www.online-roman.de       www.ronald-henss-verlag.de
Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Wenn der letzte Schnee fällt

Von Erich Große


Besonderen Dank an Ute Messerschmidt

Wir verlassen gemeinsam den 24 Stunden-Waschsalon, der einen der besten Kaffeeautomaten der Stadt sein eigen nennt und mit seinen zerschlissenen Ledersofas und Stehlampen vielmehr das Aussehen und den Charme eines übergroßen Wohnzimmers besitzt. Die Wände sind angenehm hell gestrichen, besitzen aber ein rotes, auf mich sehr bizarr wirkendes Zickzackmuster, welches hier in diese Umgebung überhaupt nicht hinein passen will. Jedenfalls mag ich den Salon, vor allen wohl deshalb, weil ich hier oft jemanden auflesen kann, der ein Gespräch und eine Zigarette für mich übrig hat, auch wenn ich ohne Wäsche hierher gekommen bin.
Manchmal schaut auch dieser alte Obdachlose mit seiner Mundharmonika hier vorbei. Ich bitte ihn dann immer diese Melodie aus "Spiel mir das Lied vom Tod" zu spielen; er lächelt jedoch bloß jedes Mal verlegen und spielt dann etwas anderes für mich.
Beim Hinausgehen aus dem Waschsalon tragen wir den Geruch von feucht-warmer Wäsche mit uns in die Dunkelheit. Plötzlich branden hinter uns laute Geräuschfetzen auf. Ich drehe mich um, starre durch die immer noch hin und her schwingende Eingangstür, auf den Fernsehapparat an der Wand. Der Moderator in der gerade laufenden Gameshow gestikuliert wild mit der ganzen Fülle seines Körpers; sein pomadiges Haar und sein weißer Anzug funkeln im Scheinwerferlicht.
- Ihre Zeit läuft ...; quiekt er schrill und atemlos in die Kamera, der Rest geht im Beifall des Publikums unter.
- Lass uns weiter gehen, sie schmiegt sich sanft an meinen Arm.
Ich nehme daraufhin ihre Hand in meine und wir gehen weiter.
Es war einfach nicht an Schlaf zu denken. In der Wohnung meiner Eltern hatte ich zuerst auf dem Bett gesessen und eine Zigarette nach der anderen geraucht.
Den ganzen Tag hindurch hatte ich schon gespürt, wie diese merkwürdige Kühle über alles gekrochen war, die sich dann im Laufe des Abends immer mehr zur einer eisigen Kälte gewandelt hatte. Nirgendwo in den Zimmern brannte Licht und alles erschien mir wie erstarrt. Ich wollte hier nicht sein, doch was hätte ich denn tun sollen, nachdem ich meinen Job verloren hatte und daraufhin in irgendeiner Anstalt verschwunden war. Ich hatte keinen Ort, den ich als mein Zuhause bezeichnen würde, vor allem nicht diese Wohnung, und auch niemanden, der wirklich auf mich wartete. Ich war meinen Eltern nicht egal, das nicht, und sie liebten mich wohl auch, aber es hatte sich eine Art Müdigkeit über ihre Liebe zu mir gelegt.
Früher, so denke ich, war dies anders und vermutlich erinnerte mich die Wohnung zu schmerzhaft an diese Zeit.
Jedenfalls ging ich an diesem Abend nach draußen. Ich weiß wirklich nicht warum, denn es schneite heftig und ein frostiger Wind war aufgekommen. Vielleicht war es die Gewohnheit. In dem alten Baum im Hof brannten immer noch Baumgeister - kleine Laternen, die die Nachbarn jeden Abend für einander anzündeten.
Ich lief ziellos durch die Stadt, bis ich irgendwann in einen kleinen Park kam. Ich setzte mich in der Nähe eines Springbrunnens auf eine der vielen Bänke und blickte hinauf in den Himmel. Dichter Schnee fiel auf mich herab und ich genoss das Schmelzen der Flocken auf meinem Gesicht.
Wir schlendern die Gasse Richtung Hauptstraße entlang und ich stecke uns beiden eine filterlose Zigarette an. Goa dröhnt aus einem Aufgang hinab und hallt von den eng stehenden Häuserwänden wider.
Als wir die Hauptstraße erreichen, bleiben wir auf dem Bürgersteig stehen. Von hinten drängt sich ein älteres Paar zwischen uns hindurch, entzweit grob unsere Hände. Sie unterbrechen dabei für keinen Moment ihr Gespräch oder würdigen uns eines Blickes. Ich bleibe stumm, wende bloß meinen Kopf zu ihnen um. Sie gehen ein paar Schritte weiter, bleiben dann vor einem Schaufenster stehen.
