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Schuhlos

Von Lothar Kowalke


Die Erwartungshaltung war hoch, als die zwei dunklen Limousinen auf das Institutsgelände von Iden bogen. Nicht nur bei den Wartenden, auch das Herz der Grand Lady der deutschen Politik schlug schneller. Paula Kraft- Rode war schon einmal in der Altmark gewesen. In den Sommersemestern Ende der 50-er Jahre, half sie, damals noch im Hemd der Freien Deutschen Jugend, Entwässerungsgräben auszuheben. Aber davon hatte weder der wartende Staatssekretär, noch der Landrat oder der Direktor des Instituts eine Ahnung. Wie es üblich ist, trat zuerst der Staatssekretär an das haltende Auto, verbeugte sich und sagte: "Es ist uns eine Ehre, Frau Ministerin, Sie und ihre Mitarbeiter in der Altmark begrüßen zu dürfen!" Er deutete an, ihre Hand zu küssen. Geschickt wich Paula Kraft- Rode zurück, und wandte sich Allen zu. Sie hob ihren Kopf und sagte mit lauter Stimme, so dass man sie auch in der letzten Reihe hörte: "Uns freut es sehr, in ihrem bezaubernden Örtchen sein zu dürfen. Wir wollen ihre Leistungen würdigen." Vielen schien es, als würde die Queen zu ihnen sprechen. Kühl und distanziert gab sich die 60-jährige Landwirtschaftsministerin. Nichts an ihr entsprach einer Landfrau, keine Pausbacken, kein Dirndl, keine folkloristische Frisur. Sie verkörperte den Glanz einer Aristokratin. Kein Hinweis mehr, dass ihr Vater und ihre Mutter Umsiedler waren, die auf einer LPG Fuß fassten und damit ermöglichten, dass es Paula Kraft- Rode über die Arbeiter- Bauern- Fakultät bis zu einer anerkannten Wissenschaftlerin der DDR brachte.
Trotz aller Routine solcher Visiten blieb an jenem Tag der Ministerin ein aufgekratztes Gefühl. Sie sah alles wie durch ein Zeitfenster. Vielleicht war ja ein Gesicht unter den Anwesenden, das sie vor fast 40 Jahren schon gesehen hatte?
Der Staatssekretär wich nicht von ihrer Seite. Für ihn war es die Gelegenheit, sich für seine politische Laufbahn in Position zu bringen, denn er wusste, welchen Stellenwert die Ministerin in der deutschen Politik genoss. Während man die Delegation zu den einzelnen Einrichtungen des Institutes führte, bot er der Ministerin seinen Arm an, was eine sehr ungeschickte Geste war, denn sie schaute nicht nur etwas pikiert, sondern verschränkte auch demonstrativ ihre Arme. Das war die Distanz der Mächtigen. Als die Delegation über das große Gelände fuhr, vorbei an fruchtbaren Weiden, an Zuchtställen und Wirtschaftsgebäuden, irritierte Paula Kraft- Rode etwas. Ein alter Arbeiter, in leicht gebückter Haltung, ging mit einem in sich gekehrten Lächeln vorüber, ohne dem wichtigen Besuch Beachtung zu schenken. Es war nicht das Introvertierte des Mannes, das Paula ablenkte. Es war auch nicht die Missachtung, die er ihr zollte. Frau Kraft- Rode drehte sich noch einmal zu dem Mann, was dem Landrat zu einem Einwurf nötigte: "Bitte entschuldigen Sie diese Person!" Und zu dem Institutsleiter gewandt: "Der gehört doch nicht zu Ihnen?" Doch der Institutsleiter, ein aufgeschossener Mittdreißiger, war überfragt. So wandte er sich an eine Zuchtmeisterin, die sich weiter hinten eingereiht hatte. Die Gefragte trafen vorwurfsvolle Blicke, denen sie mit entschuldigenden Worten entgegnete: "Das ist Einer aus dem ‚Geschützten Heim'. Die helfen schon seit Jahrzehnten aus. Sie sammeln die Steine von unseren Feldern." Paula Kraft- Rode war noch immer nicht klar, was sie so irritierte. Erst als der Institutsleiter