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Kurzgeschichte Kurzgeschichten Afrika

Die Farben Afrikas

©  Sunil Mann


Die abgewetzten Holzbänke knarren verhalten, während sich die wenigen Leute, die an diesem Mittwochmorgen in der Kirche erschienen sind, setzen. Sonnenlicht dringt blass durch die Fensterscheiben und malt bunte Muster auf den Sarg. Sie haben ihn vor den Altar gestellt, flankiert wird er von zwei farbenprächtigen Blumenbouquets. Ein gerahmtes Foto in Schwarz-Weiß erinnert an die Verstorbene.
Großmutter weint, obwohl sie Margrith kaum gekannt hat. Doch seit Großvater gestorben ist, beginnt sie zu weinen, sobald sie eine Kirche betritt. Grotesk sieht sie aus in ihrem lila Kostüm und dem breitrandigen Hut. Wie eine alternde Schauspielerin aus einer billigen Vorabendserie. Ich halte ihre Hand und reiche ihr ab und zu ein neues Papiertaschentuch.
Umständlich schälen sich die Frauen hinter uns aus ihren Mänteln, ältere Männer, die Hüte in den Händen, starren mit wässrigen Augen vor sich hin. Nur die wenigsten haben sich an die Bitte gehalten, für einmal mit der Tradition zu brechen und zu Ehren von Margrith farbige Kleidung zu tragen. Ich entdecke Dr. Fritschi, den Dorfarzt, auf der anderen Seite des Ganges. Wir nicken uns zu. Er trägt einen schwarzen Anzug. Die Kinder rutschen unruhig auf den Sitzbänken herum und unterhalten sich aufgeregt flüsternd. Irgendwo weiter hinten wird ein Gesangsbuch energisch zugeklappt.
Dann tritt plötzlich der Pfarrer aus einer seitlichen Tür, und die Bänke hören auf zu knarren, das Flüstern und Tuscheln verstummt schlagartig. Mit schweren Schritten steigt er die Treppe zur Kanzel hinauf. Er hält einen Moment inne und lässt die Stille wirken.
Sein stoischer Gesichtsausdruck verrät keine Gefühlsregung. Dann eröffnet er die Abdankungsrede mit einem Bibelspruch, bevor er geübt und mit monotoner Stimme Stationen aus ihrem Leben herunter leiert. Ich kann mich nicht konzentrieren, seine Worte fließen ungehört an mir vorbei, kaum, dass er begonnen hat, verlieren sich zu einem einschläfernden Klangteppich.
Doch das spielt keine Rolle, ich brauche sie nicht zu hören, schließlich habe ich die Verstorbene besser gekannt als die meisten anderen.
Margrith, meine Patentante. Sie stand mir näher als sonst jemand aus der Verwandtschaft, meine Eltern eingeschlossen. Sie war eine hagere, Groß gewachsene Frau mit einer resoluten Art und einem entschlossenen Gesichtsausdruck, drahtig und zäh bis ins hohe Alter, doch sie hatte ein Großes Herz, etwas, das nur die wenigsten erkannt haben. Die widerborstigen Haare trug sie seit ich mich erinnern kann immer kurz geschoren, und in ihren klaren, grau-blauen Augen lag etwas Abgeklärtes und gleichzeitig Tröstliches, wie wenn sie die wichtigen Geheimnisse des Lebens ergründet hätte, als ob sie mehr wüsste als wir.
Margrith wohnte nur einige Minuten von uns entfernt, und als kleiner Junge schlich ich an den Wochenenden, wenn sich meine Eltern lautstark stritten, heimlich aus dem Haus und besuchte sie. Ich brauchte ihr nie etwas erklären, sie verstand. Sie bereitete mir einen Eistee zu, während ich im Wohnzimmer saß und meinen Blick erwartungsvoll über das Bücherregal schweifen ließ. Dann trat sie mit zwei Gläsern aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. "So, was gucken wir uns heute an?", fragte sie mich, und ich ging mit ihr zum Regal und durfte mir einen der zahlreichen Bildbände aussuchen. Das war unser kleines Ritual. "Den blauen", sagte ich meist, denn der blaue war unser Lieblingsband. Sie lächelte und fuhr mit der Hand den Buchrücken entlang, unsicher und zögernd. Oft fand sie das gewünschte Buch nicht auf Anhieb. "Den blauen", wiederholte ich und fügte etwas ungeduldig hinzu:
"Afrika." "Ach, da ist er ja", sagte sie dann mit einem verlegenene Lächeln und zog den Band heraus. Ich konnte stundenlang darin blättern und war immer wieder aufs Neue fasziniert von den knochigen Buschmännern mit ihren Lendenschürzchen, den Bildern vom schneebedeckten Kilimandscharo und den wilden Tieren in den Nationalparks. Am Besten gefielen mir die bizarr aussehenden Frauen mit ihren lang gestreckten Hälsen, an denen feine Metallringe aufgereiht waren.
