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Dunkles Geheimnis

©  Wolfgang Nitsche


Die Finger auf meinem Rücken malen Buchstaben. Ich soll raten, was Joachim schreibt, tippe absichtlich daneben, freue mich auf die Wiederholung. Da tanzen die Finger Stakkato.
"Nicht so wild!" fahre ich hoch.
"Dann erzähl was, sonst ist Schluss damit! Warum bist du von Thüringen weg ins Schwabenländle? Und wer ist Linda?" Erneut das Stakkato. "Soll ich warten, bis wir verheiratet sind?"
Er bohrt in einer Wunde. Woher soll er wissen, dass da eine Wunde ist? Bisher konnte ich ausweichen, wir kennen uns ja gerade mal ein Vierteljahr. Ich weiß, dass ich ihm von Linda und von Thüringen erzählen werde - erzählen muss. Spätestens dann, wenn ich mir sicher bin, dass mehr zwischen uns ist als Freundschaft und Sex. Aber mir geht das alles zu schnell. Voriges Wochenende eine Spritztour zum Bodensee, gutes Essen, viel Lachen und dann sein Vorschlag, in einem kleinen Hotel zu übernachten. Freilich hätte ich ablehnen können. Wollte ich aber nicht! War seit langem wieder mal richtig gut drauf. Und heute zum ersten Mal in meiner Wohnung. Wir kennen nur unsere Sonntagsgesichter, wissen kaum etwas voneinander: Beruf? Bänker, und du? Krankenschwester - in der Inneren. Interessant, interessant! Viel mehr ist es nicht.
Ich versuche abzulenken: "Ist das ein Heiratsantrag? Statt der Zigarette danach? Das ist neu! Muss ich nun gerührt sein und weinen?"
Seine Finger machen Pause. Manchmal schwäbelt er: "Du sollscht nicht darüber spotte. Sonscht wird nix draus." Dann fordernd: "Also: Linda?"
Nun also doch Thüringen und Linda. Ich fürchte mich davor, zuviel in mir wird aufgewühlt. Andererseits ist es eine Gelegenheit, Joachim etwas tiefer auszuloten.
Vorsichtig öffne ich die Kiste, in die ich die Vergangenheit eingenagelt habe. Bilder leben auf. Ich erzähle ein paar Stories aus der Schulzeit. Mir tut es auf einmal gut, von Linda zu sprechen, die Geschichte bis zum Ende zu erzählen, obwohl ich weiß, dass es für mich sehr schmerzhaft werden wird. Und für Joachim? Vielleicht wird es ihn anfangs langweilen, aber ich muss ihn in mein dunkles Geheimnis einweihen.
Deshalb krame ich weiter in der Vergangenheit:
In meinem Zimmer tanzten Linda und ich die Kreuzberger Nächte und bei Boney M. mit Rivers of Babylon. Bei Dschingis Khan blieb Linda plötzlich stehen. Schmerzt deine Brust auch beim Hüpfen, fragte sie. Nee, sagte ich und zeig mal, und wir verglichen und betasteten uns gegenseitig.
Der Mann neben mir ist plötzlich hellwach und kann seine Hände nicht stillhalten. Ich schiebe seine Hand zur Seite. Er schwäbelt etwas von "begutachte müsse", parkt dann seine Hand auf meiner Brust.
"Macho", sage ich.
"Kannscht jetzt weitererzähle", meint er ungerührt.
Und ich erzähle:
Wir hatten wirklich keine Geheimnisse voreinander, Linda und ich. Freundinnen eben. Beim ersten richtigen Kuss - mit Zunge und so - hatte ich die Nase vorn und Linda wollte ganz genau wissen, ob das nicht eklig gewesen sei. Beim ,ersten Mal' hingegen lief mir Linda den Rang ab. Aber das passierte erst etliche Jahre später. Da waren wir schon in der Ausbildung. Natürlich beide im gleichen Beruf: Krankenschwester. Nach dem Staatsexamen bezogen wir gemeinsam eine kleine Wohnung im Schwesternheim.
Schon seit Tagen Regen. Linda beschloss: Knöpfchenstunde. Ich war nicht so wild aufs Nähen und Ausbessern, aber wir konnten so herrlich dabei quatschen. Doch an diesem Tage war Linda ganz anders. Irgendwie zu. Während ich an einem Hemdenträger herumpusselte, klopfte ich auf den Busch: "Mit Gerd ist wohl Schluss?" "Einen Gerd gibt's nicht mehr - schon eine ganze Weile nicht." "Warum weiß ich das nicht?" "Es ist so kompliziert ..." Ich sah von dem langweiligen Trägerband hoch. Lindas Augen begannen zu schwimmen. Bitte nicht, dachte ich. Linda hatte sehr nahe ans Wasser gebaut, und es bedurfte oft harter Arbeit, sie wieder aufs Trockene zu ziehen. Manchmal half ein Schock. "Linda!" sagte ich. "Heulen hilft nichts! So überwältigend war Gerd nicht!" Sie schniefte noch zweimal, lächelte ein bisschen hilflos. "Es ist ja nicht wegen Gerd - es ist wegen Feli..." "Wer oder was ist Feli?" "Na, der Mosambikaner!" "Doktor Felipe Paredes? Der aus der Kinderabteilung - du bist doch nicht etwa…?" "Ich liebe ihn, und er liebt mich auch."
