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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Das Warten

Von Bettina Tita


Es war immer allzu offensichtlich, von Anfang an, dass sie anders war als die anderen, sie war sehr still und nie lachte sie laut nach Aufmerksamkeit oder machte diese lasziven Gesten, die er nicht leiden konnte, sondern wirkte versunken, tief, in irgend etwas, durchsichtig, unsichtbar, nicht da, und es überkam ihn jedes Mal, sie anzufassen, nur für die Gewissheit, dass sie da oder vielleicht eher, dass sie nicht da war, was nicht weiter merkwürdig gewesen wäre. Aber wie konnte das, was ihn einst so anzog, das Gleiche sein mit jenem, was ihn jetzt abstieß, schließlich war sie es immer noch, nur ein wenig blasser und ihre Augen, immer, wenn er versuchte, in sie hinein zu sehen, schwammen sie ihm davon.
Er hatte es bereits gespürt, schon lange, bevor sie es ahnte, wobei er sich selbst da nicht sicher war und er wollte es ihr sagen. Doch ihre großen, blauen Augen glänzten traurig und senkten sich mit einem Wimpernschlag, so dass er sie küssen musste, alle beide, anstatt es zu sagen. Sicher wollte er es trotzdem versuchen, immer und immer wieder, nur die Tränen flossen zu oft und ihre großen blauen Augen verloren ihren Zauber mehr und mehr. Sie verwässern, dachte er sich und stellte fest, dass sie tatsächlich immer blasser wurden und er so nicht weitermachen kann, um ihrer blauen Augen willen und um seinetwillen.
Natürlich hat sie geweint, noch mehr und sehr viel sogar, aber dann hörte sie damit auf, da sie erkannt hatte, dass es nichts half. "Bei dem nützen Tränen nichts", sagte ihre Mutter. Sie wollte ihn auch nicht mehr anrufen, weil sie endlich auch eingesehen hatte, dass das noch weniger half. "Du musst endlich kapieren, es ist zu Ende", sagte ihre Freundin und sie widersprach nicht mehr, denn sie hatte jetzt begriffen. Ich werde warten, sagte sie sich, mit trockenen Augen und ich werde nichts mehr tun, außer warten.
Endlich waren ihre blauen Augen wieder trocken und ihr Mund mit den schmalen, rosigen Lippen, den er sich immer etwas dunkler und größer geträumt hatte, verstummte nicht mehr in unausgesprochenen Vorwürfen am anderen Ende der Leitung. Er war erleichtert, dass sie es endlich überstanden hatte, offensichtlich, und freute sich darüber, nun galt es sich noch zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Es war wichtig, dass sie sicher war und aufgehoben. Doch als sie wieder nicht abhob, fing es an ihn zu quälen. Nicht dass er etwas bereut hätte, denn es hatte geschehen müssen, so oder so und früher oder später, vielleicht schon lange davor. Es half nichts, er musste noch einmal zurück zu ihr, nur für dieses eine Mal und nur für eine kurze Weile und benutzte den Schlüssel, den er ihr zurückgeben wollte, gleich jetzt.
Sie war nicht überrascht, sie lächelte sogar ganz freundlich und schien sehr gefasst zu sein, als hätte sie diese Situation schon hundert Mal in ihrem Inneren durchgespielt, aber sie ließ die Vorhänge geschlossen und als er sie fragte, warum sie sie nicht einfach öffnen würde, meinte sie nur, was würde es sie schon interessieren, was da draußen vor dem Fenster passiert, es sei immer das Gleiche, tagein, tagaus, fremde Menschen laufen dort unten auf der Straße entlang, sie sind nur Profile ohne Gesichter und ohne Namen, nur ein paar bunte Flecken auf dem grauen Asphalt und was würden sie die fremden Menschen dort unten auf der Straße schon interessieren. "Seitdem sie den Baum vor dem Fenster gefällt haben, gibt es da nichts mehr zu sehen", sagte sie.
Es war ein ohrenbetäubender Lärm, der sie morgens weckte, als sie den Stamm durchsägten, schon immer hatte sie geahnt, sie werden ihn fällen, nicht so bald aber irgendwann sicher und er sagte immer nur: "Mach dich nicht jedes Mal so verrückt", das sagte er immer, wenn sie etwas ahnte, "Mach dich nicht so verrückt" und insgeheim fürchtete er sich davor, sie könnte gleich wieder anfangen zu weinen und nicht mehr damit aufhören. Diesmal stand sie nur stumm vor dem Fenster, in ihrem weißen Nachhemd, in welchem er sie so schön blass fand und beobachtete, wie die Säge sich erst ein kleines Stückchen, dann tiefer und tiefer durch das Holz fraß, wie der dicke Stamm sich daraufhin immer mehr neigte und zum Schluss die breite Krone schwer und krachend zu Boden fiel. Sie ließen nicht einmal den Stumpf stehen, sondern zogen ihn mitsamt seinen Wurzeln heraus, wie der Zahnarzt die Wurzeln eines abgebrochenen Zahns entfernen muss, damit die Entzündung sich nicht ausbreiten kann, sie zogen alles heraus, damit dem Stumpf kein neuer Trieb wachsen kann, als wäre dieser Baum eine Krankheit, eine Infektion inmitten der sterilen Betonlandschaft.
Ein dünner, braungebrannter Riese in grüner Latzhose spuckte geräuschvoll und verächtlich auf die sandigen Wurzeln, welche vom seitlich gekippten Stumpf aus in die Luft ragten, ihr entgegen, wie unzählige kleine dünne Arme und Finger, die sich nach ihr ausstreckten.
