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Besuch in Lake View

©  Maike Grau


Der Weg von Nairobi nach Nakuru wird ihm heute lang. Er sehnt sich danach, Catherine wiederzusehen. So träumt er vor sich hin.
Alle Mitreisenden werden durchgeschüttelt, als der Fahrer abrupt auf die Bremse tritt. Eine Gruppe Zebras versperrt den Weg. Die Tiere stehen seelenruhig, haben es nicht eilig, zur Seite zu treten. Ein Zebrafohlen schaut großäugig und langwimperig herein. Ein Hupen, dann das Aufheulen des Motors - und der klapprige alte Peugeot fährt weiter. Jonas dreht sich noch einmal um. Der Himmel über den Tieren ist hoch und leuchtend blau, im Hintergrund einige Schirmakazien. Er hat längst angefangen, dieses Land zu lieben. Das Bild brennt sich auf seiner Netzhaut ein - er wird es mit nach Hause nehmen.
Es ist ein warmer Tag. Jonas freut sich auf ein Bad in dem kleinen Swimmingpool im Club. Noch mehr freut er sich auf einen Abend in Lake View.
Lake View ist eine einfache Wohngegend oberhalb des Nakuru-Nationalparks mit einem See, der für Schwärme von Flamingos berühmt ist. Die Lage ist schön; man sollte denken, die wohlhabenderen Familien hätten sich hier angesiedelt. Aber die Häuser sind meist klein und schäbig. Auch Catherines Familie lebt sehr eingeschränkt. Die Sofas sind mit Schondecken belegt, der Boden voller Staub, die ganze Ausstattung von großer Kargheit. Aber es ist immer schön dort, wenn nur Catherine dabei ist.
Am letzten Abend vor seiner Abfahrt waren Lorenz und er bei den Mainas zum Essen eingeladen. Als sie kamen, saßen alle Familienmitglieder noch vor dem Fernseher und sahen sich eine ungeheuer kitschige Sendung an. Dabei wurde Reis gesiebt und aussortiert. Jonas durfte helfen und war glücklich darüber.
Später durfte er die kleine Cousine Lilly auf dem Arm halten - ein bezauberndes Kind mit Wimpern wie die des Zebrafohlens. Catherine und Edith erzählten lange und unwahrscheinliche Geschichten aus dem Leben ihres Großvaters, der neun Frauen gehabt haben soll.
Jonas hätte gern beim Kochen geholfen und gelernt, wie man Pilau macht. Aber die Mädchen wollten ihn in der Küche nicht sehen. Stattdessen musste er sich mit Catherines Vater unterhalten, der anscheinend schwerhörig ist, oder vielleicht nur etwas seltsam - auf präzise Fragen bekommt man keine Antwort.
Er hätte Catherine gerne nach Nairobi mitgenommen. Daran ist nach jetzigem Stand nicht zu denken. An den Wochenenden geht er dort mit den Kollegen tanzen. Ein bisschen Abwechslung braucht man schon. Nakuru ist ein Nest.
Kein schlechtes Nest, aber klein. Es ist nichts los. Catherine sagt, sie lebt gern dort. Sie kennt wohl auch nichts anderes. Sie ist noch nicht einmal in Mombasa gewesen, geschweige denn im Ausland. Mombasa! Er ist begeistert gewesen von der feuchtheißen Stadt in ihrer verfallenden Pracht, den filigranen Schnitzereien, dem lärmenden Treiben in den nächtlichen Straßen, dem Wind vom Meer. Catherine hat das alles noch nicht erlebt.
Was denkt sie wohl über ihn, diese kleine breithüftige Person mit den hohen Wangenknochen und den strahlend weißen Zähnen?
Sie denkt, dass er ein Mzungu ist, ein Weißer, und darum reich.
Darum exotisch und anders.
Darum etwas Besonderes.
Für sie ist er ganz bestimmt etwas Besonderes. Oder nicht?