seine Meisterin vorwurfsvoll fragte: "Frau Arndt, und warum trägt dieser Arbeiter keine Schuhe wie jeder normale Mensch?" Da wusste es Paula Kraft- Rode. Frau Arndt hob die Schultern und sagte mit einem Grinsen: "Sie wissen doch.....", sie wedelte mit der flachen Hand vor ihrer Stirn, "der läuft immer barfuß, auch bei minus 20° C, sonst wäre er ja nicht im Heim." Mit diesen Worten war keiner der Oberen zufrieden. Sie sahen, dass die plötzliche Missstimmung der Ministerin mit dem Barfüßigen zu tun hatte. Paula Kraft-Rohde war ganz blass geworden. Nur ihre eiserne Disziplin hielt sie aufrecht. Aber ihre Gedanken kollabierten. Es konnte nicht sein? Oder doch? Sie wollte mehr über den Mann wissen. Sie nahm, zur Verwunderung Aller, Frau Arndt beiseite und bat um ein Gespräch. Die Zuchtmeisterin verstand nicht, warum die elegant gekleidete Frau, ausgerechnet mehr von "so Einem" wissen wollte. "Bitte erzählen Sie, wer ist dieser Mann!"
"Da gibt es nichts zu erzählen. Er ist stumm." Schnell korrigierte sich Frau Arndt. Ihr war nicht entgangen, dass sich die Stirn der Gnädigen in Falten zog. "Stumm nicht. Ich meine, er redet nur, wenn er unbedingt muss. Da er aber nicht reden muss, ist er stumm. Wir nennen ihn den Araber, weil er so dunkel ist. Er ist ein komischer Kauz. Er liest zum Beispiel solch schwierigen Bücher wie die von Goethe, Schiller, Nietzsche und so, als wenn er das verstehen würde." Dabei konnte sie ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Als hätte Frau Arndt etwas Falsches gesagt, klang Paula Kraft- Rodes Stimme nun gereizt: "Sind Sie mit seiner Arbeit denn nicht zufrieden?"
"Doch sehr. Er trinkt nicht und tut alles, was man ihm aufträgt, immer mit einem Lächeln. Er ist der Beste von den Verrückten." Frau Arndt wollte sich nicht länger von solch einer Aufgedonnerten ausfragen lassen. Sie gab der Ministerin die Telefonnummer von Frau Suhr, die sich seit Jahren für die abgeschobenen Seelen aufopferte. Paula Kraft- Rode nahm dankend an. Plötzlich verweigerte sich ihr Körper. Sie hatte Angst. Alles in ihr drehte sich, als würde der Boden schwanken. "Bitte, verzeihen Sie mir! Ich habe einen Schwächeanfall. Kann ich mich für 10 Minuten zurückziehen?" Man begleitete sie in den Versammlungsraum, wo man sie alleine ließ. Ein unbeschuhter Mann hatte sie so aus der Fassung gebracht. Paula weigerte sich, eine Brücke zu ihrer Vergangenheit zu schlagen. Es lag zu lange zurück. Daran wollte sie nicht rühren. Es konnte auch nicht sein, dass es da einen Zusammenhang gab. Ein zartes Klopfen holte sie aus einem unaufhaltsamen Gedankenkarussell. Der Staatssekretär erkundigte sich vorsichtig, ob sie nicht doch Hilfe benötigte. Sie verneinte, gab sich gestärkt und fragte, ob sie telefonieren dürfe. Sie benachrichtigte Berlin, dass sie einen weiteren Tag in der Altmark verweilen würde. "Könnten Sie mir ein angemessenes Quartier in der Nähe empfehlen?" Der Staatssekretär sah seine Freizeit in Gefahr. Als könne Paula Gedanken lesen, fügte sie an: "Keineswegs steht meine kurzfristige Entscheidung in irgendeiner Weise mit meiner Arbeit im Zusammenhang. Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Der Mann vorhin hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Nun möchte ich gerne auf vergessenen Spuren wandeln. Spuren, die ich lang verschüttet glaubte. Ich war als Studentin zum Arbeitseinsatz in Ihrem Bundesland, nicht weit von hier. Damals war ich noch eine unbeschwerte junge Frau."
