Im Vogelparadies (Kenia, 1992)
© Julius Franzot
Ich befand mich mit meiner Ex-Ehefrau Roberta zusammen auf einer Safari durch Kenia. Da sich im letzten Jahr zwischen uns Missverständnisse und Probleme aller Art angehäuft hatten, machte ich damit den Versuch, sie von möglicherweise hausgemachten Problemen abzulenken. So wurde eine Traumreise durch die Wildnis Kenias gebucht, der sich ein zweiwöchiger Aufenthalt in einem Club der Spitzenklasse in Diani Beach, am Indischen Ozean, anschloss. Die Safari war eine Gruppenreise. Kleinere Grüppchen saßen in geländegängigen
Bussen mit aufklappbarem Dach: während der Fahrt durch Nationalparks und sonstige Gebiete fernab der Hauptstraßen, blieb die Klappe offen, so dass man unbeschwert und im Schatten fotografieren konnte. Dabei roch es nach Afrika, nach rotem Staub. Dieser Abschnitt beginnt in Naivasha, im Reef Valley, der vermutlichen Wiege der Menschheit.
Es war eine lange Fahrt an jenem Morgen gewesen: beim Sonnenaufgang hatten wir den Masai Mara Park verlassen und waren an die sechs Stunden am Stück gefahren. Kaum Dörfer, kaum Menschen. Gelegentlich schauten die im Kreis gelegenen Lehmhütten eines Masai-Dorfes durch die Bäume, bunt angezogene Masai standen am Straßenrand, oft hielten sie einen Speer in der Hand, den sie angeblich zum Jagen benutzten. Am Vortag hatten wir so ein Dorf richtig besucht. Der Rhythmus des Dorflebens wurde von der Rinderzucht bestimmt;
tagsüber wurden die Herden in die Savanne auf die Weide getrieben, kurz vor Sonnenuntergang wurden sie im Hauptplatz des Dorfes eingesperrt, damit sie niemand aus den - möglicherweise verfeindeten - Nachbardörfern klaue. Das Ergebnis war eine jahrhundertealte, dicke Schicht tierischer Gülle, die den Platz richtig teerte, die Stürze der Kinder abfederte und ihnen die Masse zum Basteln bot. Außerdem wurde der Mist getrocknet, in Blöcke geschnitten und zum Kochen verheizt. Auch die Wände der Hütten waren an brüchigen
Stellen mit getrockneter Gülle befestigt worden.
Die Frauen, bunt angezogen und mit Unmengen Ketten aus farbigen Plastikperlen an Hals und Handgelenken geschmückt, hockten meistens zusammen, beaufsichtigten die Kinder, versuchten uns ihre Gastfreundschaft anzubieten: wir erhielten sogar eine Einladung zu einem typischen Gericht: eine Art Gerstensuppe mit Milch und Blut vermischt. Danke, sehr freundlich von Ihnen!
Die jungen Männer waren auf der Arbeit, das hieß entweder bei den Rindern oder auf der Jagd, während die Alten, an ihren Vollbärten erkennbar, sich als Propheten, Wahrsager, Priester gebärdeten und keinen richtigen Anschluss zu anderen Menschen suchten. Jeder dozierte für sich, führte Selbstgespräche, zeigte mit dem Wanderstock auf irgendwas Entferntes, drückte die Weisheit der Jahrhunderte aus. Schade, dass niemand von uns Swahili verstand.
Es hätte wenig Sinn gehabt, weitere Masai-Dörfer zu besuchen; Ortskundige versicherten uns, dass alle gleich aussahen. Deswegen fuhren wir die ganze Strecke durch, bis wir auf die Transafrican Highway einmündeten, die den Reisenden mit den sehr nützlichen zweisprachigen Hinweisschildern "Lagos - 5200 Km" imponierte. Ab und zu hatte man tatsächlich den Eindruck, man hätte ungestört so weit fahren können, an Bürgerkriegen, Hungersnot, Naturkatastrophen und Grenzkontrollen vorbei.
