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Kurzgeschichte Afrika Kurzgeschichten
Erzähl mir was von Afrika. Band 1. Dr. Ronald Henss Verlag   ISBN 3-9809336-2-8  ca. 150 Seiten   8,90 Euro.

Die Heimat der San

©  Andrea Spakowski


Tobey setzte den alten Geländewagen mit einem heftigen Ruck in Bewegung und fuhr los. In gemäßigtem Tempo durchquerten wir die regenarmen Landstriche Namibias, während sich die späte Nachmittagssonne allmählich dem Horizont näherte und uns dabei mit ihren warmen Strahlen verwöhnte. Tobey saß schweigend hinter dem Steuer und tat so, als müsse er sich voll und ganz auf das Fahren konzentrieren, um nur ja nicht vom rechten Weg abzukommen. Dabei war diese Gegend bereits von frühster Kindheit an sein Zuhause, seine Heimat. Niemand kannte sich hier besser aus als er. Doch Tobey sah das völlig anders. Für ihn war diese Gegend weder sein Zuhause noch seine Heimat. Stattdessen bezeichnete er sie lediglich als vorübergehenden 'Aufenthaltsort', den er eines Tages wieder verlassen würde. Mir schien das damals mehr als unlogisch. Immerhin war hier geboren worden und zur Schule gegangen. Zudem hatte Tobey hier viele Freunde, der Kontakt zu seinen Eltern und Brüdern war sehr eng und einen gut bezahlten Job gab es ebenfalls in seinem Leben. Nie hatte er woanders gelebt und er würde es meiner Meinung nach sicher auch nie wollen. Daher verstand ich einfach nicht, warum dies nicht sein Zuhause, seine Heimat war. "Um einen anderen Menschen wirklich zu verstehen, reicht es nun mal nicht aus, dieselbe Sprache zu sprechen. Man muss seine Kultur und die Geschichte seiner wahren Herkunft und seines Volkes kennen. Dann erst kann man ihn wirklich verstehen!" war stets Tobeys Antwort gewesen, wenn ich ihn mit meinem Unverständnis konfrontiert hatte.
Lange Zeit hatte er mich immer wieder mit diesen Worten abgespeist. Bis ich ihn schließlich eines abends, als ihm erneut der Begriff 'Aufenthaltsort' über die Lippen gekommen war, zu einer Entscheidung gedrängt hatte. "Wenn du das wirklich so siehst, dann zeig mir doch mal dein richtiges Zuhause. Lass mich deine Heimat sehen und deine wahre Herkunft kennen lernen, damit ich dich endlich verstehe!" Mein heftiger Gefühlsausbruch war nicht ohne Folgen geblieben. Tobey, der zunächst tief betroffen geschwiegen hatte, war schließlich ganz langsam aufgestanden und zur Tür gegangen. "Wenn du wirklich bereit bist zu verstehen, dann hole ich dich morgen Nachmittag ab.
Ich werde dir mein Zuhause zeigen. Meine Heimat aber muss noch lange warten.
Sowohl auf mich als auch auf dich!" Mit diesen mehr als rätselhaften Worten hatte er mich schließlich allein gelassen. Doch das störte mich nicht weiter. Immerhin war Tobey endlich bereit, mich nicht länger im Ungewissen zu lassen. Und so fuhren wir nun dem Ort entgegen, den Tobey zumindest als sein Zuhause, wenn auch nicht als seine Heimat bezeichnen konnte. Obwohl die Fahrt nicht viel mehr als eine knappe Stunde dauerte, kam mir die Zeit doch wesentlich länger vor. Tobey sprach die ganze Zeit über nicht ein einziges Wort und so zog ich es vor, meinen Blick auf die herrlichen Landschaft zu richten. Vor meinen Augen erstreckte sich eine schier unendliche Weite, die selbst am fernen Horizont kein Ende nehmen wollte. Hin und wieder tauchten einzelne Dornenbäume und Aloesträucher auf der kargen und sandigen Ebene auf und wechselten sich mit dürren Graslandschaften ab, während wir uns immer mehr dem Nationalpark im Südwesten der Kalahari-Wüste näherten. Zärtlich strich ein leichter Wind über den sandigen Boden und wirbelten dabei kleine Staubwolken auf, die wie rauchige Nebelschwaden emporstiegen und sich nach und nach wieder in der trockenen Luft verloren. Aus der Ferne konnte ich alsbald die ersten Anzeichen einer kleinen Siedlung erkennen, die sich zwischen den rötlichen Sanddünen der Kalahari befand. Tobey hielt den Wagen an und erklärte: "Wir sollten die restlichen Meter besser zu Fuß gehen. Die San mögen es nicht, wenn jemand ihre Siedlung mit einem Auto belagert." Ich nickte bedächtig, konnte mich aber einer neugierigen Frage nicht erwehren.
