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Afrika und der Spaziergang der Träumer

©  Harald Bulling


Eigentlich hatte er nun das Alter erreicht. Ein langes und schweres Leben lag hinter ihm. Die Haare hatte die Farbe der Asche angenommen. Asche aus den vielen Feuern, die Maoba angezündet hatte und die dann im Morgengrauen erloschen sind. Seine Haut hatte das Aussehen der großen Wüste, tiefe Furchen und unruhige Linien der Sanddünen, Mensch und Natur waren bei ihm eins geworden. Maoba, der Heiler spürte die Nähe seiner Zeit, die nun in diesem endlos heißen Sommer zu Ende gehen sollte. Mit alten Ritualen, gewachsen aus der Tradition vieler weiser Frauen und Männer, wollte er im Herbst Abschied nehmen von dieser Welt. Immer wieder hatte der Heiler in seiner kleinen Hütte am Dorfrand seine Sachen geordnet, so wie auch an diesem frühen Sommertag, als jedoch die Welt mit voller Vehemenz in forderte, zu helfen.
Er saß nach dem Frühstück, Hirsebrei mit warmer Ziegenmilch, am Feuer vor seiner Hütte. Nachdenklich blickte er in die aufgehende Sonne und verspürte den nahen Atem der Unruhe. Um nicht in die Gedankenwelt der Toten abzugeleiten, stimmte Maoba ein altes Lied seines Volkes, der Wüstenjäger an. Da nahm er in der Ferne auf dem Pfad vom Dorf zur Wasserstelle einen sich mühselige dahinschleppenden Jungen war. Die Größe des Nahenden, der schleppende, schwere Gang und die Ruhe der Vögel in den wenigen Sträuchern verriet ihm, dass keine Gefahr lauerte. Dennoch spürte der alte Heiler eine innere Unruhe, die ihm sagte, du musst wieder etwas Geben.
Maoba saß anscheinend Gedanken verloren an der letzten Glut des Feuers, das er mit Steinen begann so zu verbauen, damit er es wieder am Abend entfachen konnte. Der Junge tauchte nun vor seinen Augen auf, dass klar war, der brauchte Hilfe. Es waren keine äußeren Verletzungen, nein, vielmehr erkannte der weise Alte am Gang des sich Nahenden, dieser Mensch hatte eine innere, schwere Last zu tragen. Maoba erkannte nun auch, was dieses seltsame Ding in den Händen des Kindes war, das er wie ein europäischer Junge hinter sich her zog.
Europäische oder weiße Kinder hatten beim Spielen immer was im Schlepptau, afrikanische Kinder schoben immer etwas vor sich her, Tiere oder Puppen aus Stroh, darin lag ein wesentlicher Unterschied. Für den Alten spielte der sichere Blick hinter die Kulissen immer eine sehr wichtige Rolle, als Kind der Traumheilung hatte er die Reife erreicht, zwei Welten zu sehen. Und die eine Welt des Jungen sagte Maoba, der Jüngling war krank und er hatte viele dunkle Schatten auf seiner Seele, der anderen Welt also.
Der junge Kindersoldat stand nun, nein, er hing wie ein schiefer, alter Baum vor ihm. Die verrissene Uniform klebte dem Knaben wie ein wurmstichiges Blatt am Leib. Ein Gewehr hatte er immer hinter sich hergezogen, nahm nun der Heiler wahr, das Symbol der weißen Macht, von den Afrikaner schnell erkannt und adoptiert, dann im Kampf Bruder gegen Bruder in die Hände von Kindern gegeben, so dass der Tod aus den Herzen der zarten Blüten der Jugend schaute. Den alten Mann erschreckte das Bild immer und immer wieder, ob wohl er schon so viel Grausamkeit in seinem langen Leben gesehen hatte.
Zalamku, der Kindersoldat bat den Alten um etwas Wasser, seine Zunge klebte vor Trockenheit im Mund fest. Maoba gab dem Knaben ein Gefäß mit dem begehrten, kühlen Nass. Der Junge warf das Gewehr beiseite, griff gierig nach dem Wassertopf und wollte alles in sich hineinschütten. Wie lange hatte er auf so etwas verzichten müssen. Doch der Heiler erfasste die Situation schnell, erhob sich und bat den Jungen sich zu setzen. Dann erklärte er ihm, dass schnelles Trinken gefährlich ist. So bekam nun Zalaku von dem Heiler eine kleine Trinkschale aus Ton und leerte das runde Gefäß mit einem Zug. Er wischte sich an seiner dreckigen und blutverschmierten Uniform den Mund ab, dann bekam er eine neue Schale mit Wasser.
