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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Zehn rote Autos

Von Anja Posner


Noch vier rote Autos. Noch vier rote Autos sollten vorüber fahren, dann würde sie den Schirm wieder aufspannen und nach Hause eilen. Hindurch, durch den Regen, der seit dem Nachmittag schon strömte und nicht aufhören wollte. Sie saß in dem kleinen Wartehäuschen an der Bushaltestelle beim Marktplatz. Hier hatte sie sich mit ihm verabredet. Um sechs hatten sie gesagt, und dann war es zehn nach sechs und zwanzig nach sechs geworden. Als sie nicht mehr länger warten konnte, ohne dass ein Gefühl von Ohnmacht und Scham sie beschlich, hatte sie sich das erlösende Ultimatum ausgedacht. Zehn rote Autos lang wollte Gwendolina noch in dem Wartehäuschen bleiben. Zehn rote Autos und den Moment, wenn das Warten auf eine Verabredung von akzeptabel in entwürdigend übergeht, gab es nicht mehr. Da war wieder einer, also noch drei rote Autos, dann würde das Warten ein Ende haben. Selbst bestimmt und voller Stolz.
Gwendolina war zwölf, als ihre Mutter starb, die ihr nicht viel mehr hinterließ als die Erinnerung an eine Kindheit, die in der Verspieltheit einer Mutter stecken blieb, die ihre Tochter nach dem Namen eines Liedes von Adamo benannt hatte. Als es so weit war, man Gwendolina sagte, dass es zu Ende ging, hatte das Mädchen ein Kinderleben hinter sich, das nur in Trippelschrittchen, eng an die Mauern der Fakten gedrückt, neben der trinkenden Mutter hatte bestehen dürfen. Schon ganz früh hatte Gwendolina begonnen, sich dem realen Leben zu entziehen, in dem sie sich Ultimaten stellte, selbst erdacht und freiwillig. So bekam das Leben, wie schwer es auch manchmal für das Kind war, die Leichtigkeit eines Spiels, die Option des Verharrens, oder des Entziehens, je nach dem was Gwendolina wollte. Noch zehn Spatzen wollte sie sehen, bevor sie das Schulhaus betrat, nur im weißen Kleid würde sie eine gute Note in Mathematik schreiben. Den Bus um vier wollte sie bekommen, sonst würde etwas Schreckliches mit ihr geschehen. Natürlich beeilte sich Gwendolina, die zehn Spatzen zu entdecken bevor die Schulglocke läutete, sie sorgte am Abend vor der Klassenarbeit selbst dafür, dass sie das weiße Kleid am Morgen würde anziehen können, auch der Bus um vier war eine Leichtigkeit, und doch blieb immer ein Restmoment der Unsicherheit, eine Spannung, die Gwendolina ein wohliges Kribbeln verschaffte und ihr erlaubte, die realen Gegebenheiten auszublenden, die in ihrer tristen Gesamtheit Gwendolinas Leben waren.
Nach dem Tod ihrer Mutter heiratete Gwendolinas Vater die Geliebte, zu der er schon seit Jahren immer wieder vor seiner trunksüchtigen Frau geflohen war. Dass seine Tochter keinen solchen Zufluchtsort hatte, daran hatte er nie gedacht. Schon kurz nach der Hochzeit ihres Vaters starb noch etwas. Es war Gwendolinas Hoffnung auf ein schöneres und friedlicheres Leben. Es starb einfach so und ohne, dass es jemand bemerkte, außer Gwendolina natürlich, aber wen interessierte schon Gwendolina. Doch das Kind verzweifelte nicht, sondern trat die innere Flucht vor der Brutalität der Stiefmutter an, indem sie sich jeden Tag unzählige kleine Ultimaten stellte. Kleine Aufgaben, die zu erfüllen eine Leichtigkeit darstellte, verglichen mit den seelischen Mühen, die das wirkliche Leben Gwendolina abverlangte. Draußen trieb die blinde Zerstörungswut der Stiefmutter ihr Unwesen, in Gwendolinas Welt ging es um Ziele, die nur sie selbst erfand, sich steckte und erreichte. Im Herbst ließ sie die Reihenfolge der fallenden Blätter über manches in ihrem kleinen Leben entscheiden, im Sommer waren es Wolken, die sich vor die Sonne schoben. Manchmal war es ein Luftanhalten bis zu einem bestimmten Ziel. Schaffte es Gwendolina bis zur Birke, dann wollte sie riskieren, zuhause heimlich fern zu sehen, schaffte sie es gar bis zur Platane, traute sie sich sogar, vorher noch unerlaubt an das geheime Süßigkeitenfach der Stiefmutter zu gehen, um sich das Fernsehen mit dem ein oder anderen Riegel zu versüßen. Einmal erwischte die Stiefmutter sie dabei und schlug sie mit einem Bügel. Gwendolina weinte zwar, aber sie weinte nur, weil ihr die Schläge wehtaten, nicht weil ihr Leben so traurig war. Denn ihr Leben war nicht traurig, es war voller spannender Spiele, prall gefüllt mit unzähligen kleinen Triumphen über all die eingehaltenen Ultimaten, die sie sich selbst stellte.