"Auch dann nicht, wenn es einer aus ihren eigenen Reihen ist?" Tobey schüttelte den Kopf. "Dann erst recht nicht!" Schweigend gingen wir hinüber zu der Siedlung, die lediglich aus ein paar einfach Reisighütten bestand.
Einige der Bewohner saßen nah beieinander vor den Behausungen und unterhielten sich angeregt in ihrer einzigartigen Sprache. Tobey lächelte zaghaft, als die zahlreichen Klick- und Schnalzlaute dieser mehr als ungewöhnlichen Sprache zu uns herüberdrangen. Wahrscheinlich dachte er in diesem Moment daran, wie er einmal versucht hatte, mir ein paar Begriffe seiner Muttersprache beizubringen. Doch obwohl sich dabei sowohl Lehrer als auch Schülerin die größte Mühe gegeben hatten, war ich durch den unsachgemäßen Gebrauch meiner Zunge kläglich gescheitert. Wir hatten die Siedlung noch nicht ganz erreicht, als sich die ersten Bewohner bereits erhoben, um Tobey freudig zu begrüßen. Lachend umarmten sie ihn und redeten dabei minutenlang auf ihn ein, nicht jedoch ohne mich dabei ebenfalls in ihre freundschaftliche Begrüßung mit einzubeziehen. Da ich nicht ein Wort von dem verstand, was sie sagten, erwiderte ich ihre fremdartigen Begrüßungsfloskeln mit einem schüchternen Lächeln und einem gelegentlichen Kopfnicken, in der Hoffnung, bloß nichts falsch zu machen. Ich wollte diese Menschen auf keinen Fall kränken, zumal sie mir sehr gastfreundlich erschienen und ich Tobey als Angehörigen ihres Volkes nicht in Verlegenheit bringen wollte. Mit sanftem Druck schoben sie uns hinüber zu ihren Reisighütten und deuteten uns mit einer einladenden Geste, sich zu ihnen zu setzen. Tobey sprach eine Weile mit ihnen in der für mich so ungewohnten Sprache und wechselte schließlich in das für meine Ohren weitaus verständlichere Afrikaans über. In wenigen Worten stellte er mich seinen Leuten vor, nannte jedoch nicht den Grund für unser Besuch. Statt dessen wandte er sich an eine alte Frau, die neben ihm saß, und fragte sie etwas in seiner Sprache. Lächelnd nickte diese mit dem Kopf und drückte vorsichtig seine Hand, ehe ihr Blick zu mir hinüber glitt. Meine Verunsicherung wuchs mit jeder Sekunde, die verging. Ich fragte mich, ob es tatsächlich richtig von mir gewesen war, hierher zu kommen. Doch noch bevor ich eine Antwort darauf wusste, stand die alte Frau auch schon auf und wies mich an, mit ihr zu kommen. Ich warf Tobey einen hilflosen Blick zu, den er aber gleichmütig ignorierte. Also kam ich der Aufforderung nach und folgte der alten Frau in eine der kleinen Reisighütten. Zu meinem Erstaunen wirkte die einfache Behausung von innen weitaus größer, als ich gedacht hatte, und bot ausreichend Platz für vier bis fünf Personen. Auf dem Boden saß ein hagerer Mann, der nicht viel älter als die Frau neben mir war und zeigte einem kleinen Jungen, wie man eine Pfeilspitze anfertigte. Die alte Frau schickte den Jungen mit einer flüchtigen Handbewegung nach draußen und setzte sich mit mir zu dem Mann. In wenigen Worten erklärte sie ihm, warum wir zu ihm gekommen waren. Dann drückte sie vorsichtig meine Hand, so wie sie es eben noch draußen bei Tobey getan hatte, und schloss die Augen. Der alte Mann legte die Pfeilspitze beiseite und sah mich aus dunklen, schon etwas getrübt wirkenden Augen an. Minutenlang fixierte er mich mit eisernem Blick, so als wollte er jeden einzelnen Gedanken in mir ergründen, und begann schließlich mir mit heiserer Stimme von der Heimat und der Geschichte seines Volkes zu erzählen: "Vor vielen tausend Jahren waren die San einst die ersten Menschen gewesen, die sich im südlichen Afrika angesiedelten hatten. Als Jäger- und Sammlervolk zogen wir in kleinen Gruppen durch das Land und führten ein einfaches aber glückliches Leben. Im Laufe der Zeit jedoch wurden wir von anderen Völkern in immer unwirtlichere Gegenden vertrieben, bis uns schließlich nur noch die unendliche Weite der Kalahari-Wüste blieb. Aber wir arrangierten uns mit dem Leben in der kargen Wüstenlandschaft und lernten diese bald schon als unsere Heimat schätzen. Obwohl uns die spärliche Vegetation und die wenigen Jagdtiere nicht unbedingt viel zum Leben bieten konnten, waren wir dennoch in der Lage unserem Volk ein einfaches aber glückliches Fortbestehen zu ermöglichen. Mit Beginn der Kolonialisierung durch europäische Einwanderer fand diese unbeschwerte Zeit