Maoba hatte das Gewehr aufgehoben und mit einem Blick des Zorns hinter die Hütte gestellt, dann setzte er sich dem Neuankömmling entgegen und schaute ihm tief in die Augen. Der Heiler las darin viele Geschichten. Er fand zuerst in den großen Augen des Kindersoldaten die vielen Krankheiten an denen er litt. Plötzlich sank der Junge beiseite und schlief ein. Erst am späten Abend kam er wieder zu sich und erkannte unter seinem Kopf eine Decke, die ihm der Alte vorsorglich als Kopfkissen untergelegt hatte. Zalamku schaute sehr verwirrt um sich, bis er endlich wusste wo er war.
Der Alte hatte in der Hütte Vorbereitungen für die Heilungszeremonien begonnen, als er merkte, dass sein kleiner Gast aufgewacht war. Zuerst war ein Gang zum Fluss geplant, der neun Monate im Jahr Wasser hatte, bis er im Sommer im Untergrund der trockenen, braunen Erde verschwand. Beide gingen sie zum Fluss, Maoba hatte dem Jungen den Sinn der körperlichen Reinigung in wenigen Worten erklärt. Neugierig und ohne Gegenrede folgte Zalamku dem Heiler zur Badestelle, wobei ihm das kleine, geschnürte Bündel beim Alten auffiel.
Herrlich, als sich Zamaluka die verrissene Uniform vom Leib gezerrt hatte und nun nackt mit dem Heiler ins Wasser stieg. Maoba rieb den Knaben in drei Durchgängen mit nasser Erde, Kräutern und einer geblichen Flüssigkeit ein. Die Hände des Alten hatten schnell alle körperlichen Wunden an dem Kinderkörper entdeckt und wusste was er in den nächsten Tagen tun musste. Ohne Worte ließ der Kindersoldat die Reinigungskur über sich ergehen. Dann gab ihm Maoba neue Sachen zum Anziehen, einen Wickelrock, Sandalen und ein altes, verwaschenes T- Shirt von den Weißen. So viele junge Gäste hatte der Alte schon in seinem Leben väterlich unter seine Fittiche genommen, dass er für solche Fälle immer etwas in seiner Hütte gelagert hatte. Als Heiler hatte Maoba nie eine feste Ehefrau oder mehrere, sondern wurde immer bei sexuellen Problemen als Liebhaber und Kindermacher von vielen Frauen aus der weiten Umgebung aufgesucht, oft mit dem Wissen ihrer Männer. So wusste der Heiler nie, wie viele Kinder er schon in die Welt gesetzt hatte.
Auf dem Rückweg zur Hütte griff der Junge vertauensvoll nach der Hand des Alten, er suchte Nähe und Geborgenheit, rein instinktiv, denn als Soldat gab es so etwas nicht. Da wurde Geraucht und Gesoffen, Geplündert und von den Ältern die Mädchen und Frauen vergewaltigt, oft sogar die kleinsten Kindersoldaten, wenn keine weibliche Beute zur Hand war. Zalamku spürte Ekel und Hilflosigkeit bei diesen Gedanken, die immer wieder am Abend kamen und ihn bis in die Träume begleiteten, dann nahmen die Gedanken bildhafte Formen an, Bilder die er nie wieder in ihrer menschlichen Grausamkeit vergessen sollte. Nur der Alkohol half da für kurze Momente.
Der Heiler jedoch, so spürte der Kindersoldat, wollte nichts von ihm, und er beschloss ihm heute seine Gedanken und Erlebnisse anzuvertrauen. Sie kamen noch vor der Dunkelheit an der Hütte von Maoba an, der sich sofort um das Feuer kümmerte und dann sowohl etwas zu Essen, als auch viele Kräuter aus seinen Vorräten aus Tontöpfen in seiner Hütte zusammenstellte. Der Junge verfolgte mit großen Augen das Schaffen des Alten und bewunderte die ruhige Art des Heilers besonders daran. Auch faszinierten Zalamku die vielen Töpfe, selbst seine Mutter hatte zu Lebzeiten nie so viele Vorratsgefäße wie Maoba.