Dann zogen sie auch diesen letzten Rest weg, sie aber blieb noch eine Weile dort am Fenster stehen, hinter dem Vorhang und betrachtete die Wunde, welcher der Baum hinterlassen hatte, nicht die im Boden, sondern eine unsichtbare, aber deutlich spürbare und sie fühlte sie noch viel stärker, als sie zurück zu ihm ins Bett kroch. Er sagte ihr tröstenden Worte, wie eine Litanei, die er im Laufe der Jahre auswendig gelernt hatte, mit dem einzigen Sinn, sie und sich selbst zu beschwören, dann drehte er sich zur Seite, er schlief immer auf der Seite und sie betrachtete sein Profil noch lange, als wäre es das letzte Mal. Als er wieder aufwachte, saß sie mit angewinkelten Beinen neben ihm und starrte ihn immer noch an. "Dir ist wohl langweilig?", fragte er, bevor er aufgehört hatte, zu fragen.
Sie hielt die Vorhänge früher nie geschlossen, auch abends nicht, aber jetzt fing sie an, sich vor den Blicken zu fürchten, die mit dem gelben Licht der Straßenleuchten ungehindert zum Fenster herein drängen konnten, seitdem dort vor dem Fenster kein Baum mehr stand. Irgendwann hatte jemand gepfiffen und seitdem wurden die Vorhänge geschlossen, jeden Abend und dann vergaß sie einfach, sie zu öffnen. "Das ist alles", sagte sie.
Frische Luft war dringend nötig. Er hatte aufgehört zu rauchen, seitdem er wieder alleine war und ertrug den Qualm und die stickige Dunkelheit in diesem Zimmer nicht, mit einem Ruck zog er die Vorhänge zur Seite und das Tageslicht fiel jetzt ungehindert auf all die herumliegenden Sachen, auf die Kleiderhaufen, welche überall am Boden verteilt waren, die Gläser, Teller und Verpackungen, die auf der Kommode und dem Tisch hingestellt und nicht wieder abgeräumt waren. Zwischen Fotografien und überfüllten Aschenbechern lagen überall zerstreute Zettel und anderer Kleinkram, alles war voll damit, kein Wunder, dass er beim Eintreten fast gestolpert wäre, nur ein Sessel, auf welchen er sich gerade setzten wollte, war leer, bis auf eine Puppe, die halb auf der Lehne lag, als würde sie sich daran abstützen. Eine Puppe, die, die sie zu ihrem achten Geburtstag von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, damals legte sie sie jeden Abend zu Bett und die Schlafaugen fielen zu und öffneten sich erst dann wieder, wenn sie geweckt wurde, das letzte Mal hatte sie sehr lange geschlafen, in einem Schrankfach, zugedeckt mit ihren Kleidern und jetzt, als wäre ihre Zeit gekommen, lag oder saß sie dort auf dem Sessel, ein Auge geschlossen und das andere halb offen, so als würde sie sich schlafend stellen um heimlich beobachten zu können, mit ihrem halboffenen Auge und als er fragte, warum sie nicht einfach mal aufräumen würde, meinte sie nur, was würde es schon machen, es sei doch nicht schlimm, wenn hier alles herumliegt, und sie hätte alles, was sie brauche hier in diesem Zimmer, lächelte sie, außerdem gebe es da ein ganz spezielles System, fügte sie noch hinzu, auf den Boden deutend und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass all diese Sachen hier keine willkürlich durcheinander geworfenen Sachen waren, sondern dass es zwischen ihnen immer eine Art merkwürdige Verknüpfung gab, die irgendwie Sinn machte, sie lagen in bestimmten Abständen am Boden oder auf den Möbelstücken und jedem Gegenstand war jeweils wieder ein Gegens
Eine große Fotografie, auf welcher sie noch als glückliches Pärchen lächelten, stach im ins Auge. Außen herum standen mehrere abgebrannte Kerzen und Wachsflecken waren überall, auch auf den Kleidern, aber es waren nicht ihre Kleider, jetzt erkannte er es, sondern die seinen, er hatte schon nach dem einen oder anderen Teil davon gesucht, sich dann gewundert, dass es nirgendwo zu finden war und zum Schluss sehr geärgert. Auch sein Kamm und sein Notizheft lagen hier und andere Dinge, die ihm gehörten. Nervös suchten seine Augen den Boden nach vermissten Schätzen ab, blieben dabei immer wieder an den Zetteln hängen, er hob einen davon auf aber konnte nichts darauf entziffern, außer seinem Namen und dem ihren und seltsam zusammengesetzten Wörtern, die so keinen Sinn mehr ergaben.
"Du musst vorsichtig sein, bevor du wieder gehst", kicherte sie ganz leise und verlegen, "sonst muss ich das alles wieder richten und das dauert zu lange." "Hast du eine Zigarette?", fragte er und sie steckte ihm eine Packung entgegen, aber die war leer und jetzt bemerkte er auch, dass die Gläser und Teller ebenfalls leer und unbenutzt waren und das schon seit längerem, eine Staubschicht hatte sich bereits darauf gebildet, es war, als hätte sie Besuch erwartet, nur die Gäste sind nie eingetroffen. "Möchtest du auch etwas trinken?", lächelte sie und stieg vorsichtig über die Landschaft am Boden, nahm eines von den Gläsern, stellte es aber schnell wieder zurück, "Das ist ja ganz schmutzig", sie blickte jetzt verärgert, "Immer vergesse ich alles, warte, ich gehe es spülen", sie setzte wieder das Lächeln auf und wollte erneut nach dem Glas greifen aber er verneinte stumm.
Sie merkte, dass ihm nicht wohl war und neigte freundlich den Kopf, um aufmunternde Worte zu sprechen. "Ich muss dir doch etwas anbieten, wenn du mich hier schon besuchen kommst, ich wusste", sie betonte wusste ganz laut, "du würdest kommen."


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