Er weiß nicht, ob er so gesehen werden möchte oder nicht. Manchmal hat er es satt, der Mzungu zu sein, obwohl er schon einige Monate Zeit hatte, sich daran zu gewöhnen. Nie ist er unsichtbar in der Menge, außer am Arbeitsplatz und unter den Kollegen. Aber im Sammeltaxi, beim Einkaufen auf dem Markt, zu jeder anderen Gelegenheit ist er der Mzungu. Fremde sprechen ihn an. Die Kinder verfolgen ihn und singen kleine Lieder auf Kisuaheli, wollen seine weißen Arme berühren mit dem blonden Flaum darauf. Taschendiebe streifen dicht an ihm vorbei, rempeln ihn an und fahren mit der Hand blitzschnell in die leeren Taschen.
Er weiß, dass Catherine ihn gern hat. Das hat sie ihm gesagt. Er hat sie geküsst. Schon mehrmals. Sie hat sich nicht gewehrt, hat ihn nur fortgeschoben, wenn die Stimmen aus der Küche näher kamen.
Jonas ist ein gutaussehender Mann. Er hat breite Schultern, blondes Haar und grüne Augen. Seit einigen Jahren trägt er einen Schnäuzer. Die deutschen Frauen finden ihn attraktiv. Na ja, jedenfalls so insgesamt. Ob ihn die schwarzen Frauen mögen, ist schwer zu sagen. Alles geht hier unglaublich gesittet zu. Wenn er Catherine besucht, sind ihre beiden Schwestern immer irgendwie in der Nähe. Manchmal kommen Nachbarn herein. Dann wird Tee serviert; man erzählt und lacht. Catherines Lachen ist heftig und rau, auf eine Art, die Jonas erschreckt und begeistert. Deutsche Frauen lachen nicht so. Auch Susanne nicht. Sie lacht kurz und atemlos: Ein nasales: Ah-hah!
Dabei wirft sie ihre glatten weißblonden Haare auf eine ganz besondere Art zurück und streicht sie dann hinter das Ohr. Ihre Ohren stehen etwas ab. Sie möchte sie irgendwann "richten lassen", wie sie sagt. Jonas hat nie gewollt, dass sie etwas an sich "richten lässt." Das ist noch eine Sache an den kenianischen Frauen, die ihm gefällt: Sie wirken so natürlich, so zufrieden mit sich.
In der letzten Zeit hat Susanne nicht viel gelacht - weder laut noch leise.
Vielleicht, das muss man zugeben, hat sie mit ihm nicht viel zu lachen gehabt. Er hat nur gearbeitet, hat dann diese Sache mit dem Brunnen-Projekt in Kenia eingefädelt. Irgendwann hat sie damit angefangen, dass sie ihre Tage nicht mehr kriegt, und er hat die Nerven verloren und sie bedrängt, auf jeden Fall abzutreiben. Kurz darauf war Schluss. Er meint, sie habe Schluss gemacht. Sie hat gesagt, Jonas habe die Beziehung aufgegeben. Tatsache ist - er ist jetzt hier, und er ist weit weg von Hamburg und der kleinen Dachwohnung in der Lessingstraße, den Spaziergängen an der Alster. Manchmal verspürt er ein schmerzhaftes Ziehen, wenn er an diese andere Welt denkt.
Aber meistens bleibt sie meilenweit fort. Es gibt nur dieses neue Leben in einer Landschaft mit leuchtendem Grün und schwerer rötlicher Erde, die Luft seltsam stark und kühl und voller Sonne. In all das hat er sich verliebt, und auch in dieses seltsam anziehende Geschöpf mit tiefbrauner Haut, dem breiten Mund und dem schwingenden Gang.
Sie kocht "Uji" für ihn, damit er "stark" bleibt für seine Arbeit. Er hat ihr gesagt, dass er Brunnen baut, und sie scheint zu denken, er sei eine Art Bauarbeiter. Uji ist ein dickflüssiges Getränk, das an Porridge erinnert. Er findet es scheußlich, doch er liebt es, wie sie stärkende Getränke für ihn kocht, und er würgt die Flüssigkeit herunter und lobt sie.
Wenn er die Mainas besucht, muss er einen guten Anlass finden. Er braucht eine Begleitung und ein kleines Mitbringsel. Meist kommt sein Kumpel Lorenz mit, ein älterer bayerischer Ingenieur, der den Takt besitzt, Herzensangelegenheiten nicht breitzutreten und nicht allzu viele Fragen zu stellen. Tagsüber kann Jonas in dem kleinen Laden vorbeischauen, in dem Catherine arbeitet. Sie hat ihn gebeten, nicht jeden Tag zu kommen, damit ihr Ruf nicht beschädigt werde.