Die Jahre vergingen. Gwendolina war eine ausgezeichnete Schülerin, hatte stets gute Noten und ein tadelloses Äußeres. Spätestens als sie ihr Studium mit Auszeichnung beendete, hielt sie jeder für perfekt, sogar Gwendolinas Freundin Teresa neidete ihr den perfekten Schein, und das, obwohl sie um den Preis wusste, den Gwendolina in all den Jahren für diese Illusion bezahlt hatte. Und so seltsam es auch war, trotz des Neids auf ihre Freundin hielt vor allem Teresa den Preis für zu hoch. Manchmal riet sie Gwendolina sogar, einen Arzt aufzusuchen. Es sei doch nicht normal, meinte sie. Es sei nicht richtig, das Leben an selbst auferlegte Bedingungen zu knüpfen, dann ginge es doch nur noch um die Erfüllung dieser Bedingungen und nicht mehr um das Leben an sich. Teresas Stimme wurde schrill, wenn sie das sagte. Sie verstand nicht, dass genau das Gwendolina in all den Jahren gerettet hatte. Sich dem Leben nicht stellen zu müssen, nicht wenn sie es nicht wollte, das hatte Gwendolina zu einem kleinen Glück verholfen. Ultimaten als Katalysator für ein Leben voller Traurigkeit.
Gwendolina hatte schon lange aufgehört, Teresa erklären zu wollen, was das ultimative Leben ihr bedeutete. Es schien der Freundin nur Angst zu machen und je größer diese Angst wurde, desto lauter wurde ihre Rufe, Gwendolinas Leben sei nicht mehr das einer Neurotikerin, es sei schizophren, sie sei schizophren, und Gwendolina hätte keine Neurose, sondern eine Psychose. Deshalb gehöre sie zu einem Arzt, mindestens, wenn nicht sogar in eine Anstalt, aber das sagte Teresa nur, wenn sie betrunken war. Das war sie zum Glück nicht sehr oft.
Und wieder fuhr ein rotes Auto vorüber. Noch zwei. Die letzten acht waren schnell vergangen, obwohl es in den letzten Jahren nicht mehr so viele rote Autos gab wie früher. Damit kannte sich Gwendolina aus. Rote Autos waren immer eine sichere Bank gewesen, wenn etwas schnell vergehen sollte. Verharren an einem Platz, auf einem Bein stehend, Beteiligung an einer Unterhaltung, ohne bestimmte Worte zu benutzen für die Dauer des Zeitraums, den es für zehn rote Autos brauchte, jeden Bettler am Hauptbahnhof mit Silbergeld beschenken, bis vier rote Auto vorüber gefahren sind, und so weiter, und so weiter. Gwendolina hatte es nicht immer unter Kontrolle, welchen Arten von Ultimatum sie sich tagein, tagaus stellte, und dennoch gaben ihr diese Deadlines und Bedingungen ein Gefühl von Sicherheit und Selbstbestimmung, so paradox es für jemanden war, der ihr riet, einen Arzt aufzusuchen. Und was noch paradoxer war, ja nahezu absurd, war die Tatsache, dass genau diese Gespräche Gwendolinas Gefühl der Selbstbestimmung ins Wanken brachten. So war das. Man wollte nur ihr Bestes, das sagte man, doch eigentlich ging es dabei nicht um Gwendolinas Bestes, denn sie war, so wie es war, weitaus glücklicher als so mancher. Bei der Empfehlung, einen Spezialisten aufzusuchen ging es nicht um Gwendolinas Bestes. Nein. Es ging um die Angst derjenigen, die um die neurotischen Gewohnheiten dieser Frau wussten. Dieser Teil der, sonst so gefälligen Freundin war anders und er machte Angst. Und weil Angst eben Angst macht und man dabei nicht gern allein ist, nahm man Gwendolina gern mit ins Boot, in dem man ihr sagte, man halte ihr Leben für nicht lebenswert sondern für therapiebedürftig. Manchmal fragte sich Gwendolina, wo diese Menschen gewesen waren, als es darum ging, ihre Kinderseele zu retten. Man kann sich denken, dass sie keine Antwort fand. Sie ertrug all die Ratschläge, um die sie nie bat und kam dennoch nicht umhin, ihr Leben für das Lebenswertere zu halten. Sicher, es war mit den Leben anderer nur bedingt kompatibel, aber wenigstens hatte es seine Höhepunkte. Und es machte keine Angst. Nicht solange man nicht versuchte, Gwendolina zu etwas zu bewegen, das sie nicht wollte. Denn nur das machte ihr Angst. Richtige Angst.