- Es ist heute ein Brief in der Redaktion angekommen.
Ein langjähriger Leser schreibt darin, dass er über den Artikel in der letzten Ausgabe sehr bestürzt war.
Wir Umweltschützer müssten uns doch wieder ganz eindringlich ins Bewusstsein rufen, das der Fleischverzehr Ursache vieler Krankheiten sei, da es sich bei dieser Art von Nahrung um Teile von Leichen handelt.
- Das hat er also geschrieben?; er starrt gelangweilt auf seine ausgestreckten Hände.
- Ja! Ist das nicht ...; sie bricht inmitten des Satzes ab. Eine kurze Pause entsteht, in der sie auf ihre Armbanduhr blickt.
- Es ist schon spät und ich möchte jetzt heim; sie funkelt ihn begierig mit schmalen Augenschlitzen an und beleckt ihre fleischigen Lippen. Er grinst breit, wobei seine makellosen weißen Zähne wie Messer in der Dunkelheit blitzen. Die Beiden gehen rasch weiter.
- Ich fand übrigens das Kalbfleisch in dem Restaurant exquisit. Du hast wirklich nicht zu viel ...; ihre Umrisse und Stimmen entschwinden in der Dunkelheit.
Ein Windstoß schneidet sich jäh in mein Gesicht, flieht dann rasch in die langgezogenen Häuserschluchten. Ich drehe mich zu ihr um, blicke in ihre Augen. Blau und klar graben sie sich in mein Gesicht. Sie lächelt sanft. Ein Auto fährt an uns vorüber, hupt dabei schallend. Das Geräusch wird immer wieder von den Häusern zurückgeworfen, verliert sich dann aber nach und nach im Labyrinth der Straßen. Ich drehe mich um, doch die Konturen des Fahrzeugs verwischen schon in der Dunkelheit. Langsam lasse ich meinen Blick über die gegenüberliegende Straßenseite streifen. Ein lang gezogener Friedhof, alt und mit einem großen Gusseisentor an seiner Spitze, erstreckt sich immer breiter werdend in der Dunkelheit. Die Mauer um ihn herum, aus massiven Steinblöcken zusammengesetzt und mit kleinen Metalldornen auf der Oberseite, ist fast vollständig mit abgestorbenen Efeuranken bedeckt. Zwei gesprayte Schriftzüge, die durch das dichte Gestrüpp hervorstechen, erregen meine
Aufmerksamkeit: "No Heros No Winners God false" und ein wenig darunter "Wir wollen nur deine Seele!" Beide Aussagen hallen noch dumpf in meinem Kopf wieder, als ich mich zu ihr umdrehe. Sie steht vollkommen regungslos da, betrachtet mit den großen Augen eines Kindes die Sterne.
- Hast du jemals versucht sie zu zählen?; lachend wirft sie ihren Kopf nach hinten, dann schaut sie mich strahlend an.
Eine große Haarlocke ist ihr über das linke Auge gefallen, bedeckt es vollkommen. Ich trete ganz dicht an sie heran, fühle ihren warmen Atem auf meiner Haut.
Ich möchte etwas zu ihr sagen, aber mir ist es unmöglich das Gewirr aus Gedanken in meinen Kopf in klare Worte zu fassen. Ein leises Lachen wird vom Wind verweht.
- Hab keine Angst; ihre Stimme ist jetzt plötzlich unglaublich fragil, fast gläsern.
Sanft streiche ich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie beugt sich nach vorn, haucht mir einen Kuss auf das linke Auge. Ich senke meinen Blick auf meine Army-Jacke, mit ihrem Anarchy-Zeichen und dem Konterfei von Che Guevara.
- Sieh mich an.
Ich blicke zu ihr hoch, verliere mich unversehens in ihrem Gesicht. Kleine Falten bedecken die Haut. Ihr graues Haar schimmert im Laternenlicht. Die rot geschminkten Lippen, mit den kleinen Grübchen an den Mundwinkeln, sind voller Anspannung aneinander gepresst; ihre Augen funkeln aufgeregt. Ich streichle ihr mit den Fingerkuppen sanft über das Gesicht.
- Du bist wunderschön.
- Danke; sie schaut verlegen fort.
