Der Traumprinz aus Afrika
© Martina Vermöhlen
Gestern hatte Marlene angerufen und für die nächste Woche ihren Besuch angekündigt.
Mein Gott, zehn Jahre waren vergangen! Jutta freute sich sehr darauf, ihre
Freundin nach so langer Zeit wieder zu sehen. Marlene war auf dem Gymnasium
ihre beste Freundin gewesen, bevor sie vor dem Abitur mit ihren Eltern weit weg
gezogen war. Jutta hatte sie irgendwann aus den Augen verloren.
Wie oft hatten sie als Teenager die Köpfe zusammen gesteckt und die anderen
Mädchen beneidet, die nach der Schule von ihren Freunden abgeholt wurden, mit
ihnen Händchen hielten und sich vor ihren Augen abgeküsst hatten. Alle anderen
aus ihrer Klasse hatten damals schon einen Freund oder erzählten zumindest von
ihm. Jutta und Marlene träumten selbst seit langem von der großen, aber leider
bisher unerfüllten Liebe.
An einem Samstag hatte Jutta in der Wochenendbeilage der Tageszeitung einen
Artikel mit der Überschrift "Brieffreunde gesucht" entdeckt. "Junger Mann aus
Lagos/Nigeria sucht einen Brieffreund /eine Brieffreundin, die ihm in Englisch
schreiben" hatte dort gestanden. Wie war noch sein Name gewesen?
Jutta konnte sich heute nicht mehr an ihn erinnern. Aber damals hatte er in
ihren Ohren sehr exotisch und vielversprechend geklungen. Warum nicht dem
Schicksal etwas nachhelfen?
Jutta hatte sich ausgemalt, wie das Leben auf diesem weiten Kontinent Afrika
sein würde. Bilder von unendlichen Wüsten tauchten vor ihr auf. Kamelkarawanen,
die über den heißen Sand ritten, allen voran ein junger Mann mit braungebrannter
Haut und dunklen leidenschaftlichen Augen, dessen weißes Gewand im Wüstenwind
wehte. Gemeinsam mit ihr war er in Juttas Träumen zu seinem Palast inmitten
einer Oase geritten.
Lange hatte sie gebraucht, bis sie endlich die richtigen Worte in Englisch
gefunden hatte, um den ersten Brief an ihn zu schreiben. Wochen vergingen.
Jeden Tag war sie voller Neugier und Spannung auf diesen Unbekannten zum
Briefkasten gelaufen, um zu sehen, ob er geschrieben hatte. Endlich, nach einer
halben Ewigkeit, war er da, ein hellblauer Luftpostumschlag mit einer bunten
Briefmarke. Zitternd hatte Jutta den Umschlag geöffnet.
Ein Schwarz-Weiß-Foto war beigefügt. Wie anders hatte sie ihn sich vorgestellt!
Natürlich bestand dort die Bevölkerung zum Großteil aus Farbigen. Aber es war
nicht die Hautfarbe, die sie störte. Nein, es war etwas anderes. Sie war
sprachlos, als sie sich seine Kleidung etwas genauer ansah. So etwas hatte sie
noch nicht gesehen! Das was er trug, war nämlich kein Anzug, wie sie ihn kannte,
sondern eher ein kurzärmeliger Schlafanzug mit breiten, unregelmäßigen
Längsstreifen.
"Mein Brieffreund hat endlich geschrieben!", vertraute sie am nächsten Tag nach
der letzten Stunde leise Marlene an. Bärbel neben ihr spitzte die Ohren.
"He, Leute, hört mal her! Jutta hat einen Brieffreund!", rief sie in die Klasse.
"Na, wo wohnt der denn? Kommt der dich mal besuchen? Zeig uns doch mal ein Bild
von ihm!"
Juttas Hände zitterten. "Er wohnt in Afrika, damit du es nur weißt! Da ist er
Gott sei Dank vor dir sicher!"
Sie klappte ihre Mappe mit den Heften zusammen
und wollte sie gerade in ihrer Tasche verstauen.
Da passierte es. Der Brief, den sie nur Jutta zeigen wollte, fiel aus der Mappe
auf den Boden. Schnell bückte sich Bärbel und hielt ihn wie eine Trophäe in die
Höhe. Jutta errötete. "Gib ihn her!", rief sie. "Das geht dich überhaupt nichts
an, wer mir schreibt!"
Doch zu spät.
"Ah, da ist ja das gute Stück!", triumphierte Bärbel. Sie klappte den Umschlag
auf, zog den Brief heraus und.... das Foto. Bärbel prustete vor Lachen.
"Na, da brat mir doch einer einen Storch!", rief sie. "Guckt euch mal an, wen
Jutta da an Land gezogen hat!"
Sie schüttelte sich vor Lachen. "Das soll ein Anzug sein!", höhnte Bärbel.
"Das ist ja wohl eher ein Schlafanzug!
Wenn die Streifen alle gleich breit wären, sähe er aus wie ein Sträfling!
Einen tollen Brieffreund hast du in Afrika!", fuhr Bärbel hämisch fort.
"Da lob
ich mir doch die netten Jungs, die uns immer nach der Schule abholen.
Da brauchen wir nicht so weit zu fahren, ne", rief sie Sabine zu, die immer zu
ihrem Gefolge zählte.
"Reg dich nicht auf, du kennst sie doch! Sie ist ja nur eifersüchtig auf deinen
Traumprinzen!", hatte Marlene so laut gekontert, dass Bärbel es hören konnte.
"Die geistig Armen und Hochnäsigen sterben eben nie aus!".
Auf einen Traumprinzen hatte Jutta noch lange gewartet.
Marlene hatte sie gestern neckend am Telefon gefragt: "Na, hast du ihn endlich gefunden?"
"Wen denn, Marlene?"
"Na, deinen Traumprinzen? Ich meine nicht den von damals, sondern einen wirklichen!"
"Klar doch", hatte Jutta belustigt geantwortet. "Wenn du kommst, wirst du ihn
kennen lernen. Er heißt Andreas. Wir verstehen uns prima und sind sehr glücklich
miteinander. Aber eins muss ich dir noch vorab erzählen! Weißt du, was damals
passiert ist, als er zum ersten Mal bei mir übernachtet hat?
Erst stellte er total unromantisch im Bad seine Zahnbürste zu meiner in den Becher.
Aber das Tollste kommt noch, Marlene! Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen,
als er seinen Schlafanzug auspackte. Es war ein besonders aufregendes Exemplar,
ein Weihnachtsgeschenk seiner Mutter, ein weißer Schlafanzug mit roten und
orangefarbenen Streifen!"
Jutta hörte Marlene am anderen Ende des Telefons
schallend lachen.
"Du weißt doch", sagte Marlene, als sie sich wieder etwas beruhigt hatte,
"Traumprinzen tragen eben gestreifte Schlafanzüge!"
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