Ach du Schreck! Wenn Linda so blumig sprach, hatte es richtig gefunkt. Und ausgerechnet Doktor Paredes! Ich war ihm ein paar Mal in der Klinik begegnet, obwohl er in einer anderen Abteilung arbeitete. Ein hübscher Kerl, zugegeben. Mindestens eins neunzig lang und sportliche Figur. Für meine Begriffe allerdings ein klein wenig zu schlaksig. Er war dunkelhäutig. Nicht ganz schwarz, mehr ein dunkles, kräftiges Braun. Machte seinen Facharzt für Kinderkrankheiten bei uns. Mehr wusste ich nicht von ihm, konnte mir nicht mal sein Gesicht richtig vorstellen. Ich hatte zuwenig Erfahrung mit Ausländern, hatte noch nicht gelernt, unbefangen mit Farbigen umzugehen. Immer glaubte ich, aufdringlich zu sein, wenn ich in ein fremdländisches Gesicht schaute.
Ich erzähle so vor mich hin, habe Joachim fast vergessen. Nun sehe ich ihn an. Er hört zu - mehr nicht. Ich bin zu langatmig, denke ich, es interessiert ihn nicht.
Trotzdem erzähle ich weiter:
Linda berichtete von Feli und sich. Eine richtige Schnulze, dachte ich und verdrehte die Augen. Sie bemerkte es nicht, schwebte irgendwo. Ich wollte sie von ihrer Wolke herunterholen, wurde deutlich: "Und - wart ihr schon mal zusammen - so richtig, meine ich?" Linda empört: "Wo denkst du hin!" "Eine platonische Liebe also. Oder ist er kein richtiger Mann?" provozierte ich. Sie wandte sich von mir ab. "Du bist gemein, Anke." Ich schwieg. Wenig später - ich fummelte gerade an einem verklemmten Reißverschluss herum - brach es aus ihr heraus: Es ist doch alles so ungewiss - in etwa einem Jahr ist Feli mit seiner Ausbildung fertig und dann muss er nach Mosambik zurück. So steht's im Vertrag. Wenn sie zusammenbleiben wollen, muss sie mit nach Afrika. Dann noch die üblichen Bedenken: Ein fremdes Land, so weit weg - und die Eltern hier und die Freunde ... Ich begriff, dass sich Linda bereits mit Problemen herumschlug, die für mich ebenso weit weg waren wie Mosambik selbst. Ich wollte etwas sagen, ihr raten, sie beruhigen. Aber was sollte ich sagen, womit sie beruhigen? Schließlich versuchte ich es mit Allgemeinplätzen: "Erst müsst ihr länger zusammen sein - so mit allem Drum und Dran! Und wenn dann noch alles stimmt zwischen euch, solltest du mit ihm gehen, probeweise. Ein Arzt und eine Krankenschwester - das ist schon ein gutes Gespann. Und das andere: Du lernst erst mal seine Familie kennen und einmal im Jahr besuchst du uns hier, hältst dir die Tür ins Zurück offen."
Seit einer Weile murrt Joachim neben mir herum.
"Was ist?" frage ich.
"Erklär mir mal, was dran ist an den Schwarzen, dass manche Frauen so verrückt sind!"
"Wieso verrückt? Linda war verliebt!"
"Sollen sie doch lernen bei uns, studieren! Und dann wieder heimgehen! Aber Schwarze und Weiße - das geht nicht zusammen."
Ich schweige. Mir ist ganz schön mulmig. Warum habe ich nur davon angefangen? Noch könnte ich mich um die Wahrheit herumlavieren, die angenehmen Seiten unserer Bekanntschaft erst mal richtig auskosten. Aber - es ist besser, ihm jetzt alles zu sagen, bevor es zwischen uns richtig anfängt.
Joachim unterbricht meine Gedanken: "Na und? Haben sie nun geheiratet, deine Linda und dieser - dieser Schwarze? Und was hat das mit dir zu tun?"
Meine Angst vor dem Ende der Geschichte wächst. Aber Joachim hat das Recht, zu wissen, woran er ist.
