" Sie nickt. "Ich muss." Die aufsteigenden Tränen drängt sie mit aller Kraft zurück.
"Ich möchte, dass du erst am Abreisetag wieder zu mir kommst. Hörst du?" Nun bricht sich ihre Verzweiflung Bahn. "Das meinst du nicht wirklich. Willst du noch immer Strafe? Rache? Willst du dich selbst quälen? Ich kann es nicht fassen." Ihr Hals ist staubtrocken, ihre Stimme belegt.
"Nein, Laura. So ist es nicht. Glaube mir." Diese Stille im Zimmer. "Ganz und gar nicht." Wovon redet er nur? Sie versucht tapfer zu sein. Es ist sein Leben. Sein Sterben. Er ist der Dramaturg. Lass ihm das, sagt sie sich. "Niemand soll in der Zwischenzeit kommen. Der Arzt hat gut vorgesorgt. Ich komme klar." Und als sie sich zu einem Kuss auf seine Stirn niederzwingt, sagt er: "Wir sehen uns wieder, meine Kleine. In zwei Wochen. Ich verspreche es dir."
Als sie im Auto sitzt, hämmert es in ihrem Kopf: Ich verspreche es dir. Ich verspreche es dir. - Oh Gott!
Nur einmal noch kommt ihr ein klarer Gedanke, der, ob sie seinen Arzt konsultieren sollte. Es ist doch wahnwitzig, in seinem Zustand allein bleiben zu wollen. Dann verschwindet auch schon wieder alles im Nebel. Blutleer taumelt sie durch die Tage und Nächte. Wie unter Hypnose, schlägt sie jeden Morgen die Zeitung auf, die letzte Seite, die Todesanzeigen. Klappt sie danach wieder zu. Wie sollte auch jemand seinen Tod melden, wenn ihn keiner bemerkt? Olga ist sie längst keine Hilfe mehr bei der Versorgung der Patienten.
Ganz im Gegenteil. Olga kümmert sich nun auch um Laura.
Freitag. Am Spätnachmittag wird sie im Flugzeug sitzen. Olga hat alles für sie
arrangiert. Sie fährt sie auch zu Gustav. "Soll ich mit herein kommen?", fragt sie.
"Nein, diesen Gang hat er allein für mich vorgesehen", antwortet Laura tonlos und steigt aus.
Das Haus wirkt wie immer. Die Fenster sind geschlossen. Doch die Tür steht offen. Sperrangelweit. Ihr ist plötzlich kalt. Sie setzt einen Fuß vor den andern. Tritt in die Diele. Ein Schrei entringt sich ihr. Auf dem alten Korbstuhl sitzt Gustav. Wächsern sieht er aus. Doch er lächelt. Und steht auf. Ein längliches Kuvert in der Hand. Zeigt auf die beiden Koffer neben der Tür. Bereit für die Reise.