Die Landschaft und der gute Zustand der Straße luden zum Weiterfahren ein. Großflächige Kaffeeplantagen zierten liebliche Hügelketten, die dunkelgrünen Pflanzen waren in roter Erde eingebettet, die anscheinend gleich nach jedem Regenguss wieder trocken wurde. Der Staub ergoss sich auch auf die Straße und zwang uns, Fenster und Klappe zu schließen. Man merkte, dass es sich um eine wichtige Durchfahrtsstraße handelte: LKWs, meistens aus Kenia selbst oder aus dem benachbarten Uganda, bildeten lange Schlangen, die
in flottem Tempo den Berg hinunterrasten. Nur selten guckte ein PKW dazwischen. Rechter Hand befanden sich vereinzelt winzig kleine Dörfer aus einfachen Betonbauten oder Holz- und Schilfrohrhütten. Letztere waren gelegentlich von der viktorianischen Architektur inspiriert, keine Nobelfassaden, nur ab und zu ein Balkon, ein Zierrat, ein Paar Säulen mit gewundenen Kapitellen. Oft stand "Restaurant" oder "Hotel" auf einem dieser Häuser. In einem Restaurant konnte man schnell was essen, ohne große
Ansprüche an Bedienung, Auswahl der Gerichte und Sauberkeit zu stellen. Im Hotel wurde meistens nicht nur geschlafen. Im ganzen Lande trugen diese Inschrift echte Bordelle, die mal selbst die Frauen besorgten, mal eher als Stundenhotels gedacht waren, da es wahrlich nicht schwierig war, ein kenianisches Mädchen für ein Schäferstündchen zu gewinnen. Die schrägen Dächer der Häuser und die besonders üppige Vegetation ließen ein regenreiches Gebiet vermuten. Die Sonne wurde am frühen Nachmittag immer häufiger von
immer tiefer werdenden Regenwolken überschattet. Der Kleinbus hielt kurz auf einem Parkplatz an: unten sah man einen mittelprächtigen See, dessen Ufer auf der Nordseite ganz in Rosa gefärbt waren: dieses Bild kündigte die Nähe der Vogelparadiese um die Seen Naivasha und Nakuru, wo sich damals die größten geschlossenen Vogelbestände Afrikas befanden. Tausende von Flamingos hatten von der Nordhälfte jenes anonymen Vorläufers des Naivasha-Sees Besitz ergriffen. Zwischen dem einen Sonnenstrahl und dem anderen glänzte
ihr Gefieder vor dem Hintergrund des bleiernen Sees und der nunmehr dunkelgrünen Berge. Der Himmel versprach seit einer Stunde nichts Gutes und hielt sein Wort. Ein Tropenregen zwang uns, an einer Tankstelle zu halten und auf eine Wetterbesserung zu hoffen. Es war undenkbar, das Gefährt zu verlassen und sich ins Café, besser: in ein als solches bezeichnete Gebäude, zu setzen. Wir warteten mit wachsender Ungeduld und mit einem flauen Gefühl im Magen, da wir seit mehreren Stunden nichts zu uns genommen hatten.
Nur die Geier behielten ihre Stellung auf den kahlen Ästen eines Baumes, der Rest der Tierwelt hatte die Flucht ergriffen. Donner und Blitz! So ein Monsungewitter konnte nicht lange anhalten, hatte man uns gesagt; eine halbe Stunde später strahlte die Sonne wieder. Wie von Zauberhand, trockneten innerhalb weniger Minuten die Wiesen ab. Der Bus bog nach links, Richtung See, ab. Gleich befanden wir uns inmitten einer urgemütlichen altenglischen Koloniallandschaft. Die dortige Sea Lodge verfügte über einen großen,
liebevoll bepflanzten und gepflegten Rasen, auf dem Rattan-Stühle und Tische aufgestellt waren. Rund um das Haus verlief ein Gelände, das die schweren Sitzgarnituren aus braunem Leder vor den Angriffen der Tiere schützte. In Sichtweite, ein Kricket-Spielplatz. Statt der erwarteten Kolonialherren mit der Teetasse in der Hand und dem silbernen High Tea Tablett auf dem Beistelltisch saßen dort gehetzte Touristen aus allen Herren Ländern, die, genauso wie wir, nur eine kurze Pause einlegten. Die Bedienung hatte es
immer noch nicht verstanden: sie bewegte sich mit langsamen, würdigen Schritten von Tisch zu Tisch und fragte die Gäste, ob sie die Teekarte haben wollten. Die wollten nur Bier und Würstel. Ich fand es einfach rührend, dass man, allen Tatsachen zum trotzt, sich immer noch an die alten Gepflogenheiten hielt, für den Fall, dass ein echter Gentleman auf die Idee gekommen wäre, dort einen Hauch längst vergangener Zeiten zu kosten. Was der Massentourismus von der Lodge verlangte, jeden Tag eine neue Unterkunft, ständig
auf Achse, schreiende Reiseleiter, unvorbereitete Touristen, war schlechthin der Verzicht auf die verfügbaren Perlen, die man tagtäglich zugunsten von Schweinefutter verschmähte.
