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Kommunikation: Was ist das?
Von Christine Krell
Der Count-Down läuft.
Noch 20 Minuten und 13 Sekunden bis zum Feierabend.
"Piep, piep, piep...", ist die Geräuschkulisse, die mich umgibt, während ich unermüdlich die Waren über den Scanner der Kasse ziehe. "32,93 Euro macht das dann", sage ich zum Kunden. Kleingeld klimpert. Der Kunde sucht Cent-Stück für Cent-Stück einzeln aus seinem Portmonee. "Sie wollen doch bestimmt was Kleines haben, oder?", fragt mich der alte Herr währenddessen.
"Natürlich, immer doch!", antworte ich. Warum sollte ich mich auch nicht freuen, das Vorrecht haben zu dürfen 93 Cent in 1- und 2-Cent-Münzen zu zählen"! Die Schlange wird länger und länger. Die Zeit scheint still zu stehen. Ein Tag vor Feiertag. Deutschland verhungert. So scheint es mir zumindest. Warum müssen aber auch alle Leute noch unbedingt heute einkaufen gehen" Natürlich, wie konnte ich es vergessen, es macht Spaß die Kassiererinnen zu drangsalieren, also solche wie mich.
Noch 17 Minuten und 31 Sekunden bis zum Feierabend.
Der nächste Kunde. "Dafür, dass Sie schon so viele Stunden hier sitzen, sehen Sie aber noch gut aus!" "Oh, danke, ich fühle mich geehrt.", ist meine Antwort. Die neue Creme, das Immer-gut-aussehen-Wunder, hält also was sie verspricht. Gut zu wissen. "Auf Wiedersehen. Einen schönen Tag noch."
"Danke, Ihnen auch", könnte man ja antworten. Aber nein. Wozu auch?
Noch 14 Minuten und 3 Sekunden bis zum Feierabend.
Endlich: ein bekanntes Gesicht! Ein Student. "Was, du hie?r", fragt er mich erstaunt. "Tja, von irgendwoher muss die Kohle ja kommen. Das Studium finanziert sich ja nicht von alleine!" Ich scanne, wiege sein Gemüse ab.
Drücke die "Summe"-Taste. "4,90 Euro". Er reicht mir einen 5-Euro-Schein.
Noch einen kleinen Schein mehr in der Kasse. Ganz toll. Das 5-Euro-Schein-Fach quillt jetzt schon über. "Na dann, viel Spaß noch heute!", klatscht er mir zum Abschied an den Kopf. "Ja, danke, den werde ich haben", erwidere ich etwas zu fröhlich. Witzbold, was Besseres fiel ihm wohl nicht ein, oder?
Noch 8 Minuten und 11 Sekunden bis zum Feierabend.
Du stirbst früher als du willst. Der fett gedruckte Schriftzug guckt mich doof an. Ich schaue hoch. Och ne, nicht schon wieder der Obdachlose. War ja klar! Wie immer: drei Flaschen Whiskey und zig Packungen Zigaretten. Die billigen natürlich, was man da so "billig" nennt. Das letzte Mal streichelte er mir mit seinen dreckigen Händen über die Haare. Ich hätte mich sofort dagegen wehren müssen. Das darf und das muss ich mir nicht bieten lassen!
Egal. Vorbei. Und immer schön lächeln. Ne, eher gute Miene zum bösen Spiel machen. Betont langsam erkläre ich ihm: "43,69 Euro sind's dann." Gelbe, rissige Hände mit schwarzen Fingernägeln reichen mir einen 20 Euro-Schein.
"Danke, aber das reicht noch nicht", sage ich ihm. "Ach so, ja natürlich", ist die Antwort und wie in Zeitlupe kommen die restlichen, völlig zerknautschten Scheine zum Vorschein. Seine Hände zittern. Bei dem einen sinkt der Blutdruck, bei dem anderen der Alkoholpegel. Hm, was ist wohl lebensgefährlicher? "Hallo"!" Ich schrecke aus meinen Gedanken auf. "Den Bon will ich noch!". "Entschuldigen Sie bitte. Ich habe wohl gerade etwas geträumt", erkläre ich überrascht,
reiße den Kassenbon vom Drucker ab und drücke ihm das Zettelchen in die Hand. Sonst will er den doch nie haben!
Noch 6 Minuten und eine Sekunde bis zum Feierabend.
