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Schattenleben
Von Britta Dubber
Aimée sah in den Spiegel und erkannte sich kaum. Dunkle Augenringe zeichneten sich unter den glanzlosen grünen Augen ab, die vom vielen Weinen so gerötet waren wie bei einer Bindehautentzündung. Ihr Teint war blass, hatte einen leichten Grauschimmer, die vollen Lippen waren spröde und aufgerissen.
Mit zittrigen Fingern fuhr sie sich durch das leuchtend rote Haar. Das Einzige was ihr noch den Hauch von Lebendigkeit verlieh.
Ihre kleinen Locken kräuselten sich um ihr schmales Gesicht, eine Haarsträhne hatte sich in ihrem rechten Ohrring verfangen und sie versuchte sie zu entwirren.
Im Hintergrund tönte "Bring me back to life" aus dem Radio. "Wie passend", dachte sie und sang eine Strophe mit. "Bid my blood to run, before I come undone, save me from the nothing I've become."
Der Song wurde vom Verkehrsfunk unterbrochen und sie ging zum Nachttisch und schaltete das Radio ganz aus.
Einen Moment verspürte sie Unentschlossenheit. Sollte sie sich wieder ins Bett legen oder sollte sie nach unten gehen und Kaffe kochen?
Sie entschied sich für letzteres, zog sich ihren Morgenmantel über und ging die Treppe runter in die Küche.
Als sie die Schränke nach Filtertüten durchsuchte, bereute sie es, sich nicht wieder ins Bett gelegt zu haben.
In der Küche war es kalt, sie hatte vergessen, das Fenster über Nacht zu schließen und da sie weder Socken noch Hausschuhe anhatte, konnte sie abwechselnd nur auf einem Bein stehen, um den anderen Fuß mit kreisenden Bewegungen vor Erfrierungen zu schützen.
Als sie endlich eine Filtertüte gefunden hatte, stellte sie fest, dass ihr der Kaffee ausgegangen war und so ging sie schließlich wieder nach oben ins Schlafzimmer. Wann war sie das letzte Mal einkaufen gewesen? Vor einer Woche, einem Monat? Sie wusste es nicht mehr. Tage und Wochen hatte ihre Bedeutung verloren. Für Aimée war die Zeit stehen geblieben.
Sie setzte sich auf das Doppelbett und wickelte ihre Füße mit der geblümten Wolldecke ein, die am Fußende lag, dann krabbelte sie unter ihre Biberbettwäsche und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Eigentlich hätte sie ein Bad nehmen können, aber dazu konnte sie sich nicht aufraffen. Sie schloss die Augen und überlegte, was sie davon abhielt nicht einfach den ganzen Tag im Bett liegen zu bleiben.
"Mama, bist du auf?"
Die Stimme ihrer fünfjährigen Tochter Kia ließ sie zusammenzucken.
"Ja, ich bin schon lange auf, mein Sonnenschein", hörte sie ihre eigene Stimme fröhlich sagen, obwohl sie gar nicht die Lippen bewegt hatte.
"Machen wir heute Kekse? Bitte, bitte!"
Kias Lachen erfüllte den abgedunkelten Raum wie Sonnenstrahlen, die durchs Fenster eindrangen.
Als Aimée die Augen öffnete, war ihre Tochter verschwunden, aber ihr Lachen tönte noch eine ganze Weile in ihren Ohren nach, ließ das Zimmer beinahe wie früher wirken.
Traurig wandte sie den Kopf zur Seite und betrachtet im schummrigen Licht das Foto ihrer Tochter, das eingerahmt auf dem Nachttisch stand. Sie brauchte das Licht nicht anzuknipsen, auch im Halbdunkel sah sie das Gesicht von Kia deutlich vor sich, ihre strahlend grünen Augen mit den langen Wimpern, das ansteckende Lachen und die wilde rote Mähne; all das hatte sich in Aimées Gedächtnis gebrannt.
Während sie mit dem Zeigefinger über das Foto strich, lief eine einzelne Träne über Aimées Wange. Seit ihr Ex-Mann Kia vor vier Monaten entführt hatte, hatte sie viele Tränen vergossen.
Auch wenn sie oft dachte, dass sie keine Kraft mehr zum Weinen hatte, so waren ihre Tränen nie versiegt.
"Wie viel Tränen kann ein Mensch in seinem Leben überhaupt vergießen?", dachte sie und begann leise zu singen: "Bid my blood to run, before I come undone, save me from the nothing I've become."