Ich fühlte mich nicht nur deswegen etwas unwohl, hatte keine Lust, mir das ewige unverbindliche Gespräch von Leuten anzuhören, die nach Kenia gekommen waren, nur um zu zeigen, dass sie was Besseres als Mallorcas Putzfrauen waren. Um sich am Stammtisch als Afrika-Experten auszugeben, um bunte Postkarten an die Freunde vom Kegelklub zu senden. Roberta machte beim Spielchen fleißig mit, war für keine Anregung aus dem Gastland zu begeistern. Wie es mir vorkam, wollte sie nur mir ausweichen und um jeden Preis im Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit stehen. Gut, das sagte mir nicht zu, auch im kolonialen Garten in Naivasha nicht. So legte ich einen neuen Film in die Kamera und ging allein in Richtung See spazieren. Von dieser kurzen Exkursion wurde ich reichlich belohnt: das Gestrüpp am Ufer erstreckte sich auch über die jetzt blau-graue Wasseroberfläche, der Wind bewegte die Sträucher, die es vorgezogen hatten, im Wasser zu wachsen und endlose Streifen von Algen um sich zu versammeln, von einer leichten Brise getrieben, die mit den Unterwasserströmungen
konkurrierte. Die Algen wurden hin und her gerissen, bildeten phantastische Formen um die Sträucher herum. Aus der Ferne ertönten gelegentliche Schreie von unbekannten Tieren, das Gezwitscher der Vögel hatte gerade den Abendkonzert eingeläutet. Ein sechseckiger Gartenpavillon aus weißen Holzbalken und mit einem spitzen dunklen Giebel stand im Wasser, nur durch eine hölzerne Brücke mit dem Festland verbunden. Ich stellte mir vor, welche Feten man dort während der Kolonialzeit gefeiert haben wird, wie viele Liebeserklärungen
im kleinen Pavillon aus der Stille der Tropennacht geboren wurden... Wie viele davon hatten die Nacht überlebt, an der sie ausgesprochen wurden?
Manchmal braucht der Mensch Einsamkeit und innere Ruhe, um eine Landschaft zu genießen, um sich als Teil seiner neuen Umgebung zu fühlen, um auf Einwürfe der Natur und auf Meldungen seines Gemüts zu hören. Was bringt mir eine Busfahrt durch Afrika, wenn ich nur aus der Entfernung die Tiere und die Pflanzenwelt betrachte? Wenn ich nicht dazukomme, zwischen dem Rauschen der Blätter und dem Zwitschern unbekannter Vögel auch meine eigene Seele baumeln zu lassen?
Als mich die Hupe des Kleinbusses mit Nachdruck rief, wurde es mir unangenehm: ich hatte mit der Zeit gelernt, durch aufmerksames Beobachten jener mir so fremden Natur, meine Sorgen ganz auszublenden. Ich sprach gedanklich zu mir selbst, erzählte mir, dass ich endlich in Afrika war, dass ich es fühlen, atmen, riechen musste. Die feuchte Erde nach einem Regenguss, der Duft unbekannter Blumen, das Gebrüll fremder Tiere, der sternklare Himmel, die sonderbare Stimmung abends an den Tränken...
Meine schlechte Laune war von kurzer Dauer, dafür sorgte das nächste Wunder der Natur: der Nationalpark Nakuru. An einem größeren See gelegen, von grünen Bergen umrandet, die sich wie die Voralpen ins Wasser spiegelten, befand sich das Vogelparadies. Schon aus der Entfernung erkannte man weiße und rosa Streifen im trüben Wasser des Sees, das allerdings bei heiterem Wetter eine blaue Farbe vortäuschte. Pelikane flogen wie Cargos durch die Luft, schauten einen schelmisch an, als ob sie sich über die Menschen lustig
machen wollten.
"Möchtest du so gut fliegen wie ich, was?"
