Warum?
Von Thorsten Lamers
Josef Wegner stand am Fenster seines kleinen Hotelzimmers in New York und schaute hinüber auf den morgendlichen Central Park. Das Wetter heute Morgen war herrlich, der Himmel blau und wolkenlos und in den Bäumen zwitscherten die Vögel. Vereinzelt zogen Jogger ihre Bahnen durch den Park. Er war heute Morgen sehr früh wach gewesen, die Sonnenstrahlen hatten ihn bereits lange vor seinem Wecker sanft aus dem Schlaf geholt. Er hatte bereits geduscht, sich frisch rasiert und er war fit, freute sich auf den ersten Tag
am neuen Arbeitsplatz. Nun stand er hier in seinem eleganten, dunkelblauen Zweireiher und band sich seine neue Krawatte, welche ihm seine Frau vor seiner Abreise geschenkt hatte. Leichte Nervosität überkam ihn aufgrund seiner neuen Aufgabe. Josef Wegner war Computerspezialist einer größeren Firma in Berlin.
Zwei Monate war es nun her, dass er zu seinem Vorgesetzten berufen wurde. Er sollte für neun Monate die neue Filiale in New York beim Aufbau ihrer EDV-Anlage unterstützen. Auf der einen Seite freute er sich natürlich sehr über das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Aber es gab auch etwas, was ihn an diesem Auftrag zweifeln ließ. Seine Frau, die er wirklich sehr liebte, war mit ihrem zweiten Kind schwanger. Sie hatten bereits einen zweijährigen Sohn, Florian. Und nun war das Töchterchen unterwegs. Mandy sollte sie
heißen. Der Geburtstermin war in zwei Monaten und es war noch nicht sicher, ob er zu diesem Zeitpunkt eine Heimreise nach Deutschland antreten kann.
Aber - dieser Auftrag war seine Chance. Wenn er die Aufgaben hier zur Zufriedenheit erfüllte, würde er bei seiner Rückkehr befördert werden. Das war ihm in Aussicht gestellt worden. Zu alledem gab es während seines Auslandsaufenthaltes auch noch deutlich mehr Geld, was sie gut gebrauchen konnten. Wenn alles klappt, er die Beförderung erreicht, dann könnten sie sich endlich den Traum von einem kleinen Häuschen außerhalb von Berlin verwirklichen.
Nun machte er sich auf den Weg. Das Hotel, welches seine Firma für ihn gebucht hatte, sollte ja sein Zuhause für die nächsten Monate sein. Und er hatte Glück. Es war ein kleines aber feines Haus, direkt in einer relativ ruhigen Seitenstraße am Central Park gelegen. Von hier aus konnte er seinen Arbeitsplatz gut zu Fuß erreichen oder bei schlechtem Wetter auch die U-Bahn benutzen. Heute, er hatte ja noch Zeit, genoss er das Wetter und ging zu Fuß.
New York war eine überwältigende Stadt. Er war bereits vor zwei Tagen angekommen und konnte sich einen ersten Überblick verschaffen. Bisher hielt er Berlin für groß, laut, stressig. Aber diese Stadt übertraf es bei weitem.
In den nächsten Monaten würde er genügend Zeit haben alles zu erkundschaften. Schade, dass seine Familie nicht bei ihm war. So gerne hätte er die Eindrücke dieser atemberaubenden Stadt mit seiner Frau geteilt. Bei der Geburt von Florian war er noch dabei gewesen, dieses Mal wird er unter Umständen seiner Frau wegen seines Jobs nicht beistehen können, das machte ihm Sorgen.
Rasch war er nun an seinem Arbeitsplatz angekommen und stand vor dem Gebäude. Die Höhe des Bauwerkes faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Er war gestern schon einmal hier gewesen und hatte sich bei seinen neuen Kollegen vorgestellt. Nun trat er in die gigantische Eingangshalle und wartete mit vielen anderen Menschen auf einen Fahrstuhl. Er hasste Fahrstühle, hasste es schon in Berlin, wenn er mal einige Etagen mit einem Aufzug zurücklegen musste. Wenn möglich, nahm er immer lieber die Treppe, doch hier in
New York wäre es in den meisten Gebäuden fast wieder Feierabend, wenn er endlich zu Fuß oben angekommen ist. Eigentlich hatte er keine Höhen- oder Platzangst, aber ein Fahrstuhl war ihm nicht geheuer. Er war stets froh, wenn er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Schließlich fand auch er Platz in einem Fahrstuhl und fuhr hinauf in die 102-te Etage des Nordturmes des World Trade Centers. Aus einem Lautsprecher im Aufzug klangen leise die Nachrichten eines Radiosenders. Guten Morgen. Es ist 8 Uhr und 35 Minuten, heute ist der 11. September 2001. Bereits 36 Minuten zuvor startete vom Logan International Airport in Boston eine mit 92 Menschen besetzte Boeing 767 der American Airlines zu Ihrem Flug nach Los Angeles ...