Die Schublade der Kasse zumachen. Das Trennstäbchen wegnehmen und wieder mit Schwung in die Schiene schieben. Hochschauen, freundlich lächeln. Was sehe ich? Runzeln, tiefe Furchen - eine ältere Dame. "Na ja, is nischt, wenn man alt wird, wa?", hätte ich am liebsten zur Begrüßung gesagt. Statt dessen: "Einen schönen guten Abend." "N"abend", sagt sie. Oha, da erreichen ja tatsächlich ein paar Schallwellen meine Ohren. Eine Rarität! Na dann, wollen wir mal: Erdbeer-Konfitüre ...
piep ... Butter ... piep ... Toastbrot ... piep ... zwei Joghurts ... piep, piep ... Diabetiker-Schokolade ... piep ... drei Packungen Orangensaft (der gute von Granini) ... piep, piep, piep ... Mehl ... piep. Und schon ist das nächste Trennstäbchen auf dem Laufband. "Summe" drücken. "10,72 Euro" zeigt das Kassen-Display an. "Ich hab's leider nicht kleiner.", kommt es aus dem rosa übermalten Mund der alten Dame und reicht mir einen 100-Euro-Schein. "Kein Problem, habe ja genügend
Geld in der Kasse", erkläre ich, nachdem ich den Schein mit Trick 17 auf seine Echtheit überprüft habe, und gebe ihr einen 50-, einen 20-, einen 10-Euro-Schein und das Restgeld in Silber- und Kupferstücken raus. "Vielen Dank", säuselt sie zuckersüß und schiebt ihren Einkaufswagen aus meinem Blickfeld.
Noch 4 Minuten und 34 Sekunden bis zum Feierabend.
"Mama, ich will aber ein Überraschungs-Ei haben", quakt eine kleine blonde Göre. "Luisa. Ich habe dir schon sechs Mal gesagt, dass ..." Man, ich kann das schon nicht mehr hören! Dass die Eltern aber auch nicht wenigstens ein Mal ein Machtwort sprechen. "Ach Luisa, jetzt lass mich mal die Sachen auf's Band packen", höre ich die entnervte Mutter sagen. Broccoli, Mango, Öko-Avocado, 7 Bananen (was für eine Affenbande will sie denn damit füttern?), Bauer-Joghurts en masse, Vollkorn-Brot,
Müsli, Milch, eine Packung Kürbiskerne und, ganz am Ende des Bandes, -- natürlich -- ein Überraschungs-Ei! Die Eltern heutzutage haben aber auch kein Durchsetzungsvermögen mehr. Traurig, traurig. Na ja, aber dem Umsatz, auch wenn es nur ein paar Cent sind, kommt es zu Gute. "Kann ich bei Ihnen auch mit Karte zahlen" "Aber selbstverständlich!" Der Drucker spuckt unter lautem Getöse einen EC-Beleg aus. Ich reiche ihn der Frau für ein Autogramm.
"Der Kuli schreibt nicht richtig." "Doch, Sie müssen nur richtig aufdrücken", entgegne ich freundlich, aber bestimmt. Typisch Frau, nicht mal mit einem Kuli kann sie richtig umgehen. Dabei ist das noch nicht gerade Hightech, oder doch?
Noch 2 Minuten und 45 Sekunden bis zum Feierabend.
Ein Mann mittleren Alters mit stahlblauen Augen lächelt mich an. Ich strahle zurück. Ein Boss-Anzug, das sehe ich auf den ersten Blick. Ledertasche, aber kein Pilotenkoffer. Schicke Schuhe und volles Haar hat er. Das sehe ich im Spiegel, der über dem Kopf des Kunden hängt. Und er hat strahlend weiße Zähne. Hm, ob er da wohl ein klein wenig nachgeholfen hat? Zum Beispiel mit den "Intensiv-Zahnweiß-Streifen" von Odol-med3? Und was kauft er ein? Zwei Flaschen Bier (dunkles Bier, mein Lieblings-Bier), Bresso,
eine Packung Spaghetti und eine Packung Tampons. So'n Pech. Kein Single. Na ja, hätt' ja sein können. Auch er zahlt mit Karte. Ein aufrichtiges "Schönes Wochenende" schenke ich ihm zum Abschied. Wenige Sekunden danach ist er verschwunden.
FEIERABEND, Geld in der Kasse zählen, Sachen packen, nach Hause gehen und sich fragen: "War das heute alles an Kommunikation?"
Einen schönen Abend noch!