Hunderte, Tausende von Vögeln bevölkerten die braun-grauen, lehmigen Ufer. Jede Rasse hatte sich einen ganz bestimmten Streifen reserviert. Ganz außen standen die Flamingos, weiter landeinwärts die Pelikane, weiter noch eine Art dunkler Reiher. Die Kraniche schienen das Wasser nicht sonderlich zu lieben und hielten sich eher im hohen Grass der Savanne versteckt. Hie und da guckte eine goldgelbe Krone heraus und ein leises Geräusch verriet die Anwesenheit eines Kranychen-Pärchens, das sich in Anwesenheit von Menschen
kaum von der Stelle bewegte. Dagegen, je näher man an die Wasservögel herankam, umso mehr suchten sie das Weite, allen voran die Flamingos. Nach dem ersten Knirschen der nassen Erde unter Menschensohlen Jahr machte sich bei den rosafarbenen Vögeln eine unbestimmte Unruhe breit, in der ersten Reihe erstarrten sie plötzlich, als ob sie auf die ersten Signale einer Gefahr lauschen würden, um gleich davon zu fliegen. Die Nachbarn bewegten unruhig das Gefieder, stellten das Tauchen der Schnabel ins Wasser ein und
wartete auf die Reaktion aus der ersten Reihe, die frei auf die Seeoberfläche blicken konnte und damit rechtzeitig den Fluchtweg aufzeigen.
Ohne es richtig zu merken, kam ich den Vögeln immer näher, versuchte mit meinen Schritten in Richtung Wasser die Unzulänglichkeiten des Teleobjektivs zu kompensieren, schaute nur in die Kamera, versuchte den Fluchtversuchen zuvor zu kommen. Der Rest der Gruppe blieb entweder beim Bus stehen oder nährte sich dem See mit vorsichtigen, zaghaften Schritten. Ich hatte nur meine Vögel im Sinne. Die bunten Fotos der fliegenden Pelikane, die Eleganz der ängstlichen Flamingos, die dunklen Schnabel der für mich namenlosen
Reiher, die sich von meinen Aktionen am geringsten beeindruckt zeigten. Sie wussten, dass die Anderen schöner, bunter, interessanter waren, dass man nur an die heran kommen wollte.
Auf einmal merkte ich, wie meine Füße im Matsch planschten, wie meine Turnschuhe nass geworden waren. Bei der Hitze war es nicht weiter schlimm. Ich riskierte einen Blick in die Landschaft und sah, dass das Ufer jetzt aus mehreren Inseln bestand, die, von einem fast grauen, fettigen Material und von Federn bedeckt, nur durch schmale Kanäle, maximal zwei Meter breit, von einander getrennt waren. Die Kanäle hatten regelmäßige Umrisse, als ob sie von Menschenhand gezeichnet worden wären. Sie schlängelten sich müde
in Richtung See, waren kaum tiefer als 50-60 cm. So ein Kanal stand plötzlich vor mir, als die Häuptlinge der Flamingos anfingen, den Hals nach rechts und nach links umzudrehen, auf der Suche nach einer geeigneten Fluchtroute, während in den hinteren Reihe die Spannung bereits Alarmstufe drei erreicht hatte. Die Pelikane landeten nicht mehr in meiner Sichtweite, von oben aus hatten sie sich ruhigere Gestade ausgesucht, die sie jetzt ansteuerten. Ich sah, wie meine Fotomotive am Wegfliegen waren, gerade jetzt,
als sie in greifbare Nähe gekommen waren, als ich durch das Teleobjektiv gerade die ironischen Pointen in den Augen der Pelikane entdeckt zu haben dachte. Als die ersten wegflogen, schoss ich an die zehn Bilder in die Luft, ohne sie besonders einzustudieren, dafür war keine Zeit da. Nur knipsen, wie verhext knipsen, Kopf nach oben, nur in die Kamera schauen, kurze Belichtungszeiten, Kamera stoppen, Kamera mit der Geschwindigkeit der Vögel bewegen. Noch ein Bild, ein Pärchen flog gerade zusammen weg, Sensation!