Der Alte stellte nun die Utensilien an das Feuer, einen kleinen Teil neben einen Kochtopf auf den nackten Erdboden, den größeren Teil jedoch andachtsvoll auf eine kleine Steinplatte bei seinem Stammsitzplatz. Schnell war der Essentopf mit Hirse und Bohnen aufgesetzt, dazu streute dann der Heiler beim Umrühren gelegentlich Gewürze in den Topf. Der Junge hatte sich ihm gegenüber ans Feuer gesetzt und ließ keine Handbewegung des Alten aus seinen großen, schwarzen Augen. Auch lag nun das Bündel von Zalamkus alten Kleidern am Feuer.
Bedächtig begann nun Maoba das Gespräch mit dem Soldaten aufzunehmen. Er stellte zuerst viel indirekte Fragen und äußerte viele Vermutungen, dann hörte er nur noch dem jungen Kämpfer zu. Die junge Lebensgeschichte von Zalamku entsprach so vielen Geschichten von Kindersoldaten in Afrika. Bei seiner Mutter lebte er die ersten sieben Jahre, den Vater hatte er nie kennengelernt, der ging wohl schon vor der Geburt von ihm in die große Stadt um Arbeit zu finden und die siebenköpfige Familie zu ernähren. Das Feld beim Dorf von Zalamkus Familie war dafür zu klein, sonst gab es auch keine weitere Einnahmequelle auf dem flachen und von der großen Wüste fast umgebenen Land. Aus der Stadt, so erzählte die Mutter immer, hat sich der Vater regelmäßig drei Jahre lang gemeldet, auch Geld geschickt, dann plötzlich kam keine Nachricht mehr. Die älteren Männer im Dorf erzählten der Mutter wohl immer die gleiche Geschichte, dass Zalamkus Vater wohl eine Arbeit in einer Goldmine hatte und er sicherlich bei den menschunwürdigen Arbeitsbedingungen ums Leben gekommen sei. Nachprüfen konnte die Mutter das nie, den ihr Tag war mit der Arbeit auf dem kargen Feld und der Kindererziehung voll ausgeschöpft, so wie auch die Woche, denn am Sonntag ging sie mit allen Kindern und einigen kleinen Vorräten an gesammelten Früchten und gebackenen Hirsefladen zur großen Straße, um etwas an die Autofahrer zu verkaufen.
Dann brach jedoch das größte Unglück über die Familie und das Dorf herein, eine Bande von marodierten Soldaten plünderten und brannten das wehrlos Hüttendorf nieder. Die wenigen Männer wurden gleich beim Versuch sich mit ihren traditionellen Waffen zu wehren umgebracht, die Frauen und älteren Mädchen vergewaltigt und fast ausnahmslos getötet, so auch die vier älteren Schwestern und die Mutter von Zalamku. Sein Bruder und er wurden als Träger von den Soldaten aus dem Dorf mitgenommen und fristeten ein Sklavenleben, nur diesmal waren die Halter schwarz und nicht weiß, wie früher. Die Stirn des Heilers sah von Falten gekennzeichnet sehr nachdenklich aus. Der Rest der Geschichte war immer das Gleiche, wer nicht Sklave sein wollte, konnte Soldat werden und so erging es auch Zalamku. Vom Opfer zum Täter aus Angst vor der afrikanischen Sklaverei.
Schnell erfuhr Maoba in den dunklen Abendstunden unter mondklarem Himmel das Leid, welches der Seele und dem Körper des Jungen zugefahren war, aber auch von den Verbrechen, welches dieses Kind mit 13 Jahren an anderen Menschen begangen hatte. Zalamku war nach dem wohlschmeckendem Essen und dem vielen erzählen müde geworden, so dass er gleich beim Feuer eingeschlafen war und nicht mehr die Vorbereitungen des Heilers zur Reise zu den Spaziergängern der Zwischenwelt zuschauen konnte.
