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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Der Abschied des Herrn Hannes Diesel

Von Anne Zegelman


Wenn die Falttüren sich mit einem gleichgültigen Leiern aufschoben, war es uns jedes Mal, als gähnte die schlechte Luft im Bus uns mitten ins Gesicht. Es roch nach altem Sitzbezug, Staub und vergammelten Pausenbroten. Sobald wir Schulkinder uns in die lange Schlange eingereiht und die erste Stiege hinein in den alten Autobus genommen hatten, sobald die müden Augen sich an das schummrige Morgenlicht gewöhnten, das in solch öffentlichen Verkehrsmitteln nur spärlich durch die zerkratzten Scheiben fiel, war Hannes Diesel die erste Person des Tages. Er saß da, zuverlässig wie ein Uhrwerk, jeden kalten Montag im Winter ebenso wie jeden heißen Freitagmorgen kurz vor den Sommerferien. Diesel sei ein Sozialist, hetzte mein Vater. Mir war das egal, denn der kleine, dicke Busfahrer war nett und lächelte jeden an, der ihm die zerknickte Schülerfahrkarte für dreißig Mark im Jahr unter die Nase hielt.
Niemand von uns machte sich je groß Gedanken über den braven Mann mit der blauen Fahreruniform und der dunklen Schiebermütze, die hoch oben auf seinem immer ein wenig rötlichem Kopf thronte. Hannes Diesel gehörte zum Schulalltag wie Käsebrot mit zu wenig Butter.
Doch eines Mittags hockte vorne links plötzlich auf dem Fahrersessel ein schlacksiger Vierzigjähriger mit schlechten Zähnen und fettigem Haar, das rechts und links und vor allem hinten aus seiner speckigen Fahrermütze hervor troff. Er stellte sich nicht vor und erklärte uns nicht, wo Hannes Diesel geblieben war, der uns im nebligen Morgengrauen desselben Tages noch zur Schule gefahren hatte. Erst fragten wir nicht, doch als uns auch am nächsten und übernächsten Tag der schlechte Atem des neuen Busfahrers hinter der Falttür entgegen kam, wunderten wir uns. Was war nur mit dem gutmütigen dicken Hans Diesel geschehen?
Zum ersten Mal sahen wir ihn genau eine Woche später. Luise und ich saßen schon im Bus und stritten uns um Kleinigkeiten, als sein dicker Bauch im karierten Hemd hinter dem Halteschild hervor lugte.
"Schau mal, das da ist doch der Diesel", sagte ich zu Luise.
Hannes Diesel rührte sich nicht. Er stand nur da, stand hinter dem Halteschild, das ihn kaum verdecken konnte, und war in seiner Privatkleidung kaum wiederzuerkennen. Nur ein kleiner, trauriger alter Mann mit seiner stählernen Thermoskanne in der Hand, die früher ebenso penibel ihren Platz in der Fahrerkabine im Schulbus gehabt hatte wie er selbst.
Von da an ging es jeden Tag so. Morgens sahen wir ihn nie, doch was seine nachmittäglichen Besuche anging war er genauso pünktlich, wie er es immer gewesen war.
Hannes Diesel war ein zuverlässiger Mensch.
Es tat uns Leid, ihn so nutzlos stehen zu sehen.
"Entschuldigen Sie", sagte Luise, die die Mutigere von uns beiden war, eines Tages zu dem neuen Busfahrer, "kommt Herr Hannes Diesel denn nicht wieder?"
"Ist ausgeschieden." Der Schlacksige spähte desinteressiert aus dem Fenster.
"Aber warum denn?", fragte ich entsetzt und vergaß, Luise das Reden zu überlassen.
"Aus Altersgründen."
Und Mittag für Mittag stand Diesel pünktlich hinter dem Haltestellenschild. Seine traurigen Augen waren nicht auszuhalten.
"Es muss", sinnierten wir, "etwas geschehen." Unsere Bequemlichkeit verbat uns jedoch, weiter darüber nachzudenken.
Bis Hannes Diesel eines Tages handelte.
Luise wischte sich gerade den Lippenstift ab, den ihre Eltern ihr verboten hatten, als der dicke Bauch und der Kopf mit dem schütteren Haar im vorderen Teil des Busses auftauchten.
Diesel keuchte. Ob aus Hitze oder Aufregung ist wohl nebensächlich, jedenfalls rang er nach Luft, als er sich an den Busfahrer wandte. Die Gespräche der Kinder verstummten.
"Entschuldigen Sie", sagte Hannes Diesel klar und laut. "Ich bin der Fahrer dieses Busses. Sie sitzen auf meinem Platz."
Ein Raunen ging durch die Schülermenge bis in die hinterste Reihe der kaugimmibeschmierten Sitze, als die Rivalen sich anstarrten.
"Ich glaube nicht -" kam der Neue nicht dazu, zu erwidern.
Diesel, der brave, tadellose, pünktliche, gesetzestreue und vor allem kleine Diesel packte den Schlacksigen an den Schultern, hob ihn Millimeter über den schmutzigen Teppichboden und drängte ihn den vordersten Sitz hinter der Fahrerkabine.
"Sie sitzen hier", wies er ihn freundlich, aber bestimmt an.
Selbst nahm er innerhalb der Plastikabsperrung Platz.
Die Falttür schloss sich. Luise und ich tauschten Blicke.
Schweigend fuhr Diesel, und in seinem Gesicht war keine Regung zu spüren, doch seine Hände umklammerten das Lenkrad wie einen letzten Rettungsanker. Die Stimmung im Bus war kaum zu beschreiben. Wir fieberten mit Diesel und bedachten den Gemaßregelten in der ersten Reihe mit höhnischen Blicken.
An jeder Haltestelle stiegen Menschen zu, die den alten Busfahrer erkannten und freundlich grüßten. Diesel erwiderte jeden Gruß mit einem Lächeln, wie einen Abschied.
Schließlich mussten auch wir aussteigen. Nachdem wir alle anderen vorgelassen hatten, drehten wir uns auf der letzten Busstiege noch einmal um.
Zufrieden lächelnd lehnte dieser seltsame kleine Mann in seinem Sessel und strich mit den Händen über das Lenkrad.
"Schön, dass Sie zurückgekommen sind", sagte Luise in seine Richtung, und dabei war ihr Hals ganz trocken und sie schluckte.
Einen Moment noch betrachtete Hannes Diesel uns schweigend. "Ich musste doch meine Runde beenden", gab er schließlich zurück.
Mit einem Schulterzucken sprangen wir auf den Asphalt und hörten noch, wie die Falttür sich leise schleifend hinter uns schloss.


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