"Wenn man ihnen den Schmuck abnehmen würde, bräche es ihnen auf der Stelle das Genick." Margrith erzählte mir von den Dingen, die nicht im Buch standen, abenteuerliche Geschichten, die sie auf ihren Reisen selbst erlebt hatte. Und ich wollte sie immer wieder hören. Wie sie die Sahara auf dem Rücken eines Dromedars durchquert hatte, vom Aufbau eines Dorfes in Mocambique, bei dem sie einst mitgeholfen hatte, von den Dschungelexpeditionen durch den Kongo, von der Gastfreundschaft der Menschen in Äthiopien, die selbst nichts besaßen, von den Pygmäen, die immer noch so lebten wie vor Hunderten von Jahren. Aber auch traurige Erlebnisse wie die bangen Wochen, als sie einmal fern jeglicher Zivilisation an Malaria erkrankt war und nur mit viel Glück überlebt hatte, von der Armut in Zentralafrika und vom Krieg, von den Kindern, die an den Folgen von Aids starben.
Margrith reiste leidenschaftlich gern, und es gab kaum einen Ort auf dieser Welt, den sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Doch Afrika war ihr besonders ans Herz gewachsen, ich spürte es jedes Mal, wenn sie in ihren Erinnerungen schwelgte. Ihre Augen begannen zu leuchten und manchmal verstummte sie abrupt, um abwesend aus dem Fenster zu starren. Wenn ich sie dann anstieß, zuckte sie zusammen und sah mich mit einem merkwürdigen Blick an, der von weither zu kommen schien.
"Das schönste an Afrika sind die Farben", sagte sie, "Nirgendwo sind sie so üppig und satt wie dort. Ein Sonnenuntergang in Simbabwe lässt dich jeden anderen, den du je gesehen hast, augenblicklich vergessen. Es ist nicht einfach ein gewöhnlicher Sonnenuntergang vielmehr ein dramatisches Schauspiel. Der Himmel verfärbt sich zuerst lila wie vor einem Gewittersturm, das Land scheint den Atem anzuhalten, und die Sonne senkt sich leuchtend orange hinter den Wolkenbergen, dann wechselt die Farbe des Horizonts langsam von violett zu dunkelblau bis er fast schwarz ist, während die Sonne gleichzeitig immer röter wird, zuerst ein fahles gelbrot, dann ziegelrot, danach blutrot, bis sie zuletzt noch einmal ihre ganze Kraft aufbietet und einem funkelnden Rubin gleich hinter der Steppe versinkt. Selbst nachdem sie längst versunken ist, leuchten die Wolken noch immer in ihrem verglühenden Schein, der Himmel strahlt plötzlich wieder in einem ätherischen, hellen Blau, und die Luft ist klar und voll von den Gerüchen der beginnenden Nacht." Sie seufzte sehnsüchtig. Ich saß still neben ihr und beschloss, nach Afrika zu reisen, sobald ich Groß genug wäre. Ich wollte unbedingt auch solch einen Sonnenuntergang sehen.
Nachdem Vater uns verlassen hatte, verbrachte ich die meisten Wochenenden bei ihr, da meine Mutter eine Stelle in einem Spital gefunden hatte und dann oft arbeiten musste. Ich durfte jeweils bei Margrith übernachten, und am Sonntagmorgen frühstückten wir beide im Bett. Manchmal holte sie die verbeulten Kartonschachteln aus dem Schrank und gemeinsam betrachteten wir die Fotos, die sie auf ihren Reisen gemacht hatte.