- Ich möchte dir etwas zeigen. Ich habe mal wieder nicht schlafen können und bin draußen rumgestreunt; ich wühle in meinen Manteltaschen nach einem Joint, zünde ihn nach längerem Suchen an.
- Kannst du oft nicht schlafen?; sie nimmt ebenfalls einen Zug.
- Ja, aber ich hab' mich daran gewöhnt. Mein ganzer Tagesablauf ist drauf eingestellt. Alles hat sich verkehrt.
- Ich kann auch oft nicht mehr schlafen. Ich weiß nicht, aber früher war ich immer sehr müde wenn ich vom Singen in der Bar zurückkam, aber heute ist nur diese merkwürdige Unruhe geblieben ... Jedenfalls nehme ich jetzt wenn ich nicht schlafen kann ein langes Bad. Ich habe so eine große, alte Wanne und bevor ich dann ins heiße Wasser steige, rauche ich noch gemütlich einen Joint auf der Couch im Flur und stelle überall Kerzen auf. In der Wanne liege ich dann die meiste Zeit mit dem Kopf halb unter Wasser, so dass es die Ohren gerade so übersteigt und lausche meinem Herzschlag. Es ist einfach unbeschreiblich. Du musst es einmal versuchen. Aber entschuldige; sie lächelt; was wolltest du mir denn zeigen?
Ich sah sie das erste Mal im Waschsalon. Ich war vom Park hierher gekommen, um mich bei einem Kaffee aufzuwärmen und vielleicht jemanden zu finden, der mit mir eine Partie Schach spielte. Ich schaute mich ein wenig um. Der Waschsalon war fast leer, bloß ein paar alte Männer saßen laut diskutierend an einem der Tische zusammen, tranken Whisky und rauchten Zigarren.
Eine dichte, graue Wolke hatte sich unter der Decke zusammengeballt. Und da sah ich sie, zusammengekauert in einer Ecke blickte sie verträumt vor sich hin. Es kam mir vor, als müsste so alles Böse dieser Welt von ihr abprallen und nie wiederkehren. Ich setzte mich neben sie und bald waren wir in ein Gespräch vertieft, von dem ich allerdings nicht mehr weiß worum es ging.
Jedenfalls schien die Zeit wie im Flug zu vergehen.
Wir kommen an einem kleinen Off-Kino vorbei, das versteckt in einem Hinterhof liegt. Auf einem vergilbten Plakat an der Hausfront sehe ich, dass "Abenteuer in der Südsee" mit Frances Farmer hier wieder läuft. Ich notiere mir auf einem der vielen Papierfetzten in meiner Tasche die Spielzeiten des Films. Ich war schon ziemlich oft in diesem Kino. Am Abend laufen hier meistens alte Filme mit Originalton, weil diese billig einzukaufen sind. In der Spätvorstellung werden Pornofilme gezeigt, die den Fortbestand des Kinos sichern. Es kam so schon einmal vor, dass ich allein aus einen Film kam und dann auf die große Schlange von beschämt herumstehenden Männern traf, die in die nächste Vorstellung wollten.
In der Bahn Richtung Stadtrand sitzt mir ein süßer Junge mit sonnenbankbrauner Haut gegenüber. Er hat seinen Kopf nach hinten auf den Sitz gelegt und raucht sinnlich eine selbstgedrehte Zigarette nach der anderen, wobei er seine Zahnspange entblößt. Ich betrachte sein Spiegelbild im Fenster, er jedoch scheint es nicht zu bemerken oder er ignoriert mich einfach. Als er schließlich die Bahn an der vorletzten Station verlässt, dreht sich meine Begleiterin zu mir um.
- Er hat dir gefallen?; ich antworte ihr nicht, schaue bloß aus dem Fenster und hänge ein wenig meinen Träumen nach.
Es ist noch dunkel als wir an einem kleinen Hang oberhalb der Wohnsiedlung ankommen. Wir verharren im tiefen Schnee, schauen hinab ins Tal. Stille hat sich mit all ihrer erdrückenden Schwere über die identisch aussehenden Reihenhäuser gelegt. Die kleine, inmitten der Siedlung verlaufende Allee, mit ihrem Saum aus Bäumen und ihren wohl angeordneten Nebenstraßen ist völlig verwaist. Ich hole meinen Walkman aus der Tasche und lasse John Coltrane für uns laufen, dann zünde ich uns beiden eine filterlose Zigarette an.
Zusammen lauschen wir der Musik.