Aber manchmal kommt er eben doch, wenn er es nicht mehr aushält, und dann unterhalten sie sich. Einige Unterhaltungen sind seltsam frustrierend. Es ist schwer, klare Antworten zu bekommen hier in Kenia.
- "Warum hast Du nicht geheiratet?" hat er sie einmal gefragt.
- "Es ist eben nicht dazu gekommen", hat sie gesagt und hat sich abgewandt.
- "Du bist so hübsch", hat er gesagt - "Du musst doch massenweise Verehrer haben. Wie alt bist du?
- "Das weißt du doch."
-"Nein. Woher sollte ich das wissen?"
- "Wir haben gestern über meine Tante gesprochen. Und ich habe gesagt, dass ich soundsoviele Jahre jünger bin als sie."
- "Ich weiß nicht mehr, was du genau gesagt hast. Warum antwortest du mir nicht? Du bist jung und schön, du bist nicht alt. Eigentlich ist es doch auch egal."
- "Wenn es egal ist, musst du nicht fragen."
- "Ich will doch nur etwas über dich wissen." "Du willst Sachen über mich wissen, aber bald fliegst du doch wieder zurück in dein Land."
- "Ich fliege zurück, aber ich könnte wiederkommen."
- "Wirklich, du planst, wiederzukommen?"
- "Es kommt darauf an. Wenn du..."
In diesem Moment ist ein Kunde hereingekommen und hat das Gespräch grausam unterbrochen. Aber Catherine hat ihn sehr tief und glänzend angeschaut, bevor sie sich dem Kunden zugewandt hat.
Was hätte er gesagt und was hätte er versprochen? Was kann er einer Frau wie Catherine anbieten? Sie wird Ende zwanzig sein, sie ist sehr hübsch, sie ist unverheiratet. Immer noch lebt sie bei ihrer Familie - mit ihrem Vater, den Schwestern und der anderthalb Jahre alten Cousine Lilly.
Catherine hat ein fröhliches Lachen, aber manchmal sehr traurige Augen. Er kennt keine Frau, die so ist wie sie. Ihre Bewegungen verzaubern ihn - wie sie sich an die Wand lehnt, die Sonne im Gesicht. Wie sie den Tisch deckt, wie sie ihrer kleinen Cousine Lilly das Fläschchen gibt. Lilly ist das hübscheste Kind, das Jonas je gesehen hat. Er hat sich früher nichts aus Kindern gemacht, aber dieses ist eine Ausnahme: Wenn Lilly auf seinem Schoß sitzt und ihn anstrahlt, hüpft sein Herz.
Als er an diesem Abend nach Lake View unterwegs ist, denkt er das erste Mal ernsthaft an die Zukunft. Er könnte Catherine mitnehmen nach Hamburg. Dafür müsste er sie heiraten, denn das Leben in wilder Ehe ist hier ein Tabu. Er stellt sich vor, wie er Catherine seine Heimatstadt zeigt - wie er mit ihr Einkäufe macht und Konzerte besucht, wie sie Abende bei Freunden verbringen.
Sie könnte Sprachkurse belegen, ein Studium anfangen, sie könnte tun, was sie wollte. Und wenn sie unglücklich wäre, wenn alle Herrlichkeiten Deutschlands nicht genug wären, sie zum Bleiben zu bewegen, dann würde er mit ihr in Kenia leben - nahe von Mombasa vielleicht, in einem kleinen Haus am Meer.
Lorenz ist am Treffpunkt, einem kleinen Kiosk drei Straßen von Catherines Haus entfernt. Sie grunzen sich freundlich an, geben sich kurz die Hand.
- Hoffe, du weißt, was du machst", sagt Lorenz, als sie sich in Bewegung gesetzt haben.
- "Denke schon", sagt Jonas.
Dann schweigen sie bis zur Ankunft bei den Mainas.
"Wie sagt man noch mal: "Hallo, wie geht es Euch?"
- "Habari zenu."
- "Und was antwortet man darauf?"
- "Nzuri tu."
Lorenz spricht passables Kisuaheli, und Jonas ist neidisch. Er nimmt sich vor, sein Lehrbuch wieder zur Hand zu nehmen. Schließlich hat er Pläne.