Die aufgescheuchten Pelikane hatten das Warnsignal an die Flamingos weitergegeben, die sich ebenfalls auf den Abflug vorbereiteten. Ein Kanälchen stand vor mir, ein hübsches, kleines, ordentliches Kanälchen, das mich von der am weitesten gelagerten Insel trennte. Die Touristengruppe war inzwischen näher gekommen, ich konnte nicht richtig hören, worüber sie sich unterhielten, höchstwahrscheinlich über die prächtigen Farben der Vögel, über ihre Gewohnheiten, ihre Ängste, über das Abendessen... Gelegentliche Blicke
galten mir, vielleicht waren bloß alle neidisch, alles Lahmärsche, nur sitzen im Bus und Brote essen, so kann man auch Urlaub auf Mallorca machen, meinte ich. Es war niemand da, dem ich die Tasche mit den Filmen und den Objektiven hätte anvertrauen können. Egal, ich konnte sie nicht mit mir auf den Sprung durch den Kanal nehmen, ich legte sie behutsam an meine Füße, schaute nochmals das trübe Wasser des Kanals an, berechnete grob, wo ich auf dem anderen Ufer landen würde, ich war in der Schule immer gut im Weitsprung
gewesen, nahm den Anlauf durch das matschige Gelände und hob ab. Ich landete zwar ziemlich genau dort, wo ich landen wollte, nur der Boden gab nach, die Schuhe rutschten, trieben mich weiter, tiefer, ich kämpfte um mein Gleichgewicht, bis ich mit meinen vier Buchstaben bis zum Gürtel im Matsch eingebuddelt war. Ich hob meinen Oberkörper an, konnte nicht aufstehen, war im Moment nicht meine Hauptsorge, die Flamingos waren am Wegfliegen, die Kamera hatte sich gerettet, und schoss aus dem Schlammgraben immer neue
Bilder, erwischte die letzten Flamingos, war ihnen tatsächlich sehr nahe gekommen, hatte sie aber auch aufgeschreckt und endgültig verscheucht. Ich knipste die wedelnden rosa Schwanzfedern in der Luft, die flatternden Flügel, den Wirrwarr beim überstürzten Abflug, die ironischen Blicke.
Weg waren sie. Die letzten Pelikane amüsierten sich auf meine Kosten, drehten das Gesicht zur Seite und warfen einen letzten spöttischen Blick auf meine Unbeholfenheit. Ein fetter Kerl hob als Letzter ein Paar Meter von mir entfernt ab und schaute mich von oben an.
"Mensch, Mensch, so ein Angeber und so ein Idiot!"
Nachdem ich den letzten Vogel verscheucht hatte, versicherte ich mich gleich nochmals, dass der Kamera nichts passiert war. Kamera gut, alles gut. Am Körper hatte ich keine besonderen Schmerzen, konnte mich schon ganz gut bewegen, nichts gebrochen, keine tiefen Wunden. Auf der anderen Seite des Kanals lachten sich die Miturlauber schief. Bevor ich an die Rückkehr dachte, holte ich eine Feder aus dem Schlamm, steckte sie mir hinter das Ohr, reichte Roberta über das Wasser die Kamera, stemmte mich gen Himmel mit
einem strahlend-stolzen Ausdruck und ließ mich so fotografieren, wie ich aus dem Schlamm aufgestanden war. Alle lachten noch herzlicher, ja, kein Wunder, wenn die einen Kasperle haben wollten, sollen sie ihn auch bekommen, Brot und Spiele.
Ich trug eine breite blaue Hose und ein kariertes Hemd. Als ich mich im Rückspiegel des Busses schaute, sah ich nur, dass die Hosenbeine und die Schuhe nass waren. Auf der Weiterfahrt wurde gekichert, jedes Mal, als ich etwas tat oder sagte.
"Na, wollen wir die Klappe aufmachen? Frische Luft tut gut!"
"Ja, ja, echt tolle Luft in Afrika!"
"Möchtest du ein Lufthansa-Erfrischungstuch? Siehst echt geschwitzt aus!"
Stimmte, in der feuchten Hitze hatte ich geschwitzt, fühlte mich immer noch mit Erde verschmiert, einfach unwohl.
"War nicht mehr viel Parfum im Tuch drin, was?"
Husten, Husten, Keuch, Keuch!
"Wie lange dauert es noch bis zur Lodge? Echt stickig hier!"
Mit dem Duft des Erfrischungstuches noch in der Nase verstand ich nur Bahnhof. Musste auch meine Meinung zum angeblichen Gestank kundtun:
"Hat hier jemand gefurzt? Wer Bohnen gegessen hat, gefälligst aussteigen!"
Alles grölte, bis ein ansonsten piekfeines Fräulein sagte:
"Und wenn jemand sich in Scheiße gewälzt hat, darf er bleiben?"
Alle starrten mich an, sagten kein Wort. Ich merkte, dass ich der Stinker war, konnte es aber unmöglich zugeben. Ich war bloß in den Schlamm gestürzt, von Scheiße mussten die anderen was geträumt haben.
"Wenn du heute im Hotel neben uns was essen willst, dann musst du dich ordentlich umziehen, gründlich waschen und die Klamotten wegschmeißen!"