"Hast du deswegen nie geheiratet?", fragte ich sie einmal und deutete auf die dicken Umschläge voller Fotografien. Sie sah mich erstaunt an, dann lachte sie. Kleine Fältchen bildeten sich um ihre Augen, und in dem Moment liebte ich sie mehr als irgendjemand anderen auf der Welt. "Nein, obwohl es Interessenten gegeben hat." Ich kicherte. Dass sie "Interessenten"
sagte, fand ich lustig. Es klang so altmodisch. "Vor allem bei einem fiel es mir sehr schwer, nein zu sagen. Doch er hat sich vorgestellt, dass ich dann Zuhause bleibe, dass ich koche und mich um die Kinder kümmere. Das wollte ich hingegen nicht, es gab noch so viele Orte, wo ich hin wollte, so viele Dinge, die ich erleben wollte..." "Wollte er denn nicht einfach mitkommen?" "Er konnte nicht. Bis jetzt nicht. Aber wer weiß...Es ist nie zu spät." Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. "Weißt du, die Leute hier sind sehr verwurzelt. Man bringt sie nicht weg aus dem Dorf, da hilft alle Liebe nichts. Sie sind zufrieden mit dem, was sie haben, was sie kennen. Alles andere macht ihnen Angst." "Reden sie deswegen schlecht von dir?" Sie zuckte beinahe unmerklich zusammen. "Tun sie das?" "Ja, Frau Zumbrunnen hat letzthin zu meiner Mutter gesagt, du müsstest aufpassen, dass du nicht plötzlich mit einem kleinen Souvenir heimkämest. Oder mit einer ansteckenden, tropischen Krankheit. So ein Leben wie du führtest." Margrith sah mich nachdenklich an, dann legte sie ihre Arme um mich und hielt mich fest. "Man redet im Dorf zu viel. Du darfst nicht alles glauben, was sie sagen. Es gibt nicht viele Menschen, die wirklich etwas über mich wissen, und Leute wie Frau Zumbrunnen gehören sicher nicht dazu.
Man kann jemanden nur so gut kennen lernen, wie er selber das auch zulässt, glaub mir." "Ich kenne dich aber sehr gut", sagte ich. "Ja, das stimmt, aber trotzdem kann man niemanden ganz kennen. Irgendwo tief im Herzen verborgen hat jeder Geheimnisse. Auch wir beide." Ich dachte lange darüber nach. "Verletzt dich das, wenn sie solche Sachen über dich erzählen?" Sie nickte. "Ja, natürlich, und dann denke ich, dass es vielleicht besser wäre, für immer weg zu gehen.
Irgendwo auf dieser Welt fände ich sicher ein schönes Plätzchen." Mir stockte der Atem. "Gefällt es dir denn hier nicht?", fragte ich schnell. "Schon, aber manchmal..." Sie zögerte und sah mir in die Augen.
"Manchmal ist es schwierig. Dann muss man raus und sich etwas anderes ansehen, schauen, wie die Menschen in anderen Ländern leben, wie sie miteinander umgehen und wie es dort aussieht. Dann wird einem erst wieder bewusst, wie schön es hier ist und wie gut es uns geht. Trotz allem. Sonst vergisst man das einfach."
Ich schrecke aus meinen Gedankengängen auf. Der Pfarrer hat die Abdankungsrede beendet, und die Trauergäste stehen zum Vaterunser auf. Dann heben die Sargträger, vier Bauern aus dem Dorf, den Sarg mit einem Ruck an und tragen ihn auf ihren Schultern aus der Kirche. Wir folgen ihnen in angemessenem Abstand auf den Friedhof hinaus und stellen uns um das ausgehobene Grab auf. Der Pfarrer steht am Kopfende der Grube und schlägt die Bibel auf.
Später, als ich bereits in der Schule war, unternahmen wir zusammen Bergtouren oder fuhren mit dem Zug in Gegenden der Schweiz, die ich noch nicht kannte. Sie zeigte mir auf ihre Art die Schönheit dieses Landes, das sie so liebte, und es war faszinierend, was sie alles darüber wusste. "Jedes Land, jede Gegend hat eigene Farben. Der Sand in der Sahara zum Beispiel unterscheidet sich von demjenigen in der Wüste Gobi, wenn du genau hinsiehst, sind die Wiesen im Jura etwas heller als diejenigen im Berner Oberland, und wer einmal im Kongo gewesen ist, weiß, dass das Spiel von Licht und Schatten anders ist als im Urwald von Borneo", sagte sie. Ich war beeindruckt.