In den letzten Jahren war Gwendolina zu silbernen Autos übergegangen. Rote Autos wurden wirklich weniger. So unterlagen Gwendolinas Ultimaten auch einer gewissen Mode. Bei diesem Gedanken lächelte sie und freute sich, dass sie für dieses Mal doch wieder die roten Autos gewählt hatte. Andernfalls wäre sie längst auf dem Weg nach Hause gewesen. Dabei war es gerade so gemütlich in dem Wartehäuschen. Der Regen prasselte auf das Dach und Gwendolina musste ihre Strickjacke bis ganz oben zuknöpfen, um ein bisschen weniger zu frösteln. Und doch fand sie es behaglich auf der Bank in der kleinen Wartehalle, in der sie schon acht rote Autos länger verweilte, als sie es vielleicht hätte tun sollen. Aber so hatte sie ein Ultimatum zu erfüllen und konnte sich ganz frei in diesem Raum von zwei weiteren roten Autos treiben lassen. Die Zufriedenheit durchströmte sie als ein Gefühl wohliger Wärme. Ein Mann kam aus dem Regen in das Wartehäuschen gerannt und ließ sich zwei Sitze weiter keuchend auf die Bank fallen.
"So ein Scheißwetter."
"Das können Sie laut sagen."
"So ein Scheißwetter!", rief der Mann. Dann lächelten sie sich an.
Gwendolina kramte in ihrer Tasche, holte ein Päckchen mit Zigaretten raus und zündete sich eine an. Das neunte rote Auto fuhr vorüber und der Regen wurde weniger. Der Hundertsechzehner hielt an und der Mann, der neben Gwendolina Platz genommen hatte, stieg ein und fuhr davon. Nun war sie wieder allein. Inzwischen war es bald sieben und Gwendolina kramte in ihrem Kopf nach dem Namen des Mannes, mit dem sie hier verabredet war. Gewesen war, konnte man mittlerweile sagen, denn man kann, kurz vor sieben eigentlich nicht mehr damit rechnen, dass jemand kommt, der um sechs schon hätte da sein wollen. Sie hatte ihn ein paar Abende zuvor in einer Bar kennen gelernt. Sie wusste nicht, warum er dort war. Sie war dort, weil sie sich bei der Arbeit gesagt hatte, sie würde genau in dieser Bar einen Kaffee trinken, wenn in den nächsten fünf Minuten drei Anrufe kämen. Drei Anrufe kamen und Gwendolina ging in die Bar. Er, und jetzt fiel ihr ein, dass er Heiner oder Rainer hieß, war gar nicht ihr Typ. Meiner war er jedenfalls nicht, dachte sie und grinste vor sich hin. Aber er hatte rübergelächelt und dann hatte sich Gwendolina gesagt: Wenn er noch einmal in die Nussschale greift, bevor er wieder von seinem Bier trinkt, dann lächele ich ihn auch an. Er tat es und Gwendolina lächelte, dann sprach er sie an und sie wechselten ein paar Worte. Am Ende des Abends verabredeten sie sich.
Gwendolina saß in einem kleinen Wartehäuschen. Sie saß dort ganz allein, aber nicht, weil man sie versetzt hatte, sondern weil noch keine zehn roten Autos vorüber gefahren waren.


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