jedoch sehr bald ein jähes Ende. Wir, die Buschmänner, wie uns die Weißen fortan titulierten, sahen uns einem grausamen Vernichtungsfeldzug gegenüber, dem wir uns nicht im Geringsten erwehren konnten. Getötet, vertrieben oder versklavt nahm unser bisheriges Leben eine grausame Wende. Die kleinen Siedlungen, die einst unser Zuhause gewesen waren, wurden skrupellos vernichtet. Die Kalahari, die wir als unsere Heimat angenommen hatten, sollte uns nicht länger gehören. Stattdessen wurden wir als billige Arbeitskräfte auf den Farmen der weißen Kolonisten eingesetzt und waren gezwungen, unser traditionelles Leben aufzugeben. Unser Zuhause war zerstört, und unsere Heimat, die Kalahari-Wüste, wurde den irrsinnigen Wünschen der weißen Kolonisten entsprechend angepasst. Ein Nationalpark zum Schutz der Flora und Fauna erschien den Besatzern wichtiger als die Erhaltung der traditionellen Lebensweise eines einfachen Volkes. Für die wenigen San, die es noch gab, war dort kein Platz. Wer hätte auch die bedrohte Tier- und Pflanzenwelt vor der Jagd- und Sammelleidenschaft der San beschützen sollen? Erst vor wenigen Jahren trat eine kleine aber dennoch bedeutsame Veränderung für uns, die gedemütigten Ureinwohner des südlichen Afrikas, ein. Die Regierung gewährte unserem Volk einen kleinen Anteil am Kalahari-Nationalpark, um unsere frühere Lebensweise dort wieder aufnehmen zu können." Der alte Mann unterbrach seine Erzählung für einen Moment und sah mich mit traurigen Augen an. "Wie kann man jemandem etwas zurückgeben, dass ihm doch schon immer gehört hat?" fragte er mich voller Unverständnis. Doch ich wusste keine Antwort darauf. Vermutlich würde wohl nie jemand eine Antwort darauf wissen.
Nachdenklich durchwühlte er mit der Hand den staubigen Boden und setzte seine Erzählung fort. "Einige Leute aus unserem Volk haben ihre traditionelle Lebensweise tatsächlich wieder aufgenommen, wie du siehst. Wir haben in den uns zuerkannten Gebieten neue Siedlungen gebaut, und haben nun endlich wieder ein Zuhause. Wir müssen uns nicht mehr als Farmarbeiter ausbeuten lassen, sondern können unser Leben auf alt hergebrachte Art und Weise bestreiten, wenn auch mit Einschränkungen. Unsere Heimat aber, die Kalahari-Wüste, werden wir erst wieder als Heimat bezeichnen können, wenn sie uns wieder ganz gehört. Was ist schon ein kleiner Teil der Heimat, wenn die wahre Heimat doch zig mal größer ist?" Mit diesen Worten beendet er seine Erzählung und sah mir noch einmal unverwandt in die Augen. "Ich weiß nicht, ob es in deiner Sprache ein Wort gibt, dass einen kleinen Teil der Heimat bezeichnet. In unserer Sprache gibt es das jedenfalls nicht. In unserer Sprache bezieht sich das Wort 'Heimat' nur auf ein Ganzes, nicht aber auf einen winzigen Bruchteil!" Nachdenklich nickte ich mit dem Kopf und würgte den unangenehmen Kloß in meiner Kehle hilflos hinunter. Ich wollte dem alten Mann sagen, dass es auch in meiner Sprache kein Wort dafür gab, brachte aber nicht mehr als ein verlegenes Räuspern heraus. Langsam erhob sich die alte Frau neben mir und geleitete mich mit sanftem Druck aus der Hütte. Tobey saß noch immer bei den anderen Leuten aus seinem Volk und redete eifrig mit ihnen in seiner Muttersprache. Als er uns kommen sah, stand er auf und lächelte mir freundlich zu. Liebevoll umarmte er die alte Frau, um sich von ihr zu verabschieden und trat mit mir den Weg zu dem abseits geparkten Auto an. Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, so dass er die vielen Tränen, die mir über die rot glühenden Wangen liefen, nicht sehen konnte. Doch Tobey spürte, wie sehr mir das neu erlangte Wissen über sein Zuhause und seine Heimat zusetzte. Tröstend legte er mir den Arm um die Schulter und zitierte mit ruhiger Stimme ein altes Sprichwort der
San: "Du kommst und du gehst. Doch wenn du wiederkommst, so wirst du bleiben!" Dann drehet er sich um und sah noch einmal zurück auf die kleine Siedlung, die in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen war. "Wir werden bleiben! Wir werden unser Zuhause niemals mehr aufgeben!" flüsterte er leise, während ich mir in diesem Moment nichts mehr wünschte, als das er Recht behalten mochte.




Eingereicht am 30. November 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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