Maoba hatte sich mit einer kleinen pfannenartigen Schale ausgerüstet und streute nun unter leisem, aber sehr melancholischem Gesang unzählige Kräuter und Wurzelstückchen in das Gefäß, stellte dieses ins Feuer und erhob sich dann. Gewürzter Rauch stieg auf und der Heiler begann für einen Außenstehenden einen sehr gewagten Tanz. Doch der Alte verwandelte sich innerlich und im Rhythmus der Tanzschritte mehr und mehr in einen schwarzen Vogel. Über der Hütte schien der Vollmond, die beste Zeit um mit den Träumern einen Spaziergang zur erlebten Welt des Kindersoldaten zu machen.
Plötzlich herrschte Ruhe am Feuer vor der Rundhütte. Maoba lag ausgestreckt und mit entrücktem Blick auf der Erde. Sein Geist jedoch wanderte durch eine fahlblaue Welt von Sträuchern in einer tiefblauen Wüste, in der die Luft mit seltsamen Musiktönen erfüllt war, die sich anhörten, als kämen sie vom Wind, der durch unterschiedlich dicke Baumröhren sauste. Da tauchten nach und nach verwegen, dünne und nur mit einem Tuch bekleidete Menschen auf. Die Träumer, erleichtert raste dieser Gedanke durch den Kopf des Alten. Schnell war der Kontakt mit Blicken geknöpft, Maoba erzählte in Gedanken den Boten der Zwischenwelt sein Anliegen. Kurze Beratung der Träumer und sie umkreisten Maoba und nahmen ihn dann in ihrer Mitte mit auf die Reise in die erlebte Welt von Zalamku.
Vom Tag des Überfalls bis zur Ankunft an seiner Hütte, musste nun der Alte alle diese schrecklichen Erlebnisse auf sich zukommen lassen, welch grausame Offenbarung einer Kindheit ihm sich da boten, am liebsten wäre er jetzt gestorben. Doch sein Herz legte ihm in aller Deutlichkeit die Heilung des Opfers nahe. Der starke Einfluss der Spaziergänger als Boten der Wahrheit auf den Heiler taten ihr übriges. Am Ende erhielt er von ihnen vier wichtige Ratschläge durch Gedankenübertragung mit auf den Weg. Maoba fiel aus der blauen Wüste in seinen Körper zurück.
Der Junge schlief fest, jedoch war sein Körper verkrampft und nicht entspannt. Der Alte erhob sich langsam und kraftlos, setzte sich ans Feuer und machte sich einen kräftigen Trunk aus den Wurzeln des Heilerbaumes. Dabei warf er dann und wann einen Blick auf den von Albträumen geplagten Körper des Jungen. Nachdenklich nahm der Heiler Schluck für Schluck aus dem Becher in seiner Hand, der Wurzeltrunk belebte seine Gedanken. Schnell hatte er nun sein Konzept aus den vier Ratschlägen der Spaziergänger zusammengestellt, dabei waren die ersten beide wohl mühselig zu handhaben, doch sie lagen in der Zeit seines letzten Wunschsommers zum Verbleib auf dieser Erde. Die letzten beiden Handlungsanweisungen der Boten stellten jedoch seine ganze Lebensplanung vollständig in Frage. Wie konnte er den Jungen in so kurzer Zeit zum Nachfolger für sich ausbilden, klar, der Knabe hatte die innere Berufung laut Aussage der Boten aus der Zwischenwelt dazu. Doch das Wissen, das der Junge für sein neues Leben brauchte, das fehlte ihm gänzlich und dauerte oft Jahre, diese Zeit hatte Maoba nicht mehr, sein Instinkt war dazu zu sehr ausgeprägt. Er verfiel bei diesen Gedanken in eine traurige Melancholie, aus dem ihn das Erwachen des Jungen befreite.
Mit Schweißperlen auf der Stirn war Zalamku erwacht, wie eigentlich jeden Morgen. Die Bilder des Grauens hatten seinen Schlaf in ihren quälenden Klauen und er war ihr Opfer, hilflos ausgeliefert. Vom Alten bekam er eine Schale mit einem würzig schmeckenden Trunk, der Junge hustete ein paar Mal, doch dann fühlte er sich wohler. Der Heiler begann nun seinen Plan umgehend umzusetzen. Dazu gehörten die drei Rituale eines Bades für die innere Reinigung, welches die beiden gemeinsam am Fluss durchführen konnten und der Alte erzählt dem Knaben alle Schritte, den Sinn und das Ziel, die verwendeten Kräuter und Öle, sowie deren Herkunft. Zalamku, so bemerkte Maoba lernte schnell und begierig. Nach zwei Wochen beendeten Sie die Heilbäder und begaben sich in die Schwitzhütte, welches von dem Heiler nach alter Tradition gebaut und hergerichtet wurde.