‚Warum erzähle ich ihm das?', wunderte sich Paula. Es war nicht ihre Art. Da es ihr aber gut tat, fuhr sie fort. "Es war eine schöne Zeit. Ich glaubte sie schon vergessen. Nun möchte ich gern noch einen Tag in diesen Gedanken verweilen. Das verstehen Sie doch?" Stolz, dass der hohe Besuch so Persönliches mit ihm beredete und froh, dass ihm seine Freizeit blieb, antwortete er erleichtert: "Durchaus. Ich kann Ihnen ein vorzügliches Hotel in Storkau, keine halbe Stunde von hier, empfehlen. Es liegt direkt an der Elbe." Frau Kraft- Rode schaute aus dem Fenster und grübelte, ob sie mit dem barfüßigen Mann reden sollte, um Gewissheit zu haben. Sie hörte nicht auf den Rat, sich in Storkau einzuquartieren, sondern nahm sich ein Zimmer in Tangermünde. Hier wollte sie in Ruhe nachdenken. Sie nahm den Mann ohne Schuhe als ein Zeichen und eine Chance, ihr Leben neu zu überdenken. Fragen drängten sich ihr auf: ‚Was ist der Mensch? Muss dieser Aufgaben erfüllen und wenn, welche? Wo liegt der Sinn im Leben?' Aber eine Frage übertönte alle: Was, wenn er das war? Hatte sie ihm das Herz gebrochen? Warum ging er diesen beschwerlichen Weg? War er so edel? In Paula entwickelte sich Wut. Hatte er immer Recht? Hatte er gewonnen? Sie, die Mächtige, Aufgedonnerte, er der Stille, der Weise. Paula begann sich zu hassen. Sie griff zum Hörer und meldete sich ohne Titel und Zweitnamen: "Frau Kraft hier." Die Stimme verlor ihre gewohnte Selbstsicherheit: "Entschuldigen Sie die späte Störung. Ich interessiere mich für die Bewohner des ‚Geschützten Heimes'. Darf ich Sie zum Essen einladen? Nein, es ist rein persönlich. Ich würde Sie abholen und Sie auch wieder nach Hause bringen." Weil alles zu überraschend für Frau Suhr kam und sie lange nicht beim Friseur war, bat sie die Fremde zu sich.
Eine untersetzte Frau mit einem freundlich offenem Gesicht, vielleicht noch ein wenig älter als die Ministerin, bat ihren Besuch in die Wohnstube. Sofort kam Paula zum Punkt. "Können Sie mir sagen, wie der Mann, den man den Araber nennt, mit bürgerlichem Namen heißt?" Noch beim Sprechen der Worte verengte sich ihr Herz so, dass sie sich gegen ihr Vorhaben und ohne Aufforderung in den vor ihr stehenden Fernsehsessel setzte. Diese Erregung blieb der Gastgeberin nicht verborgen. Auch sie setzte sich. Ein warmes Lächeln säumte ihren Mund. "Der Araber.... So viel ich weiß, hat er keinen Menschen in der Welt da draußen." Es war wohl mehr ein Zufall, dass dabei ihre Hand zum Fernseher wies. Stille tat sich auf. Frau Kraft- Rode wusste, dass sie sich erklären musste. "Als ich ihn heute sah, glaubte ich, meine einstige große Liebe in ihm erkannt zu haben." Sie erschrak über ihre eigene Ehrlichkeit. Röte überzog ihr Gesicht. Das war der Schlüssel, nun gab Frau Suhr einfach so den Namen preis: "Kim Bender." Beide Frauen starrten sich an. Worte waren nicht nötig. Es war Kim Bender, der einst das Herz der Ministerin erweichte. Der einzige Mann in ihrem Leben, der dies schaffte. Die Blicke der Frauen ruhten eine Weile ineinander. Sie verstanden sich ohne Worte. "Und jetzt?", fragte Frau Suhr nach einer Weile gespannt. Nur ein schweres Atmen gab die Antwort. "Erzählen Sie, warum trennten Sie sich?"