"...Asche zu Asche, Staub zu Staub. Amen." Wir sehen zu, wie der Sarg mit ruckenden Bewegungen in das Grab gesenkt wird. Großmutter hält sich ein Taschentuch vor den Mund und wird von Weinkrämpfen geschüttelt.
Ich drücke ihr beruhigend die Hand. Dumpf fällt eine Schaufel Erde auf den Sarg. Einige werfen Blumen hinterher.
Vor wenigen Monaten wurde Margrith dann plötzlich krank und musste das Bett hüten. Eine schwere Lungenentzündung, diagnostizierte ihr Doktor Fritschi.
"Das ist das Schlimmste für mich", sagte sie zu mir, als ich sie zum letzten Mal besuchte. Sie lag bereits auf der Intensivstation des regionalen Spitals.
"Eingesperrt und unselbständig zu sein, dabei habe ich mich gerade dagegen ein Leben lang gewehrt." Sie lachte trocken. "Manchmal ist das Leben pure Ironie."
"Ich habe Dir etwas mitgebracht", sagte ich und legte ihr den geschnitzten Holzelelefanten, den ich auf meiner letzten Afrikareise erstanden hatte, auf die Bettdecke. Überrascht griff sie danach, fuhr mit den Fingern über die Figur und nickte in Gedanken versunken. "Er ist wunderschön. Ich wünschte, ich könnte noch einmal..." Sie brach ab und schluckte leer. Dann fasste sie sich wieder und lächelte mich an. "Wenn man einmal auf diesem Kontinent gewesen ist, kehrt man immer wieder dorthin zurück. Man hat keine Wahl, glaub mir." Ich nickte. " Es hat mein Leben verändert, und es wird auch Deines verändern. Du wirst sehen. Nicht ist mehr wie zuvor. Afrika. Die Farben, der Geruch. Die Menschen." Sie seufzte sehnsüchtig.
"Ich habe es so geliebt. Jetzt habe ich nur noch meine Erinnerungen. Die und meine Fantasie." Sie blickte mich an, und einen Moment lang sah es aus, als wollte sie noch etwas anfügen, doch dann schien sie sich anders zu besinnen. Sie legte die Hände auf die Bettdecke, und ich sah, wie sie zitterten. Eine Träne lief ihr plötzlich über die eingefallene Wange.
Ich bleibe allein an Margriths Grab stehen und sehe dem Totengräber zu, wie er das Grab zu schaufelt. Als er seine Arbeit beendet hat, legt er sorgfältig die beiden Kränze und die Blumensträuße auf den Erdhügel.
Dann nickt er mir zu und geht mit schweren Schritten davon.
"Kommen sie, sie wollen doch nicht den Imbiss versäumen. Wenn wir uns nicht beeilen, bleibt für uns nichts mehr übrig." Doktor Fritschi legt mir schmunzelnd die Hand auf die Schulter. "Sie hätte sich sicher über die Blumen gefreut", sage ich leise und deute auf die Sträuße, "Sie sind so schön farbig."
Der Arzt lacht. "Nur, dass sie das nicht hätte sehen können!" Ich blicke ihn verdutzt an. "Wie meinen sie das?" "Die Farben eben. Wussten sie das denn nicht?
Sie sind doch sozusagen bei ihr aufgewachsen." "Was denn? Was weiß ich nicht?" Ich verstehe nicht, wovon er spricht. "Sie war farbenblind. Komplett. Von Geburt an." Mit offenem Mund sehe ich ihm nach.
"Aber....Herr Doktor!" Er dreht sich um und winkt mich zu sich. "Ich weiß! Zerbrechen sie sich darüber nicht den Kopf! Sie war eine eigenwillige Dame mit einer blühenden Fantasie und einer unglaublichen Vorstellungskraft. Deswegen haben wir sie ja auch geliebt, nicht wahr? Kommen sie, ein Gläschen Weißwein wird uns gut tun."



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