Am Tag des Vollmondes bekam der Junge sein erstes Schwitzbad mit allen vorangehenden Zeremonien verpasst. Der Heiler wusste, welche Qualen der Soldat mit dem Kindergesicht durchzustehen hatte. Schwitzbäder waren die Vorstufe zur Begehung der eigenen Seele, dann kam die Begegnung mit den Träumern, die war jedoch nur den spirituell Begabten vorbehalten. Maoba hatte ein großes Feuer entzündet und geschickt einige große Steine im Zentrum placiert, die er jedoch ohne Mühe und mit dem Wissen des Begnadeten mit bloßen Händen herausnehmen konnte, wenn sie brennend heiß waren. Als Zalamku sich auszog, bemerkte er, dass der Alte seine Uniform ins Feuer geworfen hatte, ja, auch das Gewehr und den Rest der alten Kleidung. Das Bündel hatte der Heiler für diesen Tag aufgehoben, das Verbrennen war ein Zeichen an das Schicksal, der Junge wollte ein neues Leben beginnen, das alte sollte nun in den Feuern der Vergangenheit übergeben werden.
Auf Geheiß wickelte sich dann der Junge in buntes Tuch ein und stieg in die Hütte hinein. Er hustete bei der Menge an Rauch, welcher sich durch die kochenden Steine nach und nach in der Hütte breit machte. Der Heiler kam und ging, brachte immer mehr Steine und beobachte den Jungen dabei aus dem Augenwinkel. Ab und zu klopfte er ihm auf den Rücken, wenn der Husten dem Knaben die Luft zu nehmen schien. Nachdem Maoba die heißen Steine aus dem Feuer in die Hütte geschafft hatte, schichte er neue in die hohen Flammen und legte kräftig Holz nach, Hitze war das A und O beim Schwitzbad. Afrikaner bevorzugten immer die trockene Hitze, nie die mit Wasserdampf erfüllte Luft der Weißen in ihren Schwitzhäusern aus Stein. Nasse Hitze reinigt nur den Körper, also das Fleisch, die trockene Hitze jedoch die Seele. Das war nun mal das wichtigste am Schwitzbad. Er stieg zu dem Jungen in die Hütte, der schon ganz durchschwitzt war, aber noch keine glasigen Augen hatte.
Der Heiler begann nach und nach eine kleine Öffnung in das Dach der Hütte zu bohren, durch das der Rauch abzog, aber nicht die Hitze. Und er begann die Lieder der "Seele" zu singen und streute dabei nach und nach Wurzelstückchen und Kräuter auf die Steine. Zalamku verlor nach und nach das Bewusstsein und seine Gedanken drehten sich mehr und mehr um vergangene, grausame Erlebnisse. Dazu mussten die Erlebnisse, die als Schatten in der Seele gespeichert werden, freigelegt werden. Der Alte hörte nun auf, Steine ins Innere der Hütte zu holen, sondern entfachte ein kleines Feuer im Inneren ihrer Gedankensuchmaschine, der Schwitzhütte. Der Körper des Jungen zuckte und oft hörte der Heiler ein Jammer aus dem Kindermund. Kein Erlebnis würde dem Jungen erspart bleiben, welches seine Seele mit diesen schrecklichen Erlebnissen zernarbt hatte.
Die äußeren Wunden waren leicht zu heilen, das hatte auch der Junge schnell verstanden, doch die inneren, das war das große Problem. Nun lag Zalamku ruhig in der Hütte, das Zeichen für Maoba, er schleppte den Jungen an den Beinen aus der Hütte, wickelte in aus dem bunten Tuch, tauchte dieses in einen Gefäß mit Wasser und legte es über den Knaben. Langsam kam dieser zu sich, fühlte sich fast wie ein normaler Junge und folgte dem Alten zum Fluss und genoss in ausgelassener kindlicher Freude zum ersten Mal das Spiel im Wasser. Maoba registrierte diese mit Genugtuung, denn wenn alle Lebensphasen in der Seele offen gelegt waren, dann konnte man mit der dritten Stufe, der Begehung der Erlebnisse und anschließend mit der vierten, der Auslöschung beginnen.