"Wir waren zu verschieden. Er lebte in den Tag. Ich hatte große Ziele." Paula schluckte. "Er war so lieb, ganz weich, kein lautes Wort. Nur Träume, die jenseits aller Realität lagen." Ihre Augen überzogen sich mit einem leichten Film. "Ich tat das, womit mein Herz nicht einverstanden war und ich wusste, dass ich seines damit brechen würde. Meine beruflichen Ziele waren mir wichtiger." Paula schluckte, steckte sich eine Zigarette an, blies den Qualm so aus sich heraus, als wollte sie etwas wegwischen. Dann flog ein Lächeln über ihr Gesicht. "Er lief damals schon gern ohne Schuhe."
"Als Kim hier ankam, war er unglücklich. Wir wissen nicht, was der eigentliche Grund seiner Einweisung war. Alkohol? Aber, wer trinkt nicht? Das mit den Schuhen war es! Die DDR sah sich von seinem Verhalten angegriffen." Paula nahm zwar die Worte auf, spann aber ihre eigenen Gedankenbilder weiter, an denen sie Frau Suhr teilnehmen ließ: "Kim war kein Jahr alt, als seine Mutter Nazi- Deutschland verließ. Sie ging mit ihm nach Australien, wo sie ihn alleine aufzog. Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren, nach dem Krieg, kam er in seine Heimat, zurück. Es war eine ihm fremde, neue Welt. Seine Mutter erkrankte nach ihrer Heimkehr schwer und verstarb wenig später. Kim schloss trotz alledem das Abitur mit guten Noten ab und begann ein Philosophie- Studium." Es ist schon verrückt, dachte Frau Suhr, hier auf dem Lande nennt man einen Australier Araber, der aber Deutscher ist. Unvermittelt sagte sie: "Jetzt hat er seinen Frieden gefunden. Heute könnte er wie jeder Mensch draußen leben. Zum Glück stört sich ja die jetzige Regierung nicht daran, dass er keine Schuhe trägt." Paula schien es, als wollte Frau Suhr ihr einen Wink geben. "Sie meinen, ich sollte mit ihm reden?" Frau Suhr wog den Kopf, verzog die Mundwinkel und drehte ihren Körper zum Fenster, als suche sie die Antwort in der Weite. "Nun, das können nur Sie einschätzen. Seien Sie sich bewusst, jetzt hat er sein Gleichgewicht! Wer weiß schon, wann ein Mensch es verliert?" In Paula verstärkte sich das Gefühl, das sich schon seit dem Mittag anbahnte. Sie fühlte sich schuldig. "Ich habe dazu beigetragen, dass er hier Steine sammelt, dass er ein Dasein weit unter seinen Möglichkeiten führt." Frau Suhr streckte ihren Körper, sie konnte dem nicht zustimmen. "Tut er das?"
"Wie meinen Sie?"
"Na ja, wer sagt, dass seine Lebensform nicht die einzig Richtige ist?" Diese Frage musste kommen. Wer war der Glücklichere? Doch dieser Gedanke half ihr nicht bei der Entscheidung, ob sie ihn treffen sollte oder nicht. Sie schaute sich im Zimmer um. Frau Suhr schien fromm zu sein. Ein mit rotem Zwirn bestickter Spruch auf weißem Leinen forderte: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" Diese Weisheit nahm sie mit in ihr Hotelzimmer. Sie blieb die ganze Nacht in ihr.
Kaum geschlafen, aber hellwach wie lange nicht, betrachtete sich Paula im Spiegel. Sie fand sich jünger als sonst. Ihre Gefühle hatten sich ganz ihrer Person bemächtigt. Schuhlos brachte einen Briefe zur Post. Darin bat sie, von all ihren Ämtern entbunden zu werden.




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