Also erzähle ich weiter:
Felipe war oft bei uns im Schwesternheim, obwohl er sich mit einem Kubaner eine kleine Wohnung teilte. Und wenn Linda und ich unterschiedliche Schichten hatten, hatten Linda und Felipe "sturmfreie Bude". Eines Tages fuhr Linda zu ihrer Tante nach Köln. Eine Woche wollte sie bleiben und den Sechzigsten der Tante mit feiern. Am Sonnabend darauf traf ich Felipe in der Klinik. "Schon was von Linda gehört?" Ich musste lachen, wir hatten beide das gleiche gefragt. Aber sie hatte sich noch nicht gemeldet. Und Felipe war offensichtlich nicht nach Lachen zumute. "Was ist - hast du Ärger?" fragte ich. Er nickte nur. "Komm heute Abend zu mir, das Alleinsein hilft dir nicht weiter." Er zögerte: "Weiß nicht - mal sehen..." Irgendwann tauchte er dann doch bei mir auf, berichtete von einem Jungen, den sie endlich über den Berg glaubten und der in der letzten Nacht unerwartet gestorben war. Ich kannte solche Niederlagen. Damit muss im Krankenhaus jeder selbst fertig werden. Aber ich spürte, dass noch nicht alles raus war aus ihm und sah ihn aufmunternd an. "Die Eltern", berichtete er mit erzwungener Ruhe, "die Eltern sagen, Schwarze im Krankenhaus - daher das Unglück." "Aber das ist doch Unsinn", fuhr ich hoch. "Freilich - Unsinn. Aber ich selbst habe gehört - mit meinen Ohren." "Und Doktor Schneider, Euer Stationsarzt, was hat der getan?" "Nichts. Er sagte nichts." Ich wurde wütend: "So eine Pfeife! Der hätte doch... sie zurechtweisen hätte er müssen! Das kann man doch nicht..." Ich hatte mich völlig verhaspelt. Felipe legte beruhigend seinen Arm um mich. "Ist ja gut, beruhige dich", sagte er. Ich konnte mich nicht beruhigen. "Nichts ist gut! Rufmord ist das! Und die Eltern - so etwas überhaupt zu denken!" "Ihr Kind war gestorben, das macht ungerecht." Einem Mann die Schuld am Tode ihres Kindes zu geben, nur weil er eine andere Hautfarbe hat. Ich fror plötzlich und zitterte. Felipe hielt mich fest und streichelte mich. Wir suchten Halt - einer beim anderen - gingen zu Zärtlichkeiten über - verloren die Kontrolle. Erst mitten in der Nacht ging Felipe heim. "Das darf nie wieder sein", sagte er. "Ich liebe Linda."
Joachim starrt mich an. Ich bin gefasst auf seine Entrüstung über meinen Verrat an der Freundin. Der aber stört ihn nicht, er stößt hervor: "Widerlich! Hast mit einem Neger geschlafen!"
Es fällt mir furchtbar schwer - aber es muss sein - ich will es hinter mich bringen: "Ja, ich habe mit dem Mosambikaner geschlafen. Und ich wurde schwanger."
"Was? Das gibt's net! Hast ihn abgetriebe, den Baschtard?"
Sein Ausbruch entsetzt mich. Trotzdem bin ich plötzlich ganz ruhig: "Ich hatte einen Unfall mit Fehlgeburt und ..."
Joachim starrt mich nur an. Auch ich schweige.
Dann verzieht er angeekelt das Gesicht: "Ich kanns net fasse! Hat ein Kind getrage! Von eim Neger! "
Mir ist als wäre ich eingefroren. "Geh jetzt! Bitte, geh!", sage ich.
Er betrachtet mich noch sekundenlang. Fast körperlich fühle ich seine Verachtung. Dann steht er wortlos auf, geht ins Bad und zieht sich an.
Nun brauche ich ihm nicht zu erzählen, dass Linda infolge meiner Fehlgeburt alles erfahren hat, ich ihr vor Scham nicht mehr in die Augen sehen konnte und deshalb Thüringen verlassen habe.
Und, zum Teufel, jetzt geht's ihn auch nichts mehr an, was ich ihm eigentlich hatte sagen wollen und was mich unermesslich schmerzt: Dass ich seit dem Unfall und der Fehlgeburt keine Kinder mehr bekommen kann! Das und nur das sollte der Mann wissen, mit dem ich vielleicht einige Zeit zusammen bleiben wollte. Mit meiner Geschichte um Linda habe ich alles verdorben.
Nein, nichts habe ich verdorben, habe alles richtig gemacht! Es wäre nicht gut gegangen, mit Joachim und mir.
Draußen kracht die Korridortür ins Schloss. Soll ich weinen, weil einer die Prüfung nicht bestanden hat?



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