Auf dem Weg zu ihrer Hütte, wie sie nun der Alte nannte, erzählte er seinem Nachfolger nochmals alle Geheimnisse der Schwitzhütte und welche Kräuter und Wurzeln zu welchem Zweck eingesetzt werden. Gierig sog Zalamku das Wissen in sich auf. Er war ein guter und schnell lernender Schüler, endlich hatte er einen Sinn in seinem Leben entdeckt. Die Schwitzbäder dauerten von Nacht zu Nacht nicht mehr so lange, so dass sie bis zum Sonnenaufgang Zeit zu langen Gesprächen hatten. Der Alte gab all sein Wissen diesem Jungen mit auf seinen neuen Lebensweg, und merkte von Tag zu Tag mehr, wie richtig das war; auch waren die Gedanken an seinen Tod so weit weg gerückt, dass er nun wusste, er musste die vier Stufen der Botschaft durch die Träumer umsetzen.
Nach der dritten Nacht in der Schwitzhütte am Fluss, war Zalamku von einer inneren Schönheit beseelt, die in seinen Augen endlich den Knaben erkennen ließen. Mit einem inneren Stolz auf die Arbeit riss Maoba die Hütte ein, verstreute das Holz und die Steine, begrub die Asche in der Erde und nahm gemeinsam mit dem Jungen die Erinnerung an diesen Platz mit. Bis zum nächsten Vollmond lehrte der Heiler nun seinem Schüler die Kraft der Kräuter, wann man sie erntete, und wo man sie natürlich fand und dann war da noch die Kunst des Trocknens.
Einen Tag vor Vollmond gingen sie abends gemeinsam zum Fluss, der Alte bereitete den Jungen auf die erste Reise in die Zwischenwelt vor. Am Anfang standen die rituellen Bäder, die von Morgens bis Abends gingen, aber nur für den Neuankömmling galten, denn die Träumer hatten einen sehr feinen, fast tierischen Geruchssinn, sie sollten den Jungen so wahrnehmen, wie er wirklich in seinem Inneren war.
Dann kam die Vollmondnacht, Zalamku war mehr und mehr von der aufkommenden Nervosität fast schon krank, bis in der Alte nahm, im die Prozedur und Wichtigkeit der Kräutern und Wurzeln erklärte und dann mit ihm begann zu singen und tanzen. Am Punkt der Ekstase brachen beide, Hand in Hand zusammen und sie hatte es geschafft, gemeinsam kamen sie in Gedanken in dieser dunkelblauen Zwischenwelt an, Zalamku staunte mit großen Augen und hielt sich ängstlich an Maoba fest. Und dann kamen sie, sie, die Engel ohne Flügel, die Träumer, in einer Gemütlichkeit, die jedem Menschen nur als Spaziergang erscheinen konnte. Lange und verwegene Gestalten, Zalamku versuchte sie in seiner Angst zu zählen, doch bei zehn hatte er aufgehört, denn einige begannen nun an ihm zu riechen, in zu betrachten, mit Augen, die denen der Löwen glichen; jeder Blick ging durch Mark und Knochen.
Dann spürte auch Zalamku die Unterhaltung der Gedanken zwischen dem Alten und den Träumern. Und schon ging es los, in die vergangene Welt von ihm, dem Kind mit den blutigen Händen eines Schlächters. Wild und unbarmherzig wurde der Junge von den Qualen und Schmerzen seiner Opfer gepeinigt. Keine Begegnung wurde vergessen, dann, plötzlich und ohne Signal war Ruhe, nur die Träumer tänzelten gewandt im Kreis um Zalamku und den Heiler.
Plötzlich sah Maoba den Jungen aus seiner Trance erwachen, er gab ihm von seinem Lebenstrunk, die Sonne war aufgegangen und schien die Hütte in ihrem satten Morgenlicht in Gold zu verwandeln. Beide saßen schweigend am Feuer. Dann versuchte Zalamku dem Alten seine ersten Erlebnisse mitzuteilen, Schwerfällig und noch voller Ehrfurcht und Angst. Er konnte keinen zusammenhängenden Satz formulieren, so erschlagen waren seine Gedanken. Und innerlich stellte er sich immer wieder die selbe Fragen, warum habe ich diesen Menschen soviel Leid zugefügt ? Und dann war da die Reise in die Zwischenwelt, die Begegnung mit den Träumern. Zalamku hatte einen neuen Sinn erkannt, den, dass er für ein Leben als Heiler bestimmt war.
