Der Trainer
Von Gilbert Trojer
Alle nannten sie ihn den "Trainer". Seine Spieler, die Eltern seiner Spieler, ja sogar der alte Platzwart und der griesgrämige Zeugwart nannten ihn so. Manche nannten ihn auch nur "Coach". Eigentlich kein Wunder, denn er war ja auch der Trainer, genauer gesagt, der Trainer der U-14 Mannschaft des FC Oberndorf der zweiten Landesklasse - nur seine Frau, die rief ihn immer bei seinem Vornamen. An diesem wolkenlosen und schwülen Julitag stand ein wichtiges Spiel auf dem Programm. Viel Selbstbewusstsein
ausstrahlend ging der Trainer an der Seitenlinie des Fußballfeldes auf und ab und beäugte argwöhnisch die Leistung seiner Kicker. Ab und zu rief er einem Jungen im gelb-schwarzen Dress etwas zu, die meiste Zeit aber genoss er einfach die Atmosphäre. Die sengende Hitze, der Geruch von frisch gemähtem Gras, das Knirschen seiner Sportschuhe, wenn sie den Kalkbelag der Seitenlinie berührten, und immer wieder ein aufmunternder Zuruf aus dem spärlichen Publikum. Aber vor allem liebte er den hektischen Betrieb auf dem
Spielfeld.
Breitbeinig stand der Trainer jetzt da, die Hände vor der Brust verschränkt. Auf seinem Trainingsanzug in Vereinsfarben war auf der Rückseite groß der Aufdruck "Trainer" zu lesen. Um seinen Hals baumelte eine silberne Trillerpfeife, die in der Sonne blitzte, und in seinem Gesicht war ein zufriedener Ausdruck: seine Jungs schlugen sich gut. Sein Blick fiel auf einen seiner Spieler - Max. Dieser stand wie der Trainer ebenfalls an der Seitenlinie, verfolgte das Spiel mit starrer Miene und aß gerade einen
Apfel. Verloren stand der Bub da mit seiner blassen Haut, obwohl es mitten im Hochsommer war. Das gelb-schwarze Trikot war ihm mindestens eine Nummer zu groß. "Max Dallarosa", dachte der Trainer, "der kleine Junge mit dem großen Namen. Warum isst Max eigentlich bei jedem Spiel einen Apfel?" Der Trainer musste sich an seine Jugendzeit zurückerinnern. Sein Vater war ein strenger Mann gewesen, und besonders wenn es um Fußball ging hatte er keinen Spaß verstanden. Sein Vater war auch nie der Meinung
gewesen, dass das Fußballspielen seinem Jungen eigentlich Freude machen sollte. Nein. Für ihn war es die Erfüllung seines eigenen Jugendtraums gewesen, sein Kind als erfolgreichen Spieler zu sehen. Der Trainer hatte auch jetzt immer wieder mit solchen Vätern zu tun: Sie waren bei jedem Spiel dabei, einige sahen sich sogar das Training an. Regelmäßig belagerten sie ihn mit gut gemeinten Ratschlägen. Manche kamen auch zu ihm, um für ihren Sprössling Vorteile herauszuholen. "Einfach furchtbar", dachte
er, "wenn die es besser können, sollen sie selber den Trainer spielen!" Immer wieder kamen besonders ehrgeizige Väter, um ihn nach der richtigen Ernährung für die jungen Sportler zu fragen. Auch der Trainer hatte als Junge immer einen besonderen Ernährungsplan gehabt: viele Nudeln, fast täglich, und viel Obst - und vor dem Spiel einen Apfel. Dem Trainer war jetzt ganz klar, dass der Max seinen Apfel auch von seinem Vater haben musste. "Wo ist eigentlich der Vater vom Max?", fragte sich der
Trainer plötzlich, "den habe ich überhaupt, der immer pünktlich zum Training erschien. Max, der nie murrte oder meckerte. Max, der eigentlich nie viel sagte. Max, der im Training immer vollen Einsatz zeigte. Max, den er noch bei keinem einzigen Spiel eingesetzt hatte. "Er wird auch noch seine Chance bekommen", dachte der Trainer, "irgendwann wird er reif sein, für seinen ersten Einsatz. Ich kann halt nicht auf einzelne Spieler Rücksicht nehmen. Ich bin schließlich der Trainer. Ich habe ein
Team zu formen und mit diesem Team zu gewinnen". Der Trainer wusste wie schwer es war, ewig auf der Ersatzbank zu sitzen. Er selbst hatte früher diese Erfahrung machen müssen. Dennoch konnte er nicht mit jedem einzelnen Spieler Mitleid haben. Die meisten seiner Buben kamen auch damit klar, ihre Väter hingegen ganz und gar nicht. Wie er das hasste. Gerade wenn ein Spiel danebengegangen war musste er sich immer eines Ansturms enttäuschter Väter, deren Jungs nicht eingesetzt worden waren, erwehren. Jeder wollte
ihm weismachen, wie anders doch alles gelaufen wäre, wenn der eigene Sohn mitgespielt hätte. Dann musste er immer wieder erklären, dass es eine Stammmannschaft gäbe, und dass an der mal nicht zu rütteln sei. "Ich will Spiele gewinnen, meine Herren, ich leite das Training, ich bestimme die Taktik und die Aufstellung. Nicht Sie!", pflegte er den erhitzten Vätern zu sagen. "Auch wenn Fußball ein Spiel ist, verstehe ich keinen Spaß, wenn es um den Sieg geht." Erschrocken erkannte der Trainer,
dass er dabei immer mehr wie sein eigener Vater klang, obwohl er es eigentlich besser machen wollte. Aber er musste nun mal zu seinen Entscheidungen stehen. "So ein Trainer hat es nicht leicht", musste er wieder einmal erkennen, "alle wollen was von dir. Und jeder glaubt, er kann es selber besser machen." Im Fall von Max, der auch nicht zur Stammelf gehörte, war die Situation etwas anders. Der Trainer pflegte seine Spieler im Training immer genauestens zu beobachten. Allerdings zählten nicht
nur der gezeigte Einsatz, sondern auch die spielerische Fähigkeit zu seinen Beurteilungspu er war ja auch noch einer der jüngsten. Angenehm war hingegen, dass der Vater vom Max noch nie bei ihm vorgesprochen hatte, um sich bei ihm zu beklagen. "Vielleicht sollte ich das mal honorieren - den anderen lästigen Vätern eins auswischen - und den Max einsetzen", dachte der Trainer und musste hämisch grinsen.
Das Grinsen verging dem Trainer allerdings in der nächsten Sekunde, als ihn der schrille Pfiff des Schiedsrichters aus seinen Gedanken aufschreckte. Einer seiner Spieler hatte sich verletzt und musste ausgewechselt werden. Der Trainer überlegte einen Augenblick, dann drehte er sich kurz entschlossen um, sah auf die Ersatzbank und zeigte mit seinem Finger auf einen der Buben. "Du gehst rein". Der Trainer gab ihm noch einige taktische Anweisungen mit auf den Weg. Max stand weiterhin regungslos an der
Linie, blickte aufs Spielfeld und biss in seinen Apfel.