- Wie verbringst du eigentlich deine Zeit?; sie nimmt einen tiefen Zug von der Zigarette.
- Ich bin rastlos auf der Suche nach einem Ort, den ich Zuhause nennen kann und an dem ich Ruhe finde. Ich sehne mich wohl nach Menschen die auf Suche sind wie ich.
- Vielleicht bin ich auch auf der Suche. Vielleicht habe ich auch schon aufgegeben. Wenn ich nachts singe, scheint alles um mich herum in dichtem Dunst zu verblassen und ich erhebe mich mit meiner Stimme in mitten dieses Schleiers empor, doch tagsüber kann ich das "Draußen" nicht ertragen. Ich verstecke mich in meiner Wohnung, weil ich mich nicht dem Gefühl der Hilflosigkeit aussetzten möchte.
Wir verstummen und versinken wieder in der Musik.
Nach einer Weile füllt sich das wirre Gespinst aus Nebenstraßen und Gassen mit immer mehr Menschen. Die Frauen tragen fast ausnahmslos lange, pastellfarbene Wintermäntel und weiße Handschuhe. Ihre meist blondierten Haare sind streng und makellos frisiert. Die Männer tragen dunkelfarbige Trenchcoats. Sie haben pomadiges, strähnig zurückgekämmtes Haar. Mit beiden Händen umklammern sie fest ihre Aktentaschen. Sie alle gliedern sich in die lange, wohlgeordnete Reihe ein, welche sich auf der Hauptstraße gebildet hat.
Plötzlich zerschneidet lautes Lachen die herrschende Stille. Sofort suche ich die Menschenschlange nach der Quelle ab und entdecke einen Mann, der in der Masse inne gehalten hat und von den Menschen wie ein Stein in einem Flussbett umspült wird. Wieder ertönt das Lachen. Diesmal lachen auch wir.
- Es wird langsam Tag. Ich werde bald gehen müssen; sie schaut mich traurig an.
- Ja, die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Bald wird die Nacht nur noch in unserer Erinnerung weiterleben ...
- ... und da langsam verblassen.
Ich seufze leicht und der letzte Schnee fällt auf uns herab.
Wir verlassen gemeinsam den 24 Stunden-Waschsalon, der einen der besten Kaffeeautomaten der Stadt sein eigen nennt und zudem mit seinen zerschlissenen Ledersofas und Stehlampen vielmehr das Aussehen und den Charme eines übergroßen Wohnzimmers besitzt. Die Wände sind angenehm hell gestrichen, besitzen darüber hinaus noch ein rotes, auf mich sehr bizarr wirkendes Zickzackmuster, welches hier in diese Umgebung überhaupt nicht hinein passen will. Jedenfalls mag ich den Salon, insbesondere wohl deshalb, weil ich hier sehr oft jemanden auflesen kann, der ein Gespräch und eine Zigarette für mich übrig hat, auch wenn ich ohne Wäsche hierher gekommen bin. Manchmal schaut auch dieser alte Obdachlose mit seiner Mundharmonika hier vorbei. Ich bitte ihn dann immer diese Melodie aus "Spiel mir das Lied vom Tod" zu spielen; er lächelt jedoch bloß jedes Mal verlegen und spielt dann etwas anderes für mich.
Beim Hinausgehen aus dem Waschsalon tragen wir den Geruch von feucht-warmer Wäsche mit uns in die Dunkelheit. Plötzlich branden hinter uns laute Geräuschfetzen auf. Ich drehe mich um, starre durch die immer noch hin und her schwingende Eingangstür, auf den Fernsehapparat an der Wand. Der Moderator in der gerade laufenden Gameshow gestikuliert wild mit der ganzen Fülle seines Körpers; sein pomadiges Haar und sein weißer Anzug funkeln im Scheinwerferlicht.
- Ihre Zeit läuft ...; quiekt er schrill und atemlos in die Kamera, der Rest geht im Beifall des Publikums unter ...


»»» Kurzgeschichten Alltag «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««

Ein kunterbunter Blog-Mix
»»» Gedichte «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wisenblumen «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Vogelgedichte «««
»»» Liebesgedichte «««
»»» Lesebuch, Kurzgeschichten «««
»»» Lesebuch, Kurzgeschichten «««
»»» Lesebuch, Kurzgeschichten «««
»»» Lesebuch, Kurzgeschichten «««
»»» Lustige Gedichte «««
»»» Lustige Gedichte «««

»»» HOME PAGE «««