Beide schliefen in der Hütte bis zum späten Nachmittag, dann gingen sie zum Fluss, der Junge wollte sich unbedingt waschen, doch es war mehr. Er wollte sich etwas abwaschen und so rieb er sich von Kopf bis Fuß mit Sand ein, immer wieder und rubbelte, als wolle er alle seine früheren Erlebnisse, die er beim Spaziergang mit den Träumern wieder erleben musste, wegwaschen, die Vergangenheit einfach rauswaschen. Maoba bremste ihn und gab ihm ein feines und wohlriechendes Öl, mit der er die fast wundgeriebene Haut einreiben konnte. Auf dem Rückweg erklärte der Alte ihm dann den Sinn der Spaziergänge mit den Träumern in aller Ausführlichkeit und das Zalamku schon längst ein Auserwählter sei. Noch zweimal würde ihn der Heiler begleiten, dann war die dritte Stufe des Träumerplans für den Jungen umgesetzt und Maoba wusste, dass er erst nächstes Jahr sterben durfte, denn solange musste er den Jungen noch begleiten.
In der vierten Stufe ging dann der ehemalige Kindersoldat an den Vollmondtagen alleine zu den Träumern, sie zeigten ihm die ganze Zwischenwelt und eines Tages durfte er sogar einen Blick in die zweite Welt werfen und es schien ihm, als würde er seine Mutter darin sehen, nur kurz, aber dennoch ganz klar. Zalamku reifte in einem Jahr zu einem jungen Mann und hatte auch mit der Tochter des Nachbars, die einen Mann hatte, der keine Kinder zeugen konnte, trotz aller Hilfsmittel von Maoba, seine erste Liebesnacht. Die Frau brachte einen Monat vor dem Tod des Alten einen kräftigen und gesunden Jungen zur Welt, der eines Tages in die Fußstapfen von Zalamku treten sollte.
Maoba vermittelte dem jungen Mann nun all sei Wissen und machte ihn mit anderen Heilerinnen und Heilern bekannt, bei denen er immer Rat holen konnte. Im Sommer des folgenden Jahres blieb Maoba einen Monat vor seiner Hütte sitzen, der Junge versorgte ihn, und in der Vollmondnacht des Septembers, als Zalamku bei den Träumern seine Aufnahme fand, ging der alte Heiler zum Fluss, legte sich in den Sand und starb die nächste Nacht.
Zalamku beerdigte ihn, in dem er seinen Körper nach einer Zeremonie verbrannte und Teile seiner Asche auf kleine Blätter streute und sie dem Fluss übergab, als Zeichen, dass nun Maoba auf der Reise in die zweite Welt war, für immer.
Zalamku wurde ein geschätzter Heiler und hatte ein langes Leben, in dem er seine Schuld gegenüber den Opfer tausendmal sühnen konnte und wollte. Und es begab sich für ihn wohl die seltsamste Begegnung, als weiße Männer mit verwegenen Namen und Titeln zu ihm kamen und darum baten, dass er ihnen sein Wissen über die Heilung und Kräutern verraten sollte. Ja, die Weißen, die bisher die Heiler als Scharlatane, Betrüger und Spinner abtaten, wollten nun das Wissen der Heiler erfahren, um ihren Leuten zu helfen. Und sie wollten wie immer viel Geld anhäufen.
Die Träumer berieten Zalamku jedoch sehr gut, so dass er nicht zuviel preisgab, aber auch seiner Aufgabe als Heiler keinen schlechten Ruf erwies. Die weißen Ärzte und Professoren waren begeistert und schrieben alles in große Bücher hinein.
Nur von den Vollmondreisen zu den Träumern erfuhren sie nie etwas, Afrika wollte nicht alle seine Geheimnisse an Menschen weitergeben, die wohl viel Wissen hatten, aber denen immer noch die Weisheit fehlte.



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