Gatachebu Atsbeha
© Petra Kramp
Gatachebu Atsbeha Alemayou konnte sein Glück nicht fassen. War ein Wunder geschehen?
Nun war er schon seit über fünf Jahren im katholisch geführten Waisenhaus in Äthiopien in Wukro, einem klitzekleinen Dorf am Rande der Wüste, und man hatte ihm gesagt, seine Eltern seien gestorben.
Gestorben? Woran? Woran stirbt man wohl in einem der ärmsten Länder der Erde? - An Übersättigung, Wohlstand, Überfluss und ständiger Langeweile mit Sicherheit nicht.
Gatachebu wusste es, ohne dass es seine Betreuer hätten aussprechen müssen: Sie waren am Hungertod gestorben.
Ihn selbst fand man vor Jahren - selbst nur noch Haut und Knochen - aber mit diesem so typischen Blähbauch, und die katholischen Missionare nahmen ihn im Waisenhaus bei sich auf. Das war das beste, was ihm hatte passieren können, sagten die Behörden, zumal er indirekt Mitglied eines Projektes wurde, das eine deutsche Hilfsorganisation ins Leben gerufen hatte, und mittels deutscher Pateneltern war sein Überleben gesichert: Er wurde anständig gekleidet, hatte regelmäßige Mahlzeiten, das Wasser kam aus einem sauberen
Brunnen, und für die schulische Bildung war auch gesorgt.
Turnusmäßig schrieb er seinen Paten, und zwar das, was von ihm erwartet wurde, dass er "von ganzem Herzen seinen überaus großzügigen und wunderbaren Paten dankte und er durch fleißiges Lernen sich ihrer würdig erweisen würde". So weit. So gut. Die Jahre vergingen, und er hatte mittlerweile sicherlich das Aussehen seiner Eltern ganz vergessen, denn er war ja noch sehr klein gewesen, als man ihn fand.
Und jetzt stand plötzlich ein Teil seiner tot geglaubten Elternteile vor dem Waisenhaus und forderte seinen Jungen zurück.
Sein Vater führte einen Wasserbüffel am Strick mit sich, wobei einige Hundert Fliegen den Büffel, dessen Rippen alle hervorstanden, umschwirrten.
"Ich werde ihn mitnehmen. Sofort. Wir werden noch heute weiterziehen." Die Betreuer redeten auf Gatachebus Vater ein wie auf einen lahmen Ochsen: Dass er sich das bitte sehr gut überlegen sollte, Gatachebu ginge es wirklich sehr gut; hier hätte er eine Chance, und zwar eine berechtigte, in einem der ärmsten Länder der Welt zu überleben. Der Vater möge doch bitte so klug sein, das Recht seines Sohnes auf Leben nicht zu verspielen. Er könne ihn doch weiterhin hier lassen - als Halbwaise sozusagen. Gatachebu
könne seinen Vater doch täglich sehen, wenn er sich nur damit einverstanden wäre, sich in der Nähe des Waisenhauses niederzulassen. Sein Vater aber blieb unbeeindruckt von den Argumenten der Betreuer.
Und dann ging alles ganz schnell: Gatachebu wickelte seine wenigen Habseligkeiten in ein Tuch, schulterte es, verabschiedete sich rasch von seinen Freunden und Erziehern und marschierte mit seinem Vater, der ihm ganz fremd erschien, und dem Wasserbüffel mit diesen vormals großen schwarzen, nun fast völlig zugeklebten Augen davon. Einem ungewissen Schicksal entgegen.
Den deutschen Pateneltern wurde über die Hilfsorganisation lapidar mitgeteilt, dass der Junge aus den genannten Gründen nicht mehr im Heim wohnen würde. Sie unterstützen jetzt ein anderes Kind, diesmal ein Mädchen aus Kenia.
Was aus Gatachebu Atsbeha Alemayou geworden ist? Das ist leider nicht bekannt. Alle Recherchen blieben erfolglos. Niemand wollte oder konnte sich konkret an dieses Gespann erinnern. Es verlor sich in der Weite und Öde der äthiopischen Wüste, gleichsam wie Fußspuren, die der Wüstenwind innerhalb kürzester Zeit verschwinden lässt.
Manchmal geistert dieses Kind aber noch in der Vorstellungswelt der Paten, die das einzige Foto vom Personalbogen als Erinnerung behalten haben. Richtig kennen gelernt hatten sie sich nie; denn die stereotypen Antworten in den Briefen ließen keine wirklichen Rückschlüsse auf die eigentliche Person Gatachebus zu. Doch dieser traurige Gesichtsausdruck auf dem Foto hatte sich unauslöschlich eingegraben, eingegraben in die Gehirnrinde eines deutschen Paares, für das das Schicksal dieses Kindes niemals namenlos sein
wird.
Eingereicht am 01. September 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.
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