Der Fahrer, der den Sprung gesehen hatte und den klebrigen Untergrund kannte, klärte mich kurz auf Englisch auf. Ich sei nicht auf Schlamm nach dem Sprung gelandet, sondern auf Vogelmist. Es gibt am See einige Stellen, an denen sich Vögel aller Arten versammeln, die seit Jahrtausende die Funktion der öffentlichen Toiletten übernommen haben. Man wüsste zwar nicht warum, aber Stelz- und Wasservögel würden am liebsten dort ihre Häufchen hinterlassen, wo es schon ihre Urahnen gemacht hatten. So wie die Rinder der
Masai. Vogelmist sei außerdem rutschig, ätzend und stinke fürchterlich.
Auf einmal fing ich an, selbst den Gestank zu riechen, bat um weitere Erfrischungstücher, um etwas Mineralwasser, da wir ohnehin das Tagesziel fast erreicht hatten. Den Scherzen war Mitgefühl gewichen.
Schon im Bus zog ich mich bis auf die Unterhose aus, verpackte den Abfall in eine Plastiktüte, die ich gleich am Parkplatz wegwarf. Im Zimmer blockierte ich für über eine halbe Stunde die Duschkabine, die danach mehr nach Rasierwasser als nach Seife roch, und beeilte mich an die frische Luft. Gleich war das Essen fertig und ich wurde als Held des Tages gefeiert. Die Gruppe ließ sich mehrmals von mir fotografieren, da ich in der Lage war, fliegende Vögel selbst aus der Perspektive der Vogelscheiße aufzunehmen.
Guinnessverdächtig.
Es wurde spät, es wurde geflachst, gegessen, getrunken, Pläne für den nächsten Tag wurden geschmiedet, bis die Truppe immer dünner wurde und sich die Letzten in ihre Zimmer zurückzogen.
Ich wollte noch eine Weile mitten in der Natur bleiben. Der Himmel war nächtlich schwarz aber glänzend: nicht nur die vielen Sterne des Hochlandes überzogen das Himmelsgewölbe mit leuchtenden Pünktchen, die Luft selbst besaß ihren eigenen Glanz. Es war der Glanz, den man gelegentlich an kalten Winternächten im Gebirge beobachtet, kristallklar, erstarrt inmitten einer Vielzahl von flimmernden kleinen Lichtern. Von der Savanne und von den Lodges kam kein Licht, es kam alles von oben, von der Seite, von den Sternen.
Es war Neumond, die Sterne waren ganz unter sich, der große Bruder wetteiferte in jener Nacht mit dem kleinen Lichtermeer nicht.
Während des Abendessens waren die Stimmen des Waldes verstummt. Jetzt, als ich der einzige Zweibeiner weit und breit war und nur die Glut in meiner Pfeife die Dunkelheit der Terrasse unterbrach, ließen die Stimmen Afrikas sich hören. Während dieser Afrika-Reise hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Bedürfnis gespürt, ganz allein zu sein, mich zeitweilig von den Menschen abzusondern, mich auf mich selbst, auf die Natur, auf die Landschaft einzustimmen. Nach Jahren des Sturms hatte ich wieder den Mut gefunden,
mit mir selbst zu reden.Ich saß bequem im Sessel, legte die Füße auf das Holzgelände, das die Terrasse von der Lichtung und der Tränke trennte und träumte einfach vor mir hin. Es war wie im Rausch, ich versuchte diesmal nicht, die Tiere an ihren Stimmen zu erkennen, auf die Melodien der Vögel zu antworten, danach zu pfeifen.
Die Symphonie entwickelte ihre Themen an mich vorbei, ohne Partitur wurden die Motive durchgespielt, mit Variationen bereichert, mal lange fortgesetzt, mal abrupt beendet. Schrille Schreie von Pavianen und das dumpfe Brummen der Nashorne ertönten aus den Wäldern, die Entfernung war auch zur Nebensache geworden, die Einzelstimmen uninteressant.
Meine alten und immer noch aktuellen Sorgen hatten keine Chance, sich in jene wunderbare Musik einzuschleichen, die den Odem der Natur als Partitur und das gelegentliche leichte Wedeln der Blätter unter der aufkommenden nächtlichen Brise aus dem See als Begleitmusik benutzte. Die Düfte unbekannter Pflanzen ersetzten die Parfums der feinen Damen im Parterre.
In der Pause würde man mir keinen Champagner anbieten, man würde mir die im Foyer geparkten Sorgen auf einem Silbertablett servieren.
Eingereicht am 26. August 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.
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ISBN 3-9809336-2-8
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