Die Tür wird nicht aufgerissen wie sonst, sondern zögerlich und schleppend geöffnet.
Catherine schaut sie mit fremdem Blick an.
- "Lilly ist krank."
Jonas erschrickt. Es muss etwas Ernstes sein. Das zarte Kind mit den riesigen schwarzen Augen und den winzigen braunen Fingerchen, die sich um seine schlingen, hat er sehr lieb gewonnen. Er hat ihr oft kleine Spielsachen mitgebracht oder Süßigkeiten.
- "Lilly? Was hat sie?"
- "Der Doktor sagt, es ist schlimm, und wir werden teure Medikamente brauchen und viele Operationen."
- "Welche Krankheit ist es denn?"
- "Die Familie wird Geld sammeln, dann geht es schon."
Er erinnert sich, dass er auf präzise Fragen selten eine klare Antwort bekommt, und drückt nur ihre Hand.
Lorenz ist so taktvoll, an ihnen vorbei ins Haus zu gehen, und so stehen sie noch eine Weile alleine vor der Tür.
-"Ich habe dich vermisst, Catherine", sagt Jonas sanft. "Wir sollten uns mal in Ruhe über uns beide unterhalten. An einem anderen Tag. Nicht heute, wenn du so traurig bist." Ein Lächeln geht über ihr Gesicht.
-"Ich bin froh, dass du da bist", sagt sie. "Sicher wirst du uns helfen und beistehen - Du bist immer gut zu Lilly... und zu mir..." -"Du bist ein wunderbarer Mensch, und es ist toll, wie du dich um deine kleine Cousine sorgst."
- "Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, Jonas", sagt Catherine leise.
"Lilly ist meine Tochter." Sie atmet schwer und senkt den Kopf.
"Ach", sagt Jonas. "Ach so, das dachte ich mir - irgendwie." Dann fehlen ihm die Worte.
"Magst du mich trotzdem noch?" fragt Catherine.
"Klar. Lilly ist doch ein tolles Kind."
"Dann bleibt alles beim Alten - zwischen uns?" "Ja", lügt er.
- "Please fasten your seatbelt, Sir", sagt die Stewardess zu ihm mit näselnder Stimme. Sie ist weiß und dünn und erinnert ihn an Susanne.
Bestimmt ist sie eine Deutsche. Seine Hände sind so schwitzig, dass er den Gurt kaum schließen kann. Die Klimaanlage bläst ihm kalt in den Nacken, und er spürt bleierne Müdigkeit. Die letzte Nacht in Afrika. Der Halbmond, den er aus dem Flugzeugfensterchen sieht, hängt falschherum am Himmel. Über der Alster sieht er ganz anders aus. Bald wird Jonas wieder durch das kleine Dachfenster schauen, Hamburger Luft atmen, seine Jolle reparieren, im Herbstwind frösteln. Es wird wie früher sein und trotzdem völlig anders, denn Susanne bekommt ein Kind, und er wird sich darum kümmern, das hat er ihr am Telefon versprochen. Um ihr Kind, um sein Kind. Sie nimmt ihn zurück - vielleicht. Er spürt das Vibrieren der Triebwerke und ihre Kraft, spürt gleichzeitig grenzenlose Erleichterung und heftige Reue. Diese Reue wird er hegen und pflegen.
Das Flugzeug wird schneller, er fühlt sich in den Sitz gepresst, die Vorderräder lösen sich vom Boden.
Jonas kann erst wieder durchatmen, als das Flugzeug sicher in der Luft ist.
Er presst sein Gesicht an die kalte Scheibe und schaut in die schwarze Nacht und die Lichter von Nairobi, die rasch kleiner werden. "ich werde euch nicht vergessen", verspricht er in die Dunkelheit hinein.
Im Gang steht die Stewardess, die ihn gehört hat und merkwürdig mustert. Was will sie jetzt wieder? Was schaut sie so? Missbilligend? Nachsichtig?
"Kaffee oder Tee? Sie können den Gurt wieder öffnen." Sie sieht sein verstörtes Gesicht und lächelt.
Jonas greift nach dem Verschluss, der ganz kalt ist und ein leises Klacken hören lässt.
"Danke